Wegweiser in Zeiten des Krieges
«Von Reisen in die Russische Föderation wird abgeraten», heisst es auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes in Berlin. Die Schirmherrschaft der deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock für das deutsch-russische Themenjahr «Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung 2020 –2022» ruht. Politisch, wirtschaftlich, kulturell – im Bereich von Sport, Bildung und Wissenschaften – werden die Beziehungen von USA und EU zu Russland gekappt. Selbst die Schweiz, die wegen ihrer Neutralität weltweit geschätzt wurde, hat gerade diese Neutralität mit der Übernahme der Sanktionen aufgegeben.
Russische Sender werden abgeschaltet. Eine deutsch-russische Schule in Berlin wird mit einem Brandsatz beworfen. Ein Schüler wird aufgefordert, darüber nachzudenken, ob es noch angemessen sei, dass er ein T-Shirt mit der Aufschrift «St. Petersburg» trägt. Eine Klinik in München erklärt, keine russischen Patienten mehr behandeln zu wollen. In Mailand wird ein Hochschulseminar über den russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski vom Lehrplan abgesetzt. Hochschulen, Sportvereine, Museen werden aufgefordert, ihre Kontakte zur russischen Seite zu «überprüfen». Das Deutsch-Russische Museum in Berlin – errichtet zum Gedenken an die 27 Millionen russischen Opfer des Zweiten Weltkriegs – hängt die russische Fahne ab und streicht den Schriftzug «Deutsch-Russisch» durch.
Es geht um die Ukraine. Die westliche Welt spricht von «Putins Krieg» und einem «russischen Überfall». Moskau, das seinen Truppen den Marschbefehl in die Ukraine gegeben hat, spricht von einer «Spezialoperation». Wer die Geschichte der letzten 30 Jahre verfolgt hat, weiss, dass es um mehr als die Ukraine geht. Es geht darum, ob der westliche US-geführte Block aus Nato, EU und Partnern andere geopolitische Zentren auf der Erde respektiert oder ob dieser «westliche Block» sich dem US-Plan unterwirft, als «einzige Weltmacht» über die Erde zu herrschen.
Dieser Anspruch wird seit Jahrzehnten in anderen Teilen der Erde mit Kriegen und Krisen, mit Interventionen, militärisch und mit «soft power», mit Besatzung, Angriffen, Wirtschaftssanktionen und anderen Mitteln durchgesetzt. Nun ist dieser Krieg in Europa angekommen und richtet sich gegen die Russische Föderation. Die marschierte am 24. Februar in die Ukraine ein, um das Land zu entmilitarisieren und die nazistischen Kräfte in Militär und Politik zu vertreiben.
Du siehst nur, was du weisst
Ein Fotografenkollege sagte einmal zu mir, sein Arbeitsmotto sei: «Du siehst nur, was du weisst.» Das bedeutet, dass man sich vorbereiten muss, wenn man berichten will, das gilt vor allem für Kriege, Krisen und Konflikte, die aus vielen Ebenen und komplizierten Zusammenhängen entstehen. Darüber muss man sich im Vorfeld kundig machen, muss sich über die Geschichte, die Akteure informieren. Nur dann kann man wirklich sehen, im Sinne von verstehen, was geschieht, und gut darüber berichten.
Was wissen wir also über die Ukraine? Was ist die Geschichte dieses Landes, was ist zwischen Russland und dem US-geführten westlichen Block dort in der Ukraine geschehen? Was für Interessen haben dort – vereinfacht gesagt – Ost und West?
Seit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes 1991 forderte Moskau Sicherheitsgarantien und dass die Nato sich nicht nach Osten ausweiten solle. Ebenso lange hat die Nato sich den Forderungen verweigert und rückte immer näher an die Grenzen Russlands heran. Ein Land nach dem anderen entlang der Grenze zu Russland wurde gelockt, sich wahlweise EU oder Nato anzuschliessen. Westliche Medien berichteten zumeist in westlicher Lesart über die Entwicklung. Danach konnten es die osteuropäischen Staaten – die ehemals zum Warschauer Pakt gehörten und heute alle Angst vor Russland haben – es gar nicht abwarten, den westlichen Bündnissen beizutreten. Schliesslich hatten alle Angst vor Russland und wollten doch nur Freiheit und Demokratie, die von EU und Nato verteidigt würden.
