«Ich habe an einem Faden des Lügengespinstes gezogen, und es ist alles ans Licht gekommen»

Buchbesprechung
von Rita Müller-Hill
29. April 2019
In der Sendung Les Terriens du samedi, ausgestrahlt am 9. März im französischen Fernsehen Canal+, wurde Philippe de Villiers vom Journalisten Thierry Ardisson gefragt, ob Angela Merkel die Geschichte Walter Hallsteins, des ersten Präsidenten der Europäischen Kommission, bekannt war, als sie am 13. November 2018 im Deutschen Bundestag eine grosse Lobrede auf ihn hielt. Philippe de Villiers antwortet sehr ernst: «Ja, und ich denke, sie hat gelogen.»1

Erläuterung zum Buchtitel

Auf den ersten Seiten seines Buches erzählt Philippe de Villiers, wie er dazu gekommen ist, sich mit der Geschichte der EU zu beschäftigen, und wie der Titel seines Buches zustande kam. Er berichtet auf Seite 19 von einer Unterhaltung mit dem langjährigen (1958  –1968) französischen Aussenminister Maurice Couve de Murville, der dieses Amt schon während der Präsidentschaft Charles de Gaulles innehatte. Im Laufe dieser Unterhaltung habe sich Couve de Murville über den Marshallplan, dessen Akzeptanz er als Unterwerfung bezeichnete, über Walter Hallstein und den europäischen Einigungsprozess ge­äussert:

«Ah l’Europe! L’Europe des pères fondateurs! […] Il vous suffira de tirer sur le fil et tout viendra»   – «Mais quel fil?»   – «Sur le fil du mensonge.» [«Ach Europa! Das Europa der Gründerväter! Es genügt, wenn Sie an einem Faden ziehen, dann kommt alles.»   – «Aber an welchem Faden?»   – «Am Faden des Lügengespinstes.»]2

Öffnung der Archive

Ein Professor der Sorbonne, den Philippe de Villiers nicht namentlich nennt, kommentierte später diesen sybillinischen Spruch:

«Couve de Murville hat das erste Stottern des europäischen Projektes miterlebt. Er wusste alles über alle, über die Trugbilder und die Hintergedanken, die ganze Verwickeltheit, das Getue, den faulen Zauber. Am Faden ziehen sollte in seinem Sinne sicher heissen: an die Quelle gehen.» «Aber an welche Quelle?», fragt de Villiers. «An die Quelle der Informationen, die in den Archiven schlummern. […] Sie sind nicht mehr geheim, sie sind nach und nach geöffnet worden, zugänglich gemacht worden», bekam er zur Antwort.3

Als de Villiers vermutet, dass nun viele Forscher in die Archive stürzen, muss ihn der Professor enttäuschen. Es seien nur sehr wenige, die das tun. Und auf die Frage, warum die Forscher so wenig neugierig seien, erhält er zur Antwort, dies geschehe aus Vorsicht. Man könne seinen Lehrstuhl, seinen Lehrauftrag, seinen Job, seinen Verleger verlieren.   – Auf die Frage, ob es sich da um ein Tabu handle, bekommt er zur Antwort:

«Mehr als das, es geht um einen Mythos, eine Ideologie, ein Glaubenswerk. Alles, was diese ‹Gründerväter› betrifft, liegt im Bereich des ‹Heiligen, Unberührbaren›.»   – «Eine offizielle Wahrheit, also.»4

Diese Unterhaltung ist eine Art Initialzündung. Philippe de Villiers stellt vier Arbeitsgruppen zusammen, die er seine «Brigaden» nennt, und schickt sie auf die Quellensuche.

