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Brief an Bundskanzler Scholz zu Taurus-Lieferungen, Krieg, Uno-Charta, Völkerrecht, Freiheitsrechte als Schutz vor dem Staat

Von Diethelm Raff, Dipl. Ing. agr et Diplom-Psychologe/Universität Zürich - 27. Februar 2024
05. März 2024

Diethelm Raff
Diethelm Raff

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,

ich danke Ihnen für Ihre klaren und differenzierten Überlegungen zu der scheinbar unausweichlichen grossen Schlacht zwischen den sogenannt Guten und den sogenannt Bösen, der in Ihrem jetzigen Handeln bezüglich Lieferung von Taurus und Ihren Worten zu diesem Vorgang zum Ausdruck kommt.

Ganz in der abendländischen Tradition des endgültigen Ausschaltens des scheinbar bedrohlichen Gegners, sei er hellenistisch oder römisch, sei er islamisch oder katholisch oder protestantisch oder portugiesisch oder spanisch oder niederländisch oder schwedisch oder englisch oder französisch oder russisch oder chinesisch oder amerikanisch oder deutsch, kapitalistisch oder kommunistisch usw.

Wie vor dem 1. Weltkrieg werden die Kriegstrommeln immer lauter geschlagen, der Gegner entmenschlicht und von irrationalen Teufeln getrieben dargestellt, bis man   – von Ehrgeiz, Selbstherrlichkeit, Machtbesessenheit sowie mangelndem Mitgefühl und fehlender Gedankenklarheit getrieben - in einen grossen Krieg hineintaumelte.

Auch wenn sich viele Medienschaffende und Bundestagsabgeordnete auch Ihrer Partei der Kriegslogik hingeben, lassen Sie sich nicht einfach hineinziehen und wehren sich gegen das scheinbar unausweichliche Kriegselend für alle Menschen in Europa - zur Rettung des Abendlandes oder eher zur Rettung des deutschen Heiligen Römischen Reiches.

Der Literaturnobelpreisträger Romain Roland hat diese Verwirrung der Geister gegenüber Kriegen in «Clérambault»* aus französischer Sicht dargestellt und Stefan Zweig in «Der Zwang»** für die deutsche Seite.

Der bekannte Geostratege und einflussreiche Berater der Demokraten in den USA, Zbigniew Brzezinski, erfasste besser als andere in seinem Buch "Die einzige Weltmacht - Amerikas Strategie der Vorherrschaft" von 1999 - im Jahr, in dem die neue NATO Vorwärtsdoktrin installiert wurde - , dass es die Deutschen sind - neben den Franzosen und den Polen - die gegenüber anderen europäischen Staaten hervorgehoben sein wollen, und damit geeignet seien, die Ukraine in den Herrschaftsbereich der USA bringen zu können - und damit den eurasischen Kontinent zu beherrschen. Wie kam er wohl zu dieser Einschätzung, die gerade umgesetzt wird?

Was damals kaum jemand glauben konnte, erweist sich als gut erfasst. Es gibt zu viele in Deutschland, die innerhalb kürzester Zeit die gesamte Bevölkerung in ein Bedrohtheitsgefühl hineinzumanövrieren bereit sind, von dem man in einigen Jahren nicht mehr weiss, wie das zustande kommen konnte.

Die - leider - von Rudolf Scharping auf Angriffskrieg (robuste Einsätze) - gegen heftigsten internen Widerstand - umgestaltete Bundeswehr Mitte der Neunziger Jahre und der von dem gewaltbegeisterten Josef Fischer 1999 durchgesetzte erste Krieg in Europa gegen Serbien, haben in Deutschlands Eliten den berechtigten Schrecken vor einem Krieg aufgeweicht.

Fatalerweise wurde dieser erste Krieg in Europa im Jahr 1999 ohne Uno-Mandat geführt und hat damit die Uno-Charta ausser Kraft gesetzt. Die Uno- Charta von 1945 sollte dazu dienen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren.

Schon am 15. Oktober 1998 wiesen Staats- und Völkerrechtler darauf hin, dass ein solcher - angekündigter - Krieg gegen das Völkerrecht verstosse und weiterhin in Zukunft andere Staaten wie Russland, China und Iran zum Vorbild dienen könnten. Dieser Krieg verstiess gegen die Uno-Charta Artikel 2.3., dass Streitigkeiten friedlich gelöst werden müssen und gegen Artikel 2.4., dass Androhung und Anwendung von Gewalt in Konflikten nicht erlaubt sind und die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit gewahrt werden müssen. Ausnahmen gibt es nur durch den Uno-Sicherheitsrat.

In diesem Fall wurden nicht einmal alle zivilen Möglichkeiten ausgeschöpft, zum Beispiel war die OSZE gerade daran, die Anzahl Beobachter zur Beilegung des Konfliktes zu erhöhen und zudem stimmte der serbische Präsident Milosevic unter Druck der Nato deren Forderung nach Rückkehr der Flüchtlinge zu.