Heute stehen Nato-Truppen überall dort, wo sie, aus Sicht Russlands, nicht sein sollten. Seit 1999 ist die Nato in Polen, Tschechien und Ungarn. Seit 2004 in Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien. 2009 kamen Albanien und Kroatien hinzu, 2017 folgte Montenegro und 2020 Nordmazedonien. Die Ukraine und Georgien sollten die nächsten neuen Nato-Mitglieder werden. Moskau drängte weiter auf ein Sicherheitsabkommen und forderte – wie es bis 2014 auch in der ukrainischen Verfassung stand – die Neutralität der Ukraine. Nach dem Maidan-Putsch 2014 – im Westen spricht man von einer «Revolution» – übernahm Russland – wieder – die Kontrolle auf der Krim. Völkerrechtlich wurde es vom Westen als Annexion eingestuft. Ton und Aktion zwischen Nato und Russland verschärften sich. Die Nato begann, ukrainische Truppen zu trainieren und Waffen zu bunkern. Russische Medien wurden als «Desinformationskanäle» verfolgt und für genauso gefährlich für die «westlichen Demokratien» eingestuft, wie die Medien des «Islamischen Staates im Irak und in der Levante» (IS).
In dieser Zeit geschah auch etwas, was wir in Deutschland oder in anderen europäischen Ländern nicht wirklich wahrnahmen: Die Zusammenarbeit zwischen EU und Nato wurde immer enger und schliesslich so eng, dass man heute – jenseits des EU-Parlaments – Nato und EU kaum noch unterscheiden kann. Die Chefs beider Organisationen, Ursula von der Leyen und Jens Stoltenberg, treten zunehmend im Doppelpack auf Veranstaltungen der jeweils anderen Organisation auf, und ihre Erklärungen sind sehr ähnlich.
Die Weigerung des Westens
Für das Jahr 2022 sind zehn Nato-Manöver entlang der russischen Grenze zwischen Ostsee und Schwarzem Meer geplant, an denen sich auch die Ukraine beteiligen sollte und wollte. Soldaten und Kriegsmaterial waren schon zu den grossen Manövern «Defender 2020» und «Defender 2021» in den Osten transportiert worden. Als Reaktion darauf begann Moskau Ende 2021 ein grosses Manöver entlang seiner Aussengrenzen. Die USA warnten vor einem russischen Einmarsch in die Ukraine, doch niemand kam den politischen Forderungen Moskaus entgegen, eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur für Europa zu schaffen. Konkrete Pläne, die Moskau vorlegte, wurden vom Westen abgelehnt. Das Mass war voll, Moskau war nicht länger bereit, sich zu unterwerfen und demütigen zu lassen. Am 24. Februar marschierten die russischen Truppen in die Ukraine ein.
Der westliche Block im UN-Sicherheitsrat verurteilte Russland und nannte Putin den Aggressor. Die Uno-Vollversammlung teilte mit einer Resolution «Verurteilung der Aggression in der Ukraine» mehrheitlich diese Ansicht. Die russische Sicht der Entwicklung wurde von Anfang an so sehr denunziert, dass sie in der europäischen, vor allem bei der deutschsprachigen Öffentlichkeit kaum vorkommt. Das liegt auch daran, dass russische Medien wie RT Deutsch oder Sputnik News in Deutschland und Europa abgeschaltet wurden.
Dabei hatten Politiker und Militärs in Ost und West – vor allem auch in den USA – seit langem vor dieser Entwicklung gewarnt. Die Ukraine, das Herzstück Europas, umstritten seit Generationen, hätte für Ost und West von Vorteil sein können, hätte man dem Land Neutralität zugebilligt. Doch die US-Aussenpolitik orientiert sich weiter an Zbigniew Brzezinski, der sagte, dass die Ukraine niemals Partner von Russland sein solle. Heute ist die Ukraine Synonym für Krieg. Es ist der Beginn eines weiteren, grösseren Krieges, in dem es um eine neue Weltordnung gehen wird. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow sagte vor wenigen Tagen in Moskau, Russland sei das «letzte Hindernis» für den Westen, um China zu unterwerfen.
