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Was ist gerecht? Deutschlands schwieriges Verhältnis zu Israel und Palästina.

02. April 2013

Was ist gerecht? Deutschlands schwieriges Verhältnis zu Israel und Palästina.

Peter Vonnahme   – Richter am Bayer. Verwaltungsgerichtshof (i.R.)

Vortrag am 21. Nov. 2012 (Deutscher Bundeswehrverband   – ERH   – in Königsbrunn)

Ich werde Ihnen zum Einstieg aus einem Brief vorlesen, den ich Anfang 2009 nach dem damaligen Angriff Israels auf Gaza an den israelischen Botschafter in Deutschland geschrieben habe. Dieser Brief ist heute [21. Nov. 2012: israelische Luftangriffe auf Gaza, Raketen aus Gaza, Explosion einer Bombe in einem Bus in Tel Aviv] von bestürzender Aktualität. Jeden Augenblick kann durch Einmarsch israelischer Bodentruppen in Gaza ein verheerender Krieg ausbrechen. Mein Brief, der später etwas verändert im Internet als Offener Brief veröffentlicht worden ist, führt uns mitten in das Thema: Was ist gerecht im Verhältnis zwischen Israel und Palästina? Und welche Rolle spielt Deutschland in diesem Konflikt?

Ich zitiere auszugsweise aus diesem Brief:

„Sehr geehrter Herr Botschafter,

... ich bin 1942 in Landsberg am Lech geboren. Es ist die Stadt, in der Hitler 1923 in Festungshaft war und sein Buch "Mein Kampf" geschrieben hat. Wenige Tage nach meiner Geburt ist mein Vater in Russland gefallen.....

Im Frühsommer 1967   – ich stand damals unmittelbar vor meinem juristischen Staatsexamen   – beunruhigten mich Meldungen, wonach Israels arabische Nachbarn beabsichtigten, "die Juden ins Meer zu treiben". Unter dem Eindruck ... des Holocausts ... spürte ich spontan Verantwortung für die ... überlebenden Juden, die in Palästina ihre Heimstätte gefunden hatten. Ich trug mich deshalb mit dem Gedanken, mein Staatsexamen zurückzustellen und dem ... bedrohten Staat Israel zu Hilfe zu eilen. Es kam nicht dazu, weil mich meine allein stehende Mutter beschwor, nicht wegzugehen ("Ich habe bereits meinen Mann im Krieg verloren, ich möchte nicht auch noch meinen Sohn im Krieg verlieren")."...

„Nach meiner Wahrnehmung ist Israel vom rechten Weg abgekommen (Vertreibungen, Besatzung, ... Mauerbau, Siedlungen, Grenzregime, Absperrungen, Land- und Wasserraub, ... Häuserzerstörungen, Freiheitsentziehungen, Tötung Unschuldiger, Sippenhaft, Missachtung des Völkerrechts).

Manches, aber bei weitem nicht alles, ist mit den legitimen Sicherheitsbedürfnissen Israels zu rechtfertigen. ... Bei allem Verständnis für das historisch begründbare Gefühl der Bedrohung des Staates Israel und seiner Bewohner gibt es keine Rechtfertigung für die israelischen Militärschläge in Gaza. Angesichts von Hunderten von Toten und Verwundeten ist es müßig, darüber zu rechten, wer die Ursache gesetzt hat und wer "nur" reagiert hat. .... Weder Steine werfende Jugendliche ..., noch die sinnlosen Qassamraketen ... vermögen das angerichtete Blutbad im Gazastreifen zu rechtfertigen.

Die Auseinandersetzung gleicht dem Kampf zwischen David und Goliath, jedoch mit der Besonderheit, dass der palästinensische David mit seinen Steinschleudern und Mörsergranaten absolut chancenlos ist gegen die Jagdbomber, Kampfhubschrauber und Panzer der Militärmacht Israel. ..."

So weit ein Auszug aus meinem damaligen Brief. Heute müsste man letzterer Aufzählung noch das Wort „Kampfdrohnen" hinzufügen. Eine Kernaussage des Briefes ist die Sorge, dass Israel vom rechten Weg, man könnte auch sagen: vom Weg des Rechts, abgekommen ist. Hierin steckt ein schwerer Vorwurf. Ich werde versuchen, diesen Vorwurf anhand von einigen Beispielen zu begründen.

1. Was ist gerecht?

Ich weiß aus meinem Berufsleben, dass es oft schwierig, manchmal fast unmöglich ist, herauszufinden, was gerecht ist. Gilt das auch für den Konflikt zwischen Israel und Palästina, der politisch zu den heißesten Eisen der letzten 60 Jahre zählt?

