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Wieder Bücher lesen!

Eine Erinnerung an Peter Scholl-Latour
von Karl-Jürgen Müller, 21.03.2023 - übernommen mit Dank von zeit-fragen.ch
27. März 2023
Peter Scholl-Latour hat sehr früh vorausgesehen, was heute auf der Tagesordnung steht: den Übergang zu einer neuen Weltordnung. Im 2009 erschienenen Buch «Die Angst des weissen Mannes. Ein Abgesang» ist im Klappentext zu lesen: «Fünfhundert Jahre lang hat der ‹weisse Mann› die Welt beherrscht. […] Diese Epoche westlicher Vormacht gehört endgültig der Vergangenheit an.

Die Bilder sind grauenhaft. Derzeit sind sie von der fast völlig zerstörten Stadt Bachmut (so der ukrainische Name) beziehungsweise Artjomowsk (so der russische Name) zu sehen. Jeder Krieg ist grauenhaft, auch der in der Ukraine. Wir werden tagtäglich mit diesem Grauen konfrontiert. Aber absurderweise nicht, damit wir alles Menschenmögliche für ein Ende dieses Grauens tun. Sondern um uns kriegswillig zu machen. Denn die Schuldigen für das Grauen sollen schon vor einer gründlichen Untersuchung feststehen. Und sie sollen bekämpft und besiegt werden. Wir, die Guten, gegen die Bösen. Dann erst, so wird uns gesagt, sei das Grauen vorbei. Es gibt nur Schwarz oder Weiss. Und damit wir ja nicht zu viel nachdenken, folgt eine Propaganda-Welle der anderen, werden mit Texten und Bildern unser Verstand und unser Gefühl betäubt. Echtes Mitgefühl kann so nicht entstehen.

Ich stehe vor meinem Bücherregal und habe mich entschieden, heute nicht tagesaktuell sein zu wollen, sondern Bücher zu empfehlen. Nur von einem Autor: Peter Scholl-Latour.

Peter Scholl-Latour lebte vom 9. März 1924 bis zum 16. August 2014. Er war Journalist und Buchautor. Viele seiner Bücher hat er in eigenen Fernsehreportagen verarbeitet. Er hat mehr als 30 Bücher geschrieben, hat viel Anerkennung erfahren für seine Arbeit, aber auch starken Gegenwind   – bis hin zum Versuch, ihn ins politische Abseits zu stellen.

Ich empfehle es sehr, seine Bücher wieder hervorzuholen, sie erneut beziehungsweise ein erstes Mal zu lesen. Meine Behauptung: Das ist viel sinnvoller als der alltägliche Mainstream.

Ich werde nicht ausführlich auf die empfohlenen Bücher eingehen. Lesen muss man sie selbst. Aus einem hat Zeit-Fragen in seiner ersten Ausgabe nach dem 24. Februar 2022 ausführlich zitiert: «Der Fluch der bösen Tat. Das Scheitern des Westens im Orient». Es war Scholl-Latours vorletztes, posthum erschienenes Buch und stand vom 22. September bis zum 19. Oktober 2014 auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Heute wäre dies wohl nicht mehr möglich.

«Der Fluch der bösen Tat»

Der Titel «Der Fluch der bösen Tat» könnte auch die Überschrift für das Grauen des Krieges in der Ukraine sein. Es reicht hier, aus dem Text auf der Buchrückseite zu zitieren:
«Es gärt und brodelt überall: Syrien und der Irak versinken im grausamen Bürgerkrieg aller gegen alle, in der Türkei ringen islamistische und säkulare Kräfte um die Vormacht. Ägypten ist im Daueraufruhr, und auch am Nordrand dieser unruhigen Weltgegend, im Kaukasus und in der Ukraine, ist die Lage explosiv. Mit der ihm eigenen Scharfsicht beleuchtet Peter Scholl-Latour eine Region, über der nach jahrzehntelanger politischer und militärischer Intervention des Westens ein Fluch zu liegen scheint   – der Fluch der bösen Tat heilloser Einmischung.»

Schon 2006   – ein Jahr vor der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin in München   – hatte Peter Scholl-Latour «Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam» veröffentlicht. Dort ist auf Seite 182 zu lesen: «Noch heute fragen sich die politischen Analysten in Moskau, aus welchem Grunde die USA die gewaltigen Zugeständnisse, die Gorbatschow der westlichen Allianz durch seine Zustimmung, ja, seine stillschweigende Förderung der deutschen Wiedervereinigung gewährte, in keiner Weise honoriert haben. Das Gegenteil war der Fall. Die Nato hatte sich auf die zerbrechende Sowjetunion wie auf ein waidwundes Tier gestürzt, als der letzte Generalsekretär der KPdSU seine Bereitschaft zur Kapitulation zu erkennen gab. Die sowjetische, dann die russische Führung wurde systematisch über den Tisch gezogen. Sämtliche Zusagen wurden widerrufen. Wie eine Art ‹Juggernaut›1 […] bewegte sich der erdrückende militärische Apparat der Nato gen Osten.»

2007 erschien Peter Scholl-Latours Buch «Zwischen den Fronten. Erlebte Weltgeschichte». Auch hier soll lediglich aus dem Klappentext zitiert werden:
«Seine jüngsten Reisen in die USA, nach China und Russland, in den Nahen und Mittleren Osten nimmt Peter Scholl-Latour zum Anlass für einen sehr nachdenklichen, skeptischen Blick auf den Zustand unserer Welt. Immer wieder beschwört er den Niedergang der europäischen Kolonialreiche herauf, den er an vielen Fronten selbst erlebt hat, wenn er auf die Rolle Amerikas als Weltmacht zu sprechen kommt. Die Vergänglichkeit von Imperien zieht sich wie ein Leitmotiv durch dieses Buch. Auch die Zukunft Europas, dem es an Visionen ebenso fehlt wie am Bewusstsein seiner historischen Identität, betrachtet Peter Scholl-Latour mit wenig Zuversicht.»