Die Schock-Strategie
Lange hatte es so ausgesehen, als konzentrierten sich die USA auf die Gegnerschaft mit China und bereiteten sich auf eine mögliche militärische Konfrontation im Südchinesischen Meer vor. Doch die Kriegsstrategen in Washington hatten noch einen anderen Plan, der zunächst weitere Konkurrenten in Krieg verwickelt. Die USA greifen China nicht direkt, sondern über Russland an und bedienen sich dafür der europäischen Staaten. Washington muss kaum eigene Soldaten einsetzen, verkauft den Europäern US-amerikanische Rüstungsgüter und destabilisiert die konkurrierende europäische Wirtschaft durch einen Wirtschaftskrieg, der sich gegen Russland und China richten soll, Europa aber massiv schaden wird.
Deutschland, das wie kein anderes Land in Europa von der Kooperation mit Russland profitiert hatte, ist umgefallen. Nicht erst seit dem Fall der Mauer und dem Beginn der Clinton-Administration 1993 hat Washington daran gearbeitet, den eurasischen Kontinent, auf dem Russland und Deutschland wirtschaftliche und politische Schlüsselfunktionen haben, zu spalten. Man kann darüber spekulieren, ob die «Zeitenwende» in Deutschland auch unter der Merkel-Regierung möglich gewesen wäre.
Tatsache ist, dass es die neue «Ampel-Regierung» aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten war, mit der die «Zeitenwende» – orchestriert von massiver anti-russischer Propaganda – vollzogen wurde. Diese Regierung war erst drei Monate im Amt, als sie Deutschland, dessen friedensorientierte Bevölkerung nach Beginn des Krieges in der Ukraine quasi unter Schock stand, um 180 Grad in der Aussen- und Friedenspolitik herumrissen. Kein Wort von eigenen politischen Fehlern, die den langjährigen Partner Russland zu diesem Schritt provoziert hatten. Kein Innehalten, kein Dialog, keine Gespräche, keine Diplomatie.
Die Täuschung
«Bereit, weil ihr es seid», das war der Wahlspruch der Grünen mit ihren Spitzenkandidaten Baerbock und Habeck. Der heutige Kanzler Olaf Scholz und die SPD warben mit dem Slogan «Respekt für dich». Man werde die ökologische Modernisierung der Wirtschaft vorantreiben, um die Welt vor dem Klima-Kollaps zu retten. Mehr soziale Gerechtigkeit und Anerkennung, mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft und ein starkes Europa wurden versprochen.
Heute wissen wir, diese Politiker haben die Öffentlichkeit mit schönen Worten und Ankündigungen getäuscht. Die neue Regierung ist bereit zum Krieg gegen Russland, nicht für Freundschaft und Völkerverständigung, nicht für Respekt oder Gerechtigkeit.
Ein Trommelfeuer von einseitigen Wirtschaftssanktionen geht auf Russland nieder, die – weil sie einseitig erfolgen – nicht den Vorgaben der Uno-Charta entsprechen. «Waffen, Waffen, Waffen» für die Ukraine fordert nicht nur Manfred Weber, christdemokratischer Abgeordneter im Europaparlament. Die Selbst-Verpflichtung bisheriger Bundesregierungen, keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern, ist Makulatur. Deutschland schickt Waffen in die Ukraine, Kämpfer, Söldner auch aus Deutschland ziehen gleich hinterher. Noch im Juni 2020 legten die Grünen dem Bundestag einen Antrag vor, in dem sie den Abzug der US-Atomraketen aus Büchel in der Eifel und ein Ende der «nuklearen Teilhabe» Deutschlands forderten. Nun erklärt die Regierung ihren Anspruch auf «nukleare Teilhabe», obwohl der Bundestag schon vor Jahren das Gegenteil beschlossen hat. Neue Kampfjets werden in den USA bestellt, um die Atombomben auch ins Ziel transportieren zu können.
Die deutsche Aussenministerin spricht nicht über diplomatische Initiativen, um den Krieg zu beenden. Baerbock will «Russland ruinieren» und auch eine neue China-Strategie erarbeiten. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland arbeitet das Aussenministerium «federführend» an einer «Nationalen Sicherheitsstrategie». Deutschland sei «bereit» zu einem stärkeren internationalen Engagement für Frieden, so die Ministerin. Man werde die «Aussenpolitik mit einem klaren Wertekompass in der Hand» gestalten. Und alle sollen mitmachen: Die Parteien, der Bundestag, Expertinnen und Experten sowie zivilgesellschaftliche Akteure sollen mit nationalen und internationalen Partnern zusammenarbeiten. Dann will Berlin die neue «Sicherheitsstrategie» mit den Plänen von EU und Nato verknüpfen.