Wir haben es zu tun mit dem Anspruch zweier Völker auf dasselbe Land. Es ist die kleine Landfläche zwischen Mittelmeer und Jordan. Die Römer nannten diese Provinz Palästina.

bild 1 pv-vortrag

Die Juden und der Staat Israel berufen sich primär auf göttliche Verheißung. Ich erinnere an das AT, an die Ankunft Abrahams im Lande Kanaan und an Gottes Versprechen gegenüber Abraham: „Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land." (Gen 12,7; ähnlich Gen 13,15).

Damit beginnt das Verhängnis: Denn Abraham hatte nicht nur einen Sohn, sondern deren zwei, Isaak und Ismael. Ismael, der Erstgeborene, ist der Stammvater der Araber, von ihm stammt der Prophet Mohammed ab. Isaaks Linie führt zu Jakob, seinen 12 Söhnen und damit zu den 12 Stämmen der Juden. Obgleich die biblische „Aktenlage" unklar ist, haben Juden und der Staat Israel keine Zweifel: Sie sind das von Gott auserwählte Volk, ihnen gehört das Land!

Abgesehen davon, dass die Bibel generell nicht zur Klärung von Besitzansprüchen taugt, kann mit den alttestamentarischen Textstellen der israelische Landanspruch nicht wirklich belegt werden.

Jedoch spielt die religiöse Fundierung auch heute noch eine große Rolle. Nicht nur einmal haben mir jüdische Gesprächspartner gesagt, dass sie nicht mehr an Gott glauben. Bei politischen Diskussionen erklärten mir dieselben Menschen allerdings mit entwaffnender Offenheit, dass der Anspruch Israels auf das Land selbstverständlich auf „göttliches" Versprechen zurückgehe. Dieses Phänomen zeugt von der Nachhaltigkeit religiöser Prägung.

Die Palästinenser berufen sich darauf, dass es ihr Land sei, weil sie es seit Jahrhunderten bewirtschaftet hätten   – lange bevor die Juden kamen. Diese hätten als Einwanderer kein Recht auf das Land. Bekanntlich haben die Juden nach dem Untergang des Reiches Juda (586 v. Chr.) und nach der Zerstörung des 2. Tempels durch die Römer (70 n. Chr.) das Land verlassen und sich in alle Welt zerstreut (Stichwort: Diaspora).

Es ist zumindest schwierig, nach mehr als 2.000 Jahren der Abwesenheit Besitzansprüche geltend zu machen. Stellen Sie sich vor, die Indianer Nordamerikas kämen heute   – nach nicht einmal 200 Jahren   – auf die Idee, ihre ehemaligen Weide- und Jagdgründe von den Amerikanern zurückfordern. Sie würden wenig Verständnis finden.

Wem steht also das Land Palästina zu?

Lassen wir Gott, die Indianer und die Vorgeschichte beiseite. Begeben wir uns in die Neuzeit, in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg.

Die neuzeitliche Gründung des Staates Israel beruht auf dem sog. Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 (Resolution 181 der UNO-Generalversammlung vom 29.11.1947). Der Plan sieht die Bildung von zwei Staaten auf dem britischen Mandatsgebiet Palästina vor: einen jüdischen Staat (56 % der Fläche) und einen arabischen Staat (43% der Fläche). Das fehlende 1 % ist die Fläche Jerusalems, die Stadt sollte unter internationale Kontrolle kommen. Ein Kommentator beschrieb den Teilungsplan wie folgt: Ein Volk (die Briten) gab einem anderen Volk (den Juden) ein Land, das einem Dritten (den Arabern) gehörte. Diese Darstellung ist zwar holzschnittartig vereinfacht, aber sie beschreibt den Kern des Problems. Die Welt hat es sich damals angesichts der grauenvollen Bilder des Holocausts und der Heimatlosigkeit der überlebenden Juden wahrscheinlich etwas zu einfach gemacht. Man wollte aus verständlichen Gründen rasch eine Heimstätte für die Holocaustüberlebenden. Und man fand eine Lösung   – allerdings zu Lasten der dort lebenden Palästinenser, die am großen Leid der Juden völlig unschuldig waren.

Wie reagierten die Betroffenen auf den Teilungsplan?

Die arabischen Staaten lehnten den Vorschlag der UNO ab,

  • zum einen, weil die vorgeschlagene Aufteilung die territoriale Einheit Palästinas zerstöre
  • und zum anderen, weil das palästinensische Volk als Hauptbetroffener zuvor nicht befragt worden sei.