Der Krieg fand nicht nur gegen die grosse Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland statt, sondern verstiess auch gegen den 2+4 Vertrag vom 12. 9. 1990 mit Russland, in dem das vereinigte Deutschland sich verpflichtete, keine seiner Waffen jemals einzusetzen, es sei denn in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen. Und die Bomben richteten sich auch gegen Russland, das mit dem militärisch starken Serbien verbündet war.

Begründet wurde der Krieg von Deutschland mit einer «humanitären Intervention», die schon vor 1945 als Kriegsgrund umstritten war und ab 1945 verboten ist. Ebenso behauptete man, man müsse gegen das Völkerrecht verstossen, um ethnische Säuberungen und Vertreibungen zu verhindern. Aus eigener Machtbefugnis zerstörte Deutschland das Völkerrecht, indem man unlegitimiert von der Uno den Kampf gegen den behaupteten Faschismus von Milosevic über jedes Völkerrecht stellte und Gefahr im Verzug konstruierte.

Im Weiteren zerstörte eine US Rakete gezielt die chinesische Botschaft in Belgrad und setzte damit den bis dahin geltenden diplomatischen und konsularischen Schutz von Angehörigen des jeweiligen Staates, der ab 1924 international gegolten hatte, aus. Mit diesem Krieg und der gleichzeitig stattfindenden Neuen Nato Doktrin verwandelte sich die damals nicht mehr benötigte Nato 1999 von einem Verteidigungsbündnis zu einem Angriffsbündnis, das auch mit Atomraketen drohte, woraufhin Russland ebenso wieder mit Atombomben drohte.

Russland als Grossmacht - wie die USA und China mit geostrategischen Machtinteressen - übernahm nicht zufällig im jetzigen Ukrainekrieg dieselben Begründungen wie die Nato 1999: Kampf gegen den Faschismus (was dieses Mal sogar stimmte, da die Ukraine den Faschisten Bandera zum Nationalheiligen erklärte), aber gegen die Uno-Charta verstösst, Verhinderung der Vertreibung der Donezker Bevölkerung, von denen ungefähr 10 000 Personen seit 2014 durch ukrainischen Beschuss gestorben waren, was ebenfalls - wie im Kosovo - gegen die Uno-Charta verstösst. «Humanitäre Intervention» respektive «Sonderoperation», was wie so viele andere Kriege verschiedener sogenannter Akteure in den letzten 25 Jahren anders tituliert wurden, um zu verschleiern, dass Kriege gegen die Uno-Charta verstossen. Russland wies bei der Begründung für ihren völkerrechtswidrigen Krieg selbstverständlich auf den völkerrechtswidrigen Kosovokrieg hin. China wies nach Beginn des Ukrainekrieges den Westen zurecht und erinnerte an die völkerrechtswidrige Zerstörung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999.

Wer hat also die Legitimation, das Völkerrecht wieder zu installieren und es auszubauen? Und wer beschränkt zum Beispiel die Herrschaft der 5 Grossmächte im Uno-Sicherheitsrat, womit alle ihre völkerrechtswidrigen Handlungen vertuschen können?

Mithilfe von Sozialingenieuren, die gemäss dem französischen Philosophen Alain Touraine die neue herrschende Klasse bilden, glauben viele, die Bürger so konstruieren zu können, dass sie sich nicht mehr als freie Menschen denken wollen. Sie sollen den vorgegebenen Mustern der politischen Akteure entsprechend «freiwillig» fühlen und denken. Sie sollen auch dem modern gedrehten Kriegsruf gehorsam folgen, indem sie sich ihr Geld wegnehmen lassen oder direkt in den Krieg ziehen und sich auf Befehl und innerlich gegen die bösen Teufel aufgeheizt gegenseitig abschlachten.

Wenn Sie sich weiterhin diesem Versuch entgegenstellen, die Bürger daran zu hindern, sich des eigenen Verstandes zu bedienen - ohne Leitung eines anderen - , dann wird Ihnen der Verdienst zukommen können, dass Sie den Mut und die Entschlossenheit vieler Bürger unterstützt haben, selbst zu denken - wie es Immanuel Kant in seiner Schrift: «Was ist Aufklärung?» als Grundlage für eine gute Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens und damit auch für eine demokratisch organisierte Gesellschaft hervorgehoben hat. 

Und für diese Selbstorganisation sind die fundamentalen bürgerlichen Freiheiten entscheidend, die seit der Magna Charta 1215 in Europa immer weiter ausgebaut wurden und im Grundgesetz niedergelegt sind.

Sie sollen in Rechtsstaaten den einzelnen Bürger vor den Eingriffen des Staates schützen und ermöglichen ein gemeinschaftliches, selbstorganisiertes Zusammenleben. Wenn Sie sich in der Welt von autoritären Regimen absetzen wollen, dann geht es darum, diese so schwer erkämpften bürgerlichen Freiheiten zu leben und zu verbreiten   – ohne Krieg, aber durch ein kooperatives und gleichwertiges Miteinander:

  • Allgemeine Handlungsfreiheit,
  • Gedankenfreiheit, 
  • Gewissensfreiheit,
  • Meinungsfreiheit,
  • Vereinigungsfreiheit,
  • Versammlungsfreiheit,
  • Bewegungsfreiheit,
  • Forschungs- und Lehrfreiheit,
  •  Religionsfreiheit
  • Pressefreiheit
  • Schutz der Wohnung
  • ua.