Die EU, die vor zehn Jahren noch den Friedensnobelpreis erhielt, liefert Waffen und nutzt dafür einen Fonds, der sich «EU Peace Facility» nennt, EU-Friedensfazilität. Eine einfache Möglichkeit, Kredite für den Frieden aufzunehmen, kommt zum ersten Mal zum Einsatz für den Krieg in der Ukraine.
Auch die Nato liefert Waffen. Tausende Kämpfer aus Nato-Staaten ziehen als Söldner den Flüchtlingsströmen aus der Ukraine entgegen. In den USA haben sich beim ukrainischen Konsulat schon 20 000 gemeldet. Einer dieser Freiwilligen sagt der Deutschen Welle (DW) in New York: «Ich möchte den Schwachen helfen, die Hilflosen verteidigen und ihnen Mut machen.» Die DW begleitete den Mann in ein Geschäft für Kampfausrüstung, wo er sich eindeckte. Er wolle den Menschen «die Angst nehmen und dabei helfen, Flüchtlinge sicher aus dem Land zu bringen».
Wegweiser in Zeiten des Krieges
Wie können wir trotz Kriegsgeschrei im Gespräch bleiben? Wie können wir uns positionieren, um Propaganda, Verwirrung und Feindbildern zu widerstehen? Gibt es Wegweiser in Zeiten des Krieges?
Es ist wichtig, den Konflikt zu verstehen, zu analysieren. Hilfreich ist es, die verschiedenen Ebenen anzusehen: international, regional, lokal. Wichtig ist auch, den Konflikt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Da es sich um einen internationalen Konflikt zwischen Russland und dem US-geführten westlichen Block mit Nato und EU handelt, sind sie und ihre jeweiligen Interessen die Akteure auf der internationalen Ebene. Ein weiterer wichtiger Akteur ist China, der sich mit Russland über die Schanghai Organisation für Kooperation (SCO) hinaus verbündet hat.
Regional sind die Interessen und Perspektiven betroffener Staaten, also der Ukraine, Russlands und von deren Nachbarstaaten und Regionen, zu beachten. Im Norden sind es die baltischen und skandinavischen Staaten und Bündnisse der Ostsee- und Arktisregion. Im Süden sind es die Türkei und die Schwarzmeerregion, einschliesslich des Mittelmeeres.
Lokal haben wir einen Konflikt in der Ukraine zwischen dem Donbass und Kiew und den Krieg, der im Südosten des Landes seit 2014 herrscht.
Zum Verständnis der unterschiedlichen Interessen und Perspektiven empfiehlt sich die Anwendung der «sieben journalistischen W‑Fragen». Dabei ist zu beachten, dass diese Fragen immer in mindestens zwei Richtungen gestellt werden müssen:
- Wer (hat etwas getan) – wer hat es unterlassen, etwas zu tun?
- Was (hat er denn getan) – was hat er unterlassen?
- Wo (hat er es getan) – wo sitzen die Akteure?
- Wann (hat er es getan) – Entwicklung der Eskalation?
- Wie (hat er es getan) – militärisch oder anders?
- Warum (hat er es getan) – der Hintergrund beider/aller Akteure?
- Woher (ist die Information) – was sind die Quellen?
Es ist wichtig, die Vorgeschichte des Konflikts politisch, historisch, gesellschaftlich zu erforschen. Dabei geht es auch um die Frage: Wer ist mit wem verbündet, wer ist mit wem verfeindet usw.? Und man wird feststellen, dass Bündnisse und Feindschaften sich auch verändern können, wenn die Interessen der Akteure sich verändern.
In Zeiten des Krieges werden allerdings die journalistischen Regeln von Medien meist nicht eingehalten. Medien werden zur Kriegspartei und berichten zumindest in den involvierten Staaten und Bündnissen einseitig und verbreiten Propaganda. Daher empfiehlt es sich, in die Medien anderer Länder und auf anderen Kontinenten zu blicken. Das fördert das Verständnis über deren Blick auf das Geschehen. Und wir lernen etwas über uns und unsere Perspektiven. Der Blick auf die Perspektive anderer ist ein gutes Korrektiv.
Analyse, Diskussion über den Krieg und seine Ursachen sollten im Gespräch, im Austausch mit möglichst vielen stattfinden. Zeitungsartikel, Texte, Bücher oder Vorträge schärfen unseren Blick, und wir lernen, über das, was täglich medial auf uns einwirkt, hinauszusehen. So können wir Wege finden, um die Isolation und die Ohnmacht angesichts der vorherrschenden Propaganda und Feindseligkeiten zu überwinden.