Die israelischen Politiker handelten nach dem Motto, der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach. Sie nahmen das Geschenk einer nationalen Heimstätte auf fremdem Territorium an, wenngleich mit unausgesprochenen Vorbehalten. Denn in Wirklichkeit hatte die zionistische Bewegung weitergehende Vorstellungen. David Ben Gurion, der spätere erste Ministerpräsident Israels, hatte bereits 1937 in einer Rede erklärt: „Wenn wir durch Gründung des Staates zu einer starken Macht geworden sind, werden wir die Teilung aufheben und uns auf ganz Palästina ausdehnen. Politisch sind wir nämlich die Aggressoren, während sie sich verteidigen. Das Land gehört ihnen, weil sie es bewohnen, während wir von draußen kommen ...".

Noch wesentlich weitergehend ist die Idee eines „Großisraels". Sie lehnt sich gleichfalls an biblische Texte an. Nach Gen 15, 18 hat Gott in seinem Bund mit Abraham dessen Nachkommen das „Land vom Grenzbach Ägyptens [Nil] bis zum großen Strom Eufrat" gegeben. Dieses Gebiet ist in dem folgenden Bild rot eingerahmt.

bild 2 pv vortrag

Die weitere Entwicklung Am Tag nach der Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948 durch David Ben Gurion begann ein Krieg. Er endete mit einem Sieg Israels über die Arabische Liga. Deshalb feiern ihn die Israelis als Unabhängigkeitskrieg, die Palästinenser beklagen ihn als al-nakba (arab.: „Katastrophe"). Ein Großteil der arabischen Bevölkerung flüchtete oder wurde vertrieben. Geblieben sind Unverständnis, Verzweiflung und Wut   – ja auch Hass!

Wie würden wir reagieren, wenn die UNO morgen auf die Idee käme, mehr als die Hälfte unseres Landes einem anderen Volk (z.B. Einwanderern) als Staatsgebiet zu schenken? Würden wir sagen, das ist eine tolle Idee? Würden wir die Koffer packen? Oder würden wir uns zur Wehr setzen?

Tatsache ist, dass die aus ihrer früheren Heimat vertriebenen Araber heimatlos wurden. Wir nennen sie heute Palästinenser. Sie bemühen sich mittlerweile seit mehr als einem halben Jahrhundert vergeblich um die Gründung eines eigenen Staates.

In der Waffenstillstandsvereinbarung von 1949 wurde auf der Landkarte Palästinas eine neue Grenze eingezeichnet   – die legendäre Grüne Linie. Dadurch vergrößerte sich das Gebiet Israels von 56% auf 77% der Gesamtfläche.

Doch damit war die Tragödie für die Palästinenser noch nicht zu Ende. Nach dem gewonnenen Sechstagekrieg von 1967 besetzte Israel die eroberten Gebiete, so dass es heute faktisch ganz Palästina (incl. Westbank) beherrscht.

Die Dynamik der Veränderungen zugunsten Israels zeigt das nachstehende Schaubild.

bild 3 pv vortrag

 

Die grünenFlächen kennzeichnen arabisches (palästinensisches) Gebiet, die weissen Flächen sind israelisches Gebiet.
Bild 1: Stand nach dem 2. Weltkrieg; Bild 2: Teilungsplan; Bild 3: Grüne Linie; Bild 4: Stand 2000. In diesem Bild sind innerhalb der umrandeten Westbank weiße Flächen erkennbar, sie zeigen israelische Siedlungen in Palästina; infolge der andauernden israelischen Siedlungstätigkeit schrumpft die palästinensische Restfläche weiter von Tag zu Tag.

Nach israelischem Verständnis ist die territoriale Ausdehnung keine Eroberung fremder Gebiete, sondern die Befreiung von unrechtmäßig besetztem israelischem Land.

Palästinenserstaat Die Idee steht nach wie vor nur auf dem Papier. Die Lösung des Konflikts ist heute ferner denn je. Ich glaube, dass Israel einen Palästinenserstaat mit allen Mitteln verhindern wird. Es ist nämlich mit dem ungeklärten Zustand bisher sehr gut gefahren. Es hat unter den Augen der Weltöffentlichkeit   – gestützt auf die tragische Geschichte der Juden und auf seine militärische Macht   – sein Staatsgebiet erheblich ausgedehnt und auf dem Rest, in den besetzten Gebieten, unter Missachtung des Völkerrechts Siedlungen gebaut. Die westliche Welt, die bei anderen Konflikten so vehement Demokratie und Menschenrechte einfordert, schaut tatenlos zu.