Im Buch dokumentiert er mit 28 Faksimilekopien auf 111 Seiten die Richtigkeit seiner Aussagen. Und Philippe de Villiers spricht aus, was nicht ans Licht der Öffentlichkeit kommen sollte. Nur ein enger Kreis von Eingeweihten wusste, wie die Dinge wirklich waren. General de Gaulle, der nicht zu diesen gehörte und den man lieber unschädlich gemachte hätte, wusste aber auch seit der Gründung der «France libre»5 in London (1940): Jean Monnet war nicht auf seiner Seite. Er vertrat die Interessen Amerikas, das auf den mit Hitler kollaborierenden Marschall Pétain setzte und de Gaulle als Störfaktor ansah.6

«Philippe de Villiers hatte also Forschergeist und den Mut, sich in die Archive zu begeben und zu veröffentlichen, was er dort fand: Dokumente, die eindeutig beweisen, dass Jean Monnet von der CIA für seine Aktivitäten als ‹Gründervater Europas› bezahlt wurde, dass Robert Schumann eine zwielichtige Gestalt war, die zwischen den jeweiligen Machthabern hin und her wechselte und letztlich im Dienste der US-Amerikaner war.»

Buch Jai tiré Villiers
Forschergeist und Mut

Im deutschsprachigen Raum hat Andreas Bracher bereits 2001 die sakrosankte Europa-Ideologie in Frage gestellt.7 In Zeit-Fragen wurden 2010 und 2011 zwei Artikel veröffentlicht, die eindeutig aufzeigten, in wessen Diensten Jean Monnet stand und in welche Netzwerke er eingebunden war.8

Philippe de Villiers hatte also Forschergeist und den Mut, sich in die Archive zu begeben und zu veröffentlichen, was er dort fand: Dokumente, die eindeutig beweisen, dass Jean Monnet von der CIA für seine Aktivitäten als «Gründervater Europas» bezahlt wurde, dass Robert Schumann eine zwielichtige Gestalt war, die zwischen den jeweiligen Machthabern hin und her wechselte und letztlich im Dienste der US-Amerikaner war. Und Walter Hallstein, NS-Ausbildungsoffizier und juristischer Spezialist der Nazis für «Das Neue Europa», stellte seine Dienste ebenfalls den Amerikanern zur Verfügung.

Wer es wirklich wissen wollte, fiel jetzt bei der Veröffentlichung von de Villiers Buch nicht aus allen Wolken. Einiges ist jedoch neu: zum Beispiel die Tatsache, dass Monnets «Memoiren» nicht von ihm selbst geschrieben wurden, sondern im Auftrag Kennedys, bezahlt von der Ford Foundation, von einer Historikergruppe verfasst wurden.9

Wie entstanden Jean Monnets «Memoiren»?

De Villiers erzählt, wie er hinter dieses Geheimnis gekommen ist.10 Diese Episode ist beispielhaft für de Villiers Vorgehen: Die vielen menschlichen Beziehungen, die er in seinem Leben eingegangen ist, seine Fähigkeit zuzuhören, gepaart mit einem guten Gedächtnis und einer gehörigen Portion Humor, führen dazu, dass er auch Jahre später noch in der Lage ist, bestimmte Informationen, die er anfangs nicht verstand, in ihren Kontext einzuordnen und ihren Sinn zu erfassen. Wegen der Eindrücklichkeit und des exemplarischen Charakters sei an dieser Stelle etwas genauer darauf eingegangen. Da es noch keine offizielle deutsche Übersetzung des Buches gibt, sind alle Passagen von der Autorin des Artikels übersetzt worden.

Philippe de Villiers besucht als Student Jacques Chapsal, seinen ehemaligen Professor der Politischen Wissenschaften, der während ihrer Unterhaltung überraschend Besuch von seinem Kollegen und Freund, dem Professor für moderne Geschichte Jean-Baptiste Duroselle, Autor eines Grundlagenwerks der Internationalen Beziehungen,   – dem Duroselle, den damals jeder Student kannte   – erhält. De Villiers darf bleiben und erhält Einblick in die Entstehungsgeschichte der Memoiren Jean Monnets.