Den Blick weiten
Da Russland und der USA/EU/Nato-Block sich auch in anderen Teilen der Welt gegenüberstehen, sollten wir nach Asien, in den Nahen und Mittleren Osten, nach Afrika und Latein- und Südamerika sehen und nachforschen, wie das Geschehen um die Ukraine dort wahrgenommen wird. Auf den anderen Kontinenten haben die Völker Europa und die USA als Kolonialmächte und «Imperien» kennengelernt. Sie haben die westliche Herablassung und Arroganz und oft über Jahrhunderte westliche Einmischung erfahren. Eine Einmischung, die Selbstbestimmung und gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklung verhinderte, die Ressourcen und Menschen ausbeutete und die Länder instabil und verwüstet hinterliess. Um diese Länder dann hochmütig als «failed states», gescheiterte Staaten, einzustufen und sie in finanzielle Abhängigkeit von internationalen Finanzinstitutionen zu drängen. Der «Fluch der bösen Tat» der permanenten Einmischung, wie Peter Scholl-Latour es in seinem gleichnamigen Buch exzellent beschrieben hat.
Aus den anderen Kontinenten klingt vieles anders als in unseren täglichen Nachrichten. Dort regte sich Widerspruch gegen Krieg schon lange vor der Ukraine-Krise, weil dort Krieg und Ressourcenplünderung mehr als genug bekannt sind. Stellvertretend für andere Stimmen in Afrika, dem Mittleren Osten oder Asien möchte ich an das Buch «Die offenen Adern Lateinamerikas» erinnern, in dem der Journalist und Schriftsteller Eduardo Galeano aus Uruguay schon vor Jahrzehnten die Folgen von 400 Jahren Kolonialherrschaft beschrieb:
«Sie hinterliessen uns […] Gärten, die zu Wüsten wurden, brachliegende Felder, ausgehöhlte Berge, faules Wasser, lange Karawanen von Unglücklichen, die zu einem frühen Tod verurteilt sind, und leere Paläste voller Gespenster. […] Wir Lateinamerikaner sind arm, weil der Boden, auf dem wir gehen, reich ist.»
Ganz aktuell ist der Widerspruch gegenüber der westlichen Politik lauter geworden. Stellvertretend sei hier eine Erklärung der mexikanischen Regierung genannt, die eine Resolution des EU-Parlaments – gegen die mexikanische Regierung und den Präsidenten Lopez Obrador – mit scharfen Worten zurückweist:
«[…]Mexiko ist ein friedliches Land, das sich für Gewaltlosigkeit entschieden hat, wir sind für Dialog, nicht für Krieg. Wir schicken unter keinen Umständen Waffen in irgendein Land, wie Sie es jetzt tun. […] Und vergessen Sie nicht, dass wir nicht mehr jedermanns Kolonie sind. Mexiko ist ein freies, unabhängiges und souveränes Land. Entwickeln Sie sich weiter, lassen Sie Ihre Interventionsmanie hinter sich, die Sie hinter guten Absichten verstecken. Sie sind nicht die Weltregierung, und vergessen Sie nicht, was Benito Juárez sagte, dieser Gigant Amerikas: ‹Unter den Menschen, wie unter den Nationen, ist die Achtung der Rechte der anderen Frieden.›»
Der Blick auf uns
«Die Waffen nieder» – lautet der Titel eines Buches von 1889, das Bertha von Suttner – die Streiterin für Abrüstung und Frieden – europaweit bekannt machte. Wenige Jahre später wurde in Berlin – das man damals «Zitadelle des Militarismus» nannte – die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG) gegründet. Seit mehr als 100 Jahren gibt es in Deutschland und Europa Friedensbewegungen, und doch sind diese Jahrzehnte voller Kriege gewesen. Warum? Warum wurden sie nicht verhindert? Diese Frage ist wichtig, denn
«es gäbe genug Geld, genug Arbeit, genug zu essen, wenn wir die Reichtümer der Welt richtig verteilen würden, statt uns zu Sklaven starrer Wirtschaftsdoktrinen […] zu machen. Vor allem aber dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Gedanken und Bemühungen von konstruktiver Arbeit abgehalten und für die Vorbereitung eines neuen Krieges missbraucht werden.»