Wie könnte eine Lösung aussehen? Der prinzipielle Ansatz ist auch heute noch der Teilungsplan der UNO von 1947. Da sich Israel zur Begründung seines eigenen Staates auf ihn beruft, muss es die in diesem Dokument enthaltene Idee von zwei Staaten förmlich anerkennen mit der Folge, dass auch der zweite Teil des Planes, nämlich die Errichtung eines Staates Palästina, verwirklicht werden kann. Es geht nicht an, dass man in einem Dokument nur das akzeptiert, was einem genehm ist, den Rest aber missachtet. Entscheidend ist jedoch, dass sich die internationale Gemeinschaft (insbes. USA, UNO, EU) endlich zu ihrer Verantwortung bekennt und als gerechter Schiedsrichter tätig wird.

3. Rückkehrrecht der Flüchtlinge

Durch den Krieg von 1948 wurden ca. 750.000 Palästinenser zu Flüchtlingen. Sie warten heute, über 60 Jahre später, immer noch in Nachbarländern   – teilweise in Lagern   – auf die Rückkehr in ihre frühere Heimat. Infolge natürlicher Vermehrung beträgt ihre Zahl inzwischen fast 5.000.000. Die Resolution 194 (III) der UNO-Generalversammlung erkannte das Rückkehrrecht der Palästinenser an:

„Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehren und mit ihren Nachbarn in Frieden leben wollen, muss dieses zum frühestmöglichen Zeitpunkt gestattet werden. Denen, die nicht die Rückkehr wählen, muss Entschädigung für das verlorene Eigentum bezahlt werden. ..."

Es ist klar, dass die Rückkehr von Millionen palästinensischer Flüchtlinge in den Staat Israel dessen Charakter vollständig verändern würde und von den Einwohnern nicht akzeptiert würde. Der erste Schritt zur Lösung des Flüchtlingsproblems kann deshalb nur sein, jedem Flüchtling die Wahl zwischen Rückkehr und Entschädigung einzuräumen. Der zweite Schritt müsste die Errichtung des Staates Palästina sein verbunden mit der Option, allen Palästinensern die freiwillige Rückkehr dorthin zu gewährleisten. Für den Rest muss das prinzipielle Recht auf Rückkehr in den Staat Israel anerkannt werden, nicht zuletzt zur Heilung der psychologischen Wunden der Vertreibung.

Da jedoch zu erwarten ist, dass die Rückkehr von Millionen Palästinensern in Israel wegen der national-demografischen Veränderungen auf erheblichen Widerstand stoßen wird, sollte die Zahl der Rückkehrer auf eine angemessene Zahl von Flüchtlingen begrenzt werden. Für all diejenigen, die sich gegen eine Rückkehr entscheiden, sind Wiedergutmachungs-leistungen vorzusehen. Die Realisierung dieser Grundsätze ist schwierig, aber im Interesse einer tragfähigen Friedenslösung unerlässlich. Eine Übereinkunft kann nur in direkten Verhandlungen zwischen Israel und Palästina unter der Schirmherrschaft der internationalen Staatengemeinschaft erzielt werden.

4. Jerusalem

Der Teilungsplan von 1947 bezeichnet Jerusalem wegen seiner besonderen Bedeutung für die Religionen als corpus separatum (Sondergebiet) und unterstellt es internationaler Verwaltung. Im Unabhängigkeitskrieg von 1948 besetzte Israel jedoch den Westteil von Jerusalem und annektierte ihn unter Verletzung von Völkerrecht. Nach dem Sechstagekrieg wurde auch Ostjerusalem besetzt und 1980 zur "ewigen und unteilbaren" Hauptstadt Israels erklärt. Die UNO-Vollversammlung hält diesen einseitigen Akt für "null und nichtig". Deshalb haben auch sämtliche Staaten ihre Botschaften und diplomatischen Vertretungen in Tel Aviv und nicht in Jerusalem. Die Europäische Union will keinen Status Jerusalems anerkennen, der nicht in direkten Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern festgelegt worden ist.

5. Die Besatzung

Palästina steht seit 1967 unter militärischer Besatzung Israels. Zum Schutz der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten sieht das Völkerrecht zahlreiche Verpflichtungen der Besatzungsmacht vor (u.a. Beachtung der Menschenrechte, Versorgung mit Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern). Ausdrücklich verboten ist der Besatzungsmacht die Besiedlung des besetzten Territoriums mit eigenen Staatsangehörigen. Die Realität sieht anders aus: Im Westjordanland leben heute rund 300.000 und in Ostjerusalem rund 200.000 israelische Siedler   – völkerrechtswidrig. Und der Siedlungsbau geht munter weiter. Die Welt schaut tatenlos zu. Sie vergisst, dass rechtswidrige Besatzung der Nährboden für das ist, was man dann Terrorismus nennt. Was ergibt sich daraus?