Diese Freiheiten verhindern auch die Kriegstreiberei eines Staates, weil Bürger, die ihr eigenes Leben bestimmen können und miteinander, friedlich und selbstorganisiert das Leben gestalten können, von sich aus keinen Krieg anstreben, sondern nur, wenn sie dazu verführt, organisiert und gezwungen werden   – meist von staatlichen Organen, was der Tiefenpsychologe Alfred Adler 1919 in seiner Schrift «Die andere Seite» im Zusammenhang mit dem 1. Weltkrieg dargelegt hat.

Freundliche Grüsse
Diethelm Raff
Dipl. Ing. agr et Diplom-Psychologe/Universität Zürich

www.diethelm-raff.ch
www.direkte-demokratie.ch

*Zum Buch Clérambault schreibt Romain Rolland:
Vorbemerkung

Gegenstand dieses Buches ist nicht der Krieg, obzwar der Krieg es überschattet. Sein wirkliches Thema ist das Versinken der Einzelseele im Abgrund der Massenseele. Und dies ist für mein Empfinden ein für die Zukunft der Menschheit viel entscheidenderes Phänomen als die vorübergehende Oberherrschaft der einen oder der anderen Nation.

Mit Absicht habe ich alle politischen Fragen in den Hintergrund gestellt: ihnen steht gesonderte Betrachtung zu. Aber wie immer auch man den Ursprung des Krieges begründe, mit welchen Thesen und Gründen man ihn erklären möge   – keine irdische Rechtfertigung entschuldigt das Kapitulieren der Vernunft vor der öffentlichen Meinung.

Die allgemeine Entwicklung zur Demokratie, die von einem abgestorbenen Begriff, dem ungeheuerlichen der Staatsräson, gedeckt ist, hat die Geistigen Europas verleitet, sich zu dem Glaubensartikel zu bekennen, es gäbe für den Menschen kein höheres Ideal, als Diener der Gemeinschaft zu sein. Und diese Gemeinschaft nennt man: Staat.

Ich aber scheue mich nicht zu sagen: Wer sich zum blinden Diener einer so blinden   – oder verblendeten   – Gemeinschaft erniedrigt, wie es die Staaten von heute sind, in denen eine Handvoll Menschen in ihrer Unfähigkeit, die Vielfalt der Völker zu begreifen, durch die Lügen der Presse, den unersättlichen Mechanismus des vereinheitlichten Staatswesens den Mitmenschen ihre eigenen Narrheiten, Leidenschaftlichkeiten und Geschäfte als ihre Gedanken und Taten aufzwingt   – wer dies tut, der dient nicht in Wahrheit der Gemeinschaft, sondern er knechtet und erniedrigt sie mit sich selbst. Wer den anderen von Nutzen sein will, muß vorerst frei sein. Auch Liebe ist wertlos, solange sie die eines Sklaven ist.

Freie Seelen, starke Charaktere   – das tut heute der Welt am meisten not! Auf den verschiedensten Wegen   – leichenhafte Unterwerfung durch die Kirchen, dumpfe Unduldsamkeit der Vaterländer, abstumpfender Unitarismus im Sozialismus   – kehren wir zur Form des Herdenlebens zurück. Nur langsam hat sich der Mensch dem heißen Lehm der Erde entrungen. Nun scheint es, als ob seine tausendjährige Anstrengung erschöpft sei, und er läßt sich wieder in das Weiche zurücksinken. Die Massenseele schluckt ihn auf, der entnervende Atem der Tiefe reißt ihn mit sich ... Auf darum! Rafft euch zusammen, ihr, die ihr glaubt, daß der Kreislauf noch nicht erfüllt sei! Wagt es, euch von der Herde abzusondern, die euch fortzieht! Jeder Mensch muß, so er ein wahrer Mensch ist, lernen, allein innerhalb aller zu stehen, allein für alle zu denken   – wenn es not tut, sogar auch gegen alle! Aufrichtig denken heißt für alle denken, selbst wenn man gegen alle denkt. Die Menschheit bedarf derer, die ihr aus Liebe Schach bieten und sich gegen sie auflehnen, wenn es not tut! Nicht indem ihr der Menschheit zuliebe euer Gewissen und eure Gedanken fälscht, dient ihr der Menschheit, sondern indem ihr ihre Unantastbarkeit gegen gesellschaftlichen Machtmißbrauch verteidigt; denn sie sind Organe der Menschheit. Werdet ihr euch untreu, so seid ihr untreu gegen sie.

Sierre, März 1917
R. R.

Weiterlesen: https://www.projekt-gutenberg.org/rollandr/cleramba/chap002.html
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**Zur Novelle Der Zwang von Stefan Zweig finden Sie mehr hier: https://www.projekt-gutenberg.org/zweig/zwang/chap001.html

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