Chapsal fragt Duroselle: «Und, was machen diese Memoiren? Geht es voran?»
Duroselle: «Ja. Die Studenten arbeiten hart daran. Wir haben die Arbeit aufgeteilt.»
Chapsal: «Das ist ja sicher wichtig für die Stiftung und für ihr Renommee in den USA.»
Duroselle: «Ja, aber noch viel wichtiger, lieber Jacques, ist es für die Vereinigung Europas. Sie braucht einen neuen Anstoss, neuen Elan.»
Bei anderer Gelegenheit sagt der französische Diplomat und Politiker Jean François-Poncet: «Die Memoiren Jean Monnets sind ‹die kleine rote Bibel der Vereinigung Europas›, die wir so dringend brauchen.»11

Wer wollte dieses Buch?

In diesem Zusammenhang stellt Philippe de Villiers drei Fragen: Wer hat diese Memoiren in Auftrag gegeben? Wer hat sie bezahlt? Wer hat sie geschrieben?12

An dieser Stelle des Buches wird deutlich, wie unterschiedlich man an die Beantwortung solcher Fragen herangehen kann. Im umfangreichen Referenzwerk, der von Eric Roussel verfassten Biographie Jean Monnets,13 werden Namen über Namen genannt. Menschen, mit denen Monnet in Kontakt war. Aber wer waren diese Leute? Welche Funktionen übten sie aus? In welche Netzwerke waren sie eingebunden? Welche Interessen verfolgten sie? In wessen Diensten standen sie? Von wem wurden sie bezahlt?

Dem ist de Villiers nachgegangen, hat die Zahlungsbelege gefunden und ist zu dem Ergebnis gekommen: Die US-Amerikaner haben das Werk in Auftrag gegeben und bezahlt. Dazu muss man Hintergrundwissen haben und den Mut, es offenzulegen. De Villiers beweist, dass die Ford Foundation als Geldgeber nicht einfach nur die Ford Foundation war, sondern einer der Geldverteiler der CIA. Wer hat die Memoiren verfasst? Duroselle als leitender Professor verteilte die Arbeit an eine Gruppe von Studenten. Pierre Gerbet, Eric Westphal, André Kaspi, Richard Mayne. «Es funktionierte wie eine Maschine, die Nachforschung, Erzählung und Schreiben herstellt.»14 Jean Monnet selbst interessierte sich kaum für das Werk. Geschrieben wurde es letztlich von François Fontaine, einem Romanautor, der im Römischen Reich die Vorankündigung einer vollendeten Europäischen Union sah.15

Wir haben bei unseren eigenen Nachforschungen16 festgestellt, dass die oben genannten Autoren fester Bestandteil der «Monnet-Forschung» sind. Sie werden immer wieder zitiert   – insbesondere zitieren sie sich gegenseitig   –, wenn man sie konsultiert, wird man im Kreis herumgeschickt.

EU eine Etappe auf dem Weg zur Welt-Governance?

Nur der letzte Abschnitt der Memoiren Jean Monnets stammt von ihm selbst. Und da erschliesst sich nach Philippe de Villiers das Geheimnis seiner Intentionen: Die Europäische Gemeinschaft ist kein Ziel an sich. Wichtig ist, dass die alten Nationen von gestern mit ihrer jeweiligen Souveränität nicht mehr der Rahmen sein sollen, in dem die aktuellen Probleme gelöst werden. Die Gemeinschaft als solche ist nur eine Etappe auf dem Weg zu Organisationsformen der Welt von morgen. Da erhebt sich dann in der Sicht Philippe de Villiers die Welt-Governance, Globalia, die von allen Attributen wie Souveränität, Demokratie und verschiedenen Völkern «befreit» ist. Der Traum vom planetarischen Management, die Beherrschung der Menschheit durch die Technik, durch einen allumfassenden Markt in einen dauerhaften Frieden gehüllt und eine grenzenlose individuelle Freiheit garantierend.17 «Weicher, aufgeklärter Despotismus», sagte Jacques Delors zustimmend dazu.18