„Jedem Israeli sollte seit langem klar sein, dass die [Besiedlung Palästinas] ... unrechtmäßig ist. Aber das israelische Volk ist blind, seine Ohren taub und seine Führer schwach. ... Interventionen von außen [sind] dringend nötig."

Diese schwere Anklage stammt nicht von mir. Ich fand sie am 14.6.2012 in der Neuen Züricher Zeitung. Ausgesprochen hat sie kein geringerer als Avram Burg, der 4 Jahre Sprecher der Knesset, des israelischen Parlaments, war.

6. Die Israelische Mauer

Mauern haben auch andere Staaten gebaut (China, DDR, USA).

Aber die israelische Mauer weist Besonderheiten auf. Zunächst ist sie keine normale Mauer, auch kein Zaun, sondern eine Hochsicherheitsanlage: bis zu 9 m hoch, mit Natodraht, Gräben, Kameras und Militärpatrouillen. Wir Deutsche kennen solche Mauern! Über deren Rechtmäßigkeit ist viel diskutiert und gestritten worden. Die israelische Mauer geht jedoch noch einen Schritt weiter. Sie steht nämlich zum großen Teil auf fremdem, auf palästinensischem Grund. Sie schließt Menschen ein, trennt Dörfer und Familien und hindert Bauern am Zugang zu ihren Feldern. 2003 forderte die UN-Generalversammlung den Rückbau dieser Mauer   – ohne Erfolg! Am 9. Juli 2004 befand der Internationale Gerichtshof in Den Haag, dass der Bau der Mauer in den besetzten palästinensischen Gebieten internationalem Recht widerspreche und dass Israel verpflichtet sei, die Mauer unverzüglich zu beseitigen, soweit sie auf fremdem Gebiet stehe. Außerdem sei Schadensersatz zu leisten. Diese Rechtsmeinung wurde anschließend von der UN-Generalversammlung mit 150 zu 6 Stimmen übernommen. Israel tat das mit der lapidaren Bemerkung ab, das Gericht sei nicht zuständig, und es kümmerte sich nicht weiter um den Richterspruch.

Der demokratische Westen tat das, was er bei israelischen Rechtsbrüchen zumeist tut, er mahnte zur Beachtung des Rechts und ging zur Tagesordnung über. Sanktionslos.

Ein Vergleich mit Rechtsverstößen (tatsächlichen oder behaupteten) im Irak, in Libyen, Syrien, Iran und Ägypten muss nachdenklich stimmen.

Ich komme nun zur deutschen Haltung im israelisch-palästinensischen Streit.

7. Gibt es deutsche Sonderbeziehungen zu Israel?

60% der Deutschen verneinen heute eine besondere Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel (Forsa-Erhebung Ende Mai 2012). Ich persönlich gehöre zu der Minderheit, die auch heute noch eine besondere Verantwortung Deutschlands für den Zufluchtsstaat der Holocaustüberlebenden bejaht. Es geht nämlich nicht um persönliche Schuld, sondern um eine historische Erblast.

Diese historische Verknüpfung erledigt sich weder durch Zeitablauf noch durch Wiedergutmachungszahlungen. Ich weiß, viele sagen, es müsse endlich Schluss sein, es müsse ein „Schlussstrich" gezogen werden. Ich halte diese Debatte jedoch nicht für hilfreich.

Fragen wir lieber: Worin besteht die deutsche Verantwortung?

Von Wiedergutmachung war schon die Rede. Das war und ist richtig. Allerdings kann dadurch millionenfaches Verbrechen nicht ungeschehen gemacht werden. Für mich bedeutet das: Deutschland schuldet dem israelischen Volk auch künftig moralische und politische Unterstützung. Es dürfte auch nicht zweifelhaft sein, dass Deutschland im Falle einer äußeren Bedrohung Israels für den dessen Bestand einzutreten hat.

Allerdings gehören Waffenlieferungen nicht zu den Beistandspflichten. Deshalb halte ich die U-Boot-Lieferungen an Israel für verfehlt. Mit Kriegswaffen kann der Bestand dieses Staates langfristig nicht gesichert werden. Waffen schaffen nur neue Kriegsrisiken.