Diese Worte sind einem Interview entnommen, in dem Albert Einstein über den Frieden spricht. Es ist in einem kleinen Buch nachzulesen, das der Diogenes Verlag (1972) mit dem Titel «Warum Krieg?» veröffentlichte. Kern des Büchleins ist ein Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud aus dem Spätsommer 1933. Der Völkerbund hatte Einstein damals aufgefordert – im freien Meinungsaustausch mit einer Person seiner Wahl – ein frei gewähltes Problem zu erörtern. Einstein wandte sich an Sigmund Freud und wählte die Frage, die ihm damals als «die wichtigste Frage der Zivilisation» erschien: «Gibt es einen Weg, die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien?»
Die Fortschritte der Technik machten dies zu einer Existenzfrage, schrieb Einstein an Freud. Alle Bemühungen um ihre Lösung seien «in erschreckendem Masse gescheitert». Einstein stellte sich diese Existenzfrage damals vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges und angesichts des aufstrebenden Faschismus in Europa. Bald nach dem Briefwechsel – der damals übrigens nur in einer Auflage von 2000 Exemplaren verbreitet wurde – begann mit dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg mit furchtbarer Zerstörung und dem Einsatz von Atombomben in Hiroshima und Nagasaki.
Wie kann es sein, dass die europäische Jugend heute weiss, wie man das Klima retten könnte, und doch so gut wie nichts weiss über die Ursachen von Krisen und Kriegen! Warum wurde die Kriegsgefahr in der Ukraine nicht gesehen? Weil wir schlecht informiert waren? Weil wir unseren Nachbarn Russland nicht ernst nahmen? Weil wir Kriege in anderen Teilen der Welt ignoriert haben? Weil wir meinen, wir seien die Guten mit den richtigen Werten?
Ist nicht vielmehr unser Krieg, den der Westen in anderen Ländern mit anderen Akteuren auf verschiedene Weisen ausgetragen hat – um Reichtum, Rohstoffe, Transportwege, Kontrolle zu sichern – zu uns zurückgekehrt?
Was soll man tun?
In Zeiten des Krieges wird erwartet, dass man «die Eigenen» unterstützt, der andere ist der «Aggressor». Als Deutschland 1914 Russland den Krieg erklärte, schwor Kaiser Wilhelm II. die Bevölkerung ein mit den Worten: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.» US-Präsident George W. Bush sagte nach dem 11. September 2001: «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns» und begann den «Krieg gegen den Terror», der bis heute anhält.
Was aber, wenn man sich bei den «Eigenen» nicht einreihen will? Weil man – wie die Schriftstellerin Christa WolfKassandra sagen lässt – weil man sich «nicht von den Eigenen täuschen» lassen will? Und was, wenn man sich überhaupt nicht einreihen will? Oder wenn man die andere Seite versteht, die in den Krieg gezogen ist, obwohl man den Krieg gar nicht will? Eine schwierige Entscheidung ist da zu treffen, die einem niemand abnehmen kann. Welchen Weg kann man gehen, in Zeiten des Krieges?
Ein ganz persönlicher Wegweiser, der mich begleitet, stammt aus einem Kinderbuch. Es erzählt die Geschichte des Mädchens Nuni und von ihrem langen Heimweg vom «Zaun am Ende der Welt». Bei ihrem Weg über Berge, Seen, durch Wälder und die Wüste Alltag wird ihr von den Sternen geholfen. Sie begegnet dem Kalendermann und vielen Tieren, deren Weisheit, Humor, Ängstlichkeit und Zuversicht sie darin bestärken, dass sie sich auf ihr eigenes mutiges Herz verlassen muss.
Das eigene mutige Herz – was kann es uns sagen?
Sieh hin und lass dich nicht in die Irre führen. Hinterfrage die Medienberichte, die uns vermitteln wollen, was in der Ukraine geschieht, was Russland angeblich plant, suche andere Quellen. Sprich mit der Familie, Freunden, Nachbarn und Kollegen darüber, was du über das Geschehen in der Ukraine, aber auch über andere Kriegsschauplätze und Ungerechtigkeiten herausgefunden hast. Weigere dich, Feind zu werden, und halte an der Freundschaft mit Russland und seiner Bevölkerung fest, für die seit Jahrzehnten gearbeitet wurde. Greif ein, wie die Frachtarbeiter am Flughafen in Pisa. Sie fanden heraus, dass in