Das Buch Philippe de Villiers’ hat bereits viele Leser gefunden. Der Autor tritt in vielen Fernsehsendungen auf und hält den hinterhältigen Fragen vieler Journalisten auf beeindruckende Weise stand. Das Presseecho reicht von «das ist alles nicht neu» über «Verschwörungstheorie» bis «Unwahrheit». Philippe de Villiers zeigt auf, wer die wirklichen Verschwörer sind, wer ein Interesse daran hat, dass die Wahrheit im dunkeln bleibt, und welches die Interessen, Ziele und Beweggründe der europäischen Vereinigung sind und waren. Ein äusserst lesenswertes Buch, hinter das die Geschichtswissenschaft nicht mehr zurückgehen kann.
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1    In der Sendung nach 16,5 Minuten
2    de Villiers, Philippe. J’ai tiré sur le fil du mensonge et tout est venu. Paris Fayard, 2019, S.19 (Deutsche Übersetzung des Titels, R. M-H.)
3    ebd., S.20
4    ebd.
5    «La France libre» [Das freie Frankreich]. De Gaulle hatte am 18. Juni 1940 nach der Niederlage Frankreichs gegen Nazideutschland alle Franzosen von London aus, wohin er mit einer Handvoll Gleichgesinnter geflüchtet war, zum Widerstand aufgerufen und gründete dort in der Folge eine Exilregierung.
6    Aus einem Brief Monnets an Hopkins, zitiert in: de Villiers, Philippe. S.112
7    Bracher, Andreas. Europa im amerikanischen Weltsystem. Bruchstücke zu einer ungeschriebenen Geschichte des 20. Jahrhunderts. 2001
8    «Moloch EU und Strippenzieher Jean Monnet» (Teil 1). In: Zeit-Fragen Nr.38 vom 27.9.2010
und «Jean Monnet als Sondergesandter des amerikanischen Präsidenten Roosevelt» (Teil 2).
In: Zeit-Fragen Nr.25 vom 20.6.2011
9    Monnet, Jean. Mémoires. Fayard 1976
10    de Villiers, Philippe. S.29
11    ebd., S.32. Jean François-Poncet (1928  –2012) war ein französischer Diplomat, Politiker und ehemaliger Aussenminister Giscard d’Estaings. [«Rote Bibel» in Anlehnung an die «Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung»]
12    ebd., S. 33
13    Roussel, Eric. Jean Monnet. Fayard, 1996
14    de Villiers, Philippe. S.37
15    ebd., S.38
16    siehe Fussnote 8
17    de Villiers, Philippe. S.128f.
18    ebd., S.129. Jacques Delors war ein sozialistischer französischer Politiker und von 1985 bis 1995 Präsident der Europäischen Kommission.

«Monnet wollte ein Europa aufbauen, das den amerikanischen Zielen entsprach   – den institutionellen, kommerziellen und kulturellen.» (de Villiers, S. 117)

«Was in diesem grundlegenden Chaos auffällt, ist die Geheimhaltung bei der Abfassung der Texte; die Protagonisten schreiben sich ausserhalb des Rahmens der Institutionen; Schuman gestand später: ‹Es war Jean Monnet, der mit seinen Mitarbeitern in einem kleinen Hotel in der Rue de Martignac, in wenigen Monaten ohne das Wissen der Öffentlichkeit oder gar der Regierung, die Idee der Gemeinschaft für Kohle und Stahl entworfen hat.›» (de Villiers, S. 134)

«Diese Governance arbeitet seit dreissig Jahren daran, nicht etwa ‹Europa aufzubauen›   – das heisst, die historische Kontinuität einer Zivilisation zu sichern   –, sondern im Gegenteil, alles zu dekonstruieren, um seine emotionalen Gemeinschaften zu untergraben und ihre grundlegenden Grenzen und Orientierungspunkte zu vernichten. Es geht nicht darum, eine ‹Europazität› aufzubauen, sondern eine ‹Globalität›, einen geschichts- und formlosen weiten Spielplatz, der von austauschbaren Menschen bevölkert ist.» (de Villiers, S. 218)

Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2019/nr-10-23-april-2019/ich-habe-an-einem-faden-des-luegengespinstes-gezogen-und-es-ist-alles-ans-licht-gekommen.html