Einen wirklichen Schutz kann nur die internationale Gemeinschaft gewährleisten. Und zwar auf der Grundlage einer gerechten Friedenslösung. Davon war schon die Rede.

Für problematisch halte ich Merkels These, dass Israels Sicherheit „deutsche Staatsräson" sei. Zum einen verkennt diese Aussage den Begriff der Staatsräson und zum anderen begründet sie die Gefahr leichtsinniger militärischer Abenteuer. Bundespräsident Gauck ist übrigens bei seinem kürzlichen Staatsbesuch in Israel von Merkels Doktrin abgerückt. Diese könne Deutschland vor dem Hintergrund des Streits um das iranische Atomprogramm in "enorme Schwierigkeiten" bringen.

Es war schon mehrfach vom Existenzrecht Israels die Rede. Was ist das eigentlich? Bei vernünftiger Betrachtung ist die Staatsgründung Israels ein abgeschlossener historischer Tatbestand. Im Vertrauen hierauf haben inzwischen mehrere Generationen und Millionen Menschen ihre existenziellen Entscheidungen getroffen. Dieses Vertrauen muss geschützt werden. Das Geschehen der israelischen Staatsgründung ist damit   – ob man es mag oder nicht   – irreversibel. Selbst ein Kind, das aus einer Vergewaltigung entsteht, hat ein Recht auf Leben. Israel hat ein Recht auf Existenz   – ohne Wenn und Aber! Offen ist allein noch die Frage, wo die Staatsgrenzen verlaufen.

Es gibt in den letzten Jahren auch viele palästinensische Stimmen, sogar aus dem radikalen Lager, die sich dieser schwierigen historischen Realität stellen. In Verlautbarungen wird der Staat Israel zunehmend als eine "Tatsache" bezeichnet. Die PLO hat 1998 in ihrer Charta das Existenzrecht Israels ausdrücklich anerkannt. Diese Einsicht verdient hohe Anerkennung und sollte gewürdigt werden.

Nun bitte ich Sie genau hinzuhören! Die deutsche Sonderverantwortung verleiht Israel jedoch keinen Blankoscheck in dem Sinne, dass es machen kann, was es will und Deutschland hierbei sekundieren muss.

Vielmehr ist die deutsche Verantwortung begrenzt

  • einerseits durch die Normen des Völkerrechts
  • und andererseits durch wohlverstandene Freundschaftspflichten.

Echte Freundschaft erweist sich nicht in der stillschweigenden Hinnahme oder gar in der Unterstützung von Fehlverhalten. Sie zeigt sich vielmehr im Mut, dem Freund notfalls in den Arm zu fallen, wenn er im Begriff ist, Fehler zu machen. Andernfalls ist man ein bequemer, schlechter Freund. Ein echter Freund nimmt einem Betrunkenen die Autoschlüssel weg   – auch auf die Gefahr hin, dass er dafür beschimpft wird. Das Gesagte gilt auch für Staaten untereinander.

Tatsache ist, dass Deutschland bei israelischen Rechtsbrüchen schweigt oder verquaste Erklärungen abgibt. Reaktionen der deutschen Bundesregierung sind oftmals Zeichen von bedrückender Einseitigkeit und Ausdruck von Perspektivlosigkeit. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern sogar gefährlich. Aus verletztem Gerechtigkeitsgefühl können leicht Ressentiments und neuer Antisemitismus erwachsen. Anzeichen hierfür gibt es bereits.

Es ist zweifelhaft, ob die von Israel seit Jahren verfolgte "Politik der Härte" gegenüber dem palästinensischen Volk die Gefährdungen für die eigene Bevölkerung verringern kann. Der Blutzoll der Vergangenheit spricht dagegen.

Ich habe Sorge, dass sich Israel auf einem verhängnisvollen Irrweg befindet, der letztlich sogar seine Existenz in Gefahr bringen kann. Israel wird zunehmend zu einer Insel in einem Meer aus Hass.

Die militärische Überlegenheit ist kein Schutzschild für die Zukunft. Was würde geschehen, wenn Amerika seinen schützenden Arm zurückzieht? Das ist heute nicht mehr undenkbar. Die Vereinigten Staaten sind nämlich in den letzten Jahren selbst in große wirtschaftliche, soziale und militärische Schwierigkeiten geraten, was die eigenen Kräfte zusehends bindet.