«Der Weg in den neuen Kalten Krieg»

Ein Jahr später, 2008, erschien das Buch «Der Weg in den neuen Kalten Krieg». Hier ist im Klappentext zu lesen: «Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion trat der Westen als Sieger der Geschichte auf. Nato-Ost-Erweiterung, Balkankriege, Afghanistan-Einmarsch oder Irak-Feldzug   – sie alle wurden ohne Rücksicht auf Russland oder andere nicht-westliche Mächte in Szene gesetzt. Peter Scholl-Latour hat diese Muskelspiele von Anfang an mit Skepsis beobachtet. Eindringlich beschreibt er den Weg in einen neuen, diesmal multipolaren Kalten Krieg zwischen Washington und seinen europäischen Partnern auf der einen Seite, Moskau, Peking und der islamischen Welt auf der anderen Seite. Diese Auseinandersetzung kann der Westen nur verlieren. […] Zusammenhänge, die die Medien übersehen oder unterschlagen   – hier werden sie deutlich.»

Peter Scholl-Latour hat sehr früh vorausgesehen, was heute auf der Tagesordnung steht: den Übergang zu einer neuen Weltordnung. Im 2009 erschienenen Buch «Die Angst des weissen Mannes. Ein Abgesang» ist im Klappentext zu lesen: «Fünfhundert Jahre lang hat der ‹weisse Mann› die Welt beherrscht. […] Diese Epoche westlicher Vormacht gehört endgültig der Vergangenheit an. Der ‹weisse Mann› ist auf dem Rückzug, die ehemaligen Kolonialvölker drängen nach vorn   – demographisch, ökonomisch, machtpolitisch.»

«Die Welt aus den Fugen»

Am Ende seines 2012 erschienenen Buches «Die Welt aus den Fugen. Betrachtungen zu den Wirren der Gegenwart» ist ein Interview abgedruckt, das der Linken-Politiker Gregor Gysi mit Peter Scholl-Latour geführt hat. Gysi fragt: «Gibt es in Ihren Büchern und Reportagen eigentlich eine Botschaft, die Sie transportieren möchten?» Die Antwort lautet: «Ich habe meine Tätigkeit niemals als das Überbringen einer Botschaft verstanden. Ich habe mich darauf beschränkt, die Dinge möglichst wirklichkeitsnah zu beschreiben. Ich glaube, das reicht schon. Das Wort ‹Wahrheit› möchte ich dabei gar nicht in den Mund nehmen. Aber wenn ich schon eine Botschaft haben sollte, dann ist es diese: Wir unterliegen einer so massiven Desinformation, dass ich mit meinen Büchern dagegen antreten möchte.»

Peter Scholl-Latours Bücher haben eine Gesamtauflage von 10 Millionen Exemplaren erreicht. Sein 1979/1980 über Indochina erschienenes Buch «Der Tod im Reisfeld» war mit 1,3 Millionen Exemplaren bis 2014 das meistverkaufte Sachbuch Deutschlands seit 1945. Als Journalist, Buchautor, Filmemacher und vor allem als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens wurde er vielfach mit Ehrungen ausgezeichnet.

Heute frage ich mich, wie viele Menschen (in Deutschland und anderswo) sich noch an Peter Scholl-Latour und seine Bücher erinnern. Und wie viele bereit sind, seine Bücher wieder hervorzuholen, gründlich zu lesen und angemessene Schlüsse daraus zu ziehen. Andere, vernünftigere, menschenfreundlichere, völkerverbindende   – anders als das, was unsere -Politik uns vorlebt. Und die Erkenntnis ernst zu nehmen, dass wir uns mitten im Übergang zu einer neuen Weltordnung befinden, für die das Wort «Zeitenwende» tatsächlich passt.  •
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1 Juggernaut ist ein metaphorischer Begriff aus dem Englischen. Er steht für eine unaufhaltsame Kraft, die alles vernichtet, was ihr im Wege steht. Der Wortursprung liegt bei den riesigen, viele Tonnen schweren Prozessionswagen (Ratha), die während einer bestimmten hinduistischen Prozession (Ratha Yatra) zu Ehren des Gottes Jagannatha (Vishnu) verwendet werden. Einmal in Fahrt gebracht, sind diese Wagen von Menschen kaum zu stoppen.

Peter Scholl-Latour «konnte   – dank seines enzyklopädischen Wissens und hervorragendenden Gedächtnisses   – einen einzigartigen Bogen schlagen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Durch Rückgriffe auf Geschichte und Religion Ereignisse von heute einordnen. Egal, zum wievielten Male er in ein Land reiste, stets hat er sich vorbereitet, als besuchte er es zum erstenmal. […] Peter Scholl-Latour hat sich seinen unabhängigen, eigenwilligen Geist bewahrt   – politisch korrekt zu sein, das hat ihn nicht interessiert […]. Seine Maxime war stets, nur über das zu berichten, was er selbst vor Ort gesehen und erfahren hatte.»

(Cornelia Laqua. Epilog zu Peter Scholl-Latour. Mein Leben; 2015 (posthum),
S. 432, ISBN 978-3-570-00508-8)

Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-6-21-maerz-2023/wieder-buecher-lesen
Mit freundlicher Genehmigung von zeit-fragen.ch

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