Deutschland wäre also gut beraten, Israel nicht nur wirtschaftliche und militärische Hilfe zu gewähren, sondern mit Nachdruck eine auf fairen Ausgleich gerichtete Politik anzumahnen. Die Legitimation für eine solche möglicherweise unerwünschte Einmischung wird nicht durch die tragischen Fehler deutscher Politik in der Vergangenheit beseitigt. Ich meine, das Gegenteil ist der Fall: Der in die Irre Gegangene kann den rechten Weg am besten weisen. Er muss es im konkreten Fall allerdings mit Empathie und Sensibilität tun. Zwar sind die Erfolgsaussichten isolierter deutscher Interventionen nicht groß. Das ist jedoch kein Argument gegen solche Einmischungen.

8. Gibt es eine deutsche Sonderverantwortung auch für Palästina?

Abweichend von der deutschen Regierungspolitik sehe ich eine deutsche Sonder-verantwortung nicht nur für Israel und seine jüdische Bevölkerung, sondern auch für das Schicksal der Palästinenser. Das palästinensische Drama der letzten 65 Jahre hat nämlich eine Ursache im nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm gegen die Juden Europas. Die Judenverfolgung war mitursächlich für die Einwanderungswelle entrechteter und traumatisierter Juden nach Palästina ab Mitte der dreißiger Jahre. Außerdem haben die schrecklichen Bilder des Holocausts die überstürzte Staatsgründung Israels begünstigt.

Dies alles ging   – wie wir gesehen haben   – zu Lasten der angestammten palästinensischen Bevölkerung. Holocaust, Massenflucht und Einwanderung sind Deutschland zurechenbar. Hieraus folgt eine Verantwortung des Konfliktauslösers Deutschland für das Schicksal der Palästinenser. Dies lässt sich politisch, rechtlich und ethisch begründen.

9. Was folgt daraus für die deutsche Haltung?

  1. Es ist zunächst ein Gebot der Redlichkeit, dass Deutschland seine doppelte Verantwortung sowohl für Israel als auch für Palästina ausdrücklich anerkennt. Das ist nicht überflüssig, sondern notwendig. Denn nur ein klares Bekenntnis liefert einen verlässlichen Rahmen für eine Politik, die beiden Seiten gerecht wird.
  2. Deutschland muss im Nahostkonflikt zu einer strikt am Recht orientierten Politik finden. Es muss sich die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren durchsetzen ("rule of law, not rule of power"). Dieses Prinzip wird verletzt, wenn Israel auf Anschläge palästinensischer Freischärler seinerseits mit terroristischen Aktionen antwortet. Ein Staat verliert an Glaubwürdigkeit und Ansehen, wenn er sich der inakzeptablen Mittel derer bedient, die er bekämpfen will. Eine glaubwürdige Außenpolitik muss das auch aussprechen. Wir dürfen uns auch nicht länger darauf hinausreden, dass im Nahen Osten ohne Amerika nichts geht. Das mag zwar derzeit noch richtig sein. Gleichwohl sind klare, am Recht orientierte Positionen unerlässlich. Die Notwendigkeit hierzu besteht mehr denn je, weil sich Amerika zunehmend als unfähig erweist, die Rolle eines gerechten Maklers im Nahostkonflikt zu spielen. Zu einseitig haben die USA in den letzten Jahren Partei für die Interessen Israels ergriffen. Deutschland (und Europa) kommt daher die Aufgabe zu, die Stimme für einen gerechten Ausgleich zwischen Israel und Palästina zu erheben.
  3. Schließlich ist es notwendig, dass Staaten das Ergebnis freier und demokratischer Wahlen auch dann respektieren, wenn ihnen dieses Ergebnis   – wie bei den palästinensischen Parlamentswahlen von 2006   – nicht passt. Wenn sich die USA (und in ihrem Gefolge die EU und Deutschland) über das Wahlergebnis hinwegsetzen, erweisen sie dem demokratischen Prinzip einen Bärendienst. Denn sie führen die Demokratie ad absurdum. Wem das Ergebnis einer Wahl nicht gefällt, der hat nur eine einzige legitime Option: Er muss versuchen, durch eine gerechte Politik die Bedingungen so zu verändern, dass radikale Gruppierungen keinen Nährboden für ihre Politik vorfinden.
  4. Es darf nicht mit zweierlei Maßstäben gemessen werden ("no double standards"). Was für die eine Seite recht ist, muss für die andere billig sein. Wer von palästinensischen Terrorgruppen verlangt, dass sie ihre Raketenangriffe einstellen, muss gleichzeitig Israel auffordern, Luftangriffe auf Wohngebiete und gezielte Tötungsaktionen zu unterlassen.

Wir Deutsche müssen endlich begreifen:

Die ungeheure Schuld, die Deutsche gegenüber dem jüdischen Volk auf sich geladen haben, darf nicht dazu führen, dass Deutschland nunmehr   – gewissermaßen zum Ausgleich   – eine ungerechte Politik Israels gegenüber dem palästinensischen Volk unterstützt und bei Menschenrechtsverletzungen wegschaut und schweigt. Durch eine solche Haltung würde begangenes Unrecht nicht verringert oder gar geheilt werden. Vielmehr würde einer großen historischen Schuld eine weitere zugefügt.

Abschließend bleibt noch die unausweichliche Frage:

10. Wenn wir Deutsche all das sagen, sind wir dann Antisemiten?

Die Antwort ist ein klares Nein! Ich gebe Ihnen vier Beispiele, die dies verdeutlichen.

  1. Ich darf die israelische Besatzungspolitik verurteilen, auch wenn ich mich dadurch in Gegensatz zum Staat Israel oder seiner Regierung bringe.
  2. Ich darf gegen israelische Kriegsdrohungen (Iran, Palästina) Stellung beziehen   – und zwar selbst dann, wenn meine politische Beurteilung falsch sein sollte. Die Antisemitismusvorwürfe gegen Günter Grass sind deshalb verfehlt und diffamierend. Ich darf den Staat Israel kritisieren   – und zwar auch dann, wenn er sich als jüdischer Staat bezeichnet.
  3. Mehr noch: Ich darf sogar einen bestimmten Menschen unsympathisch finden, auch wenn dieser Mensch ein Jude ist.

Das alles macht mich nicht zum Antisemiten, sondern   – wenn meine Einschätzungen falsch sind   – möglicherweise zum Dummkopf. Es ist im Grunde ganz einfach: Was ich mit Blick auf Griechenland, Syrien, Iran und Saudi- Arabien sagen darf, kann mit Blick auf Israel nicht verboten sein. Die Grenze wird erst überschritten, wenn Werturteile nicht an Tatsachen anknüpfen, sondern an Ressentiments. Überspitzt ausgedrückt: Der Antisemit nimmt dem Juden nicht übel, wie er ist und was er tut, sondern dass er überhaupt existiert. Der Antisemit, verübelt dem Juden alles   – selbst wenn dieser das Gegenteil tun würde, weil er ihn, den Juden, einfach nicht mag.

Auf Staatsebene übertragen heißt das: Den Antisemiten stört weniger, was Israel tut oder unterlässt, sondern ihn stört, dass es den Staat Israel überhaupt gibt.

Nebenbei bemerkt: Es gibt Juden, deutsche und israelische, die die Entwicklung Israels viel heftiger kritisieren, als ich es in diesem Vortrag getan habe (z.B. der bereits erwähnte Avram Burg, der israelische Politiker und Publizist Uri Avnery, die deutsche Menschenrechts-anwältin Felicia Langer, Evelyn Hecht-Galinski, die Tochter des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, sowie meine beiden jüdischen Freunde Reuven Moskovitz aus Jerusalem und Prof. Rolf Verleger aus Lübeck). Sind diese aufrechten und mutigen jüdischen Persönlichkeiten Antisemiten, nur weil sie Israel öffentlich kritisieren? Nein, sie sind keine Antisemiten, sondern Humanisten! Die Welt bräuchte mehr von dieser Art!

Lassen wir uns nicht kopfscheu machen! Üben wir Kritik, sorgfältig, mit Empathie für die jüdischen Menschen. Aber unmissverständlich und entschieden, wenn es nötig ist!

Und vor allem: Tappen wir nicht blindlings in eine raffinierte Falle! Der Vorwurf des Antisemitismus wird häufig als Knüppel benützt, um jede Kritik an Israel im Keim zu ersticken.

Wenn es mir gelungen ist, Sie zu einer fairen Haltung gegenüber Israel und Palästina und zu kritischem Verhalten zu ermutigen, dann hat sich der Zeitaufwand gelohnt   – für Sie als Zuhörer und für mich als Vortragenden.

Die Reaktion der Soldaten (von Unteroffizieren bis zu Obristen) auf den Vortrag war positiv, vielleicht auch deshalb, weil der Vortrag ein ungeschminktes Bild der politischen Realität im „Heiligen Land“ zeichnet. Die durch „diplomatische Rücksichtnahmen“ gekennzeichnete deutsche Regierungspolitikwird kritisch gewürdigt.

Peter Vonnahme
Richter am Bayer. Verwaltungsgerichtshof (i.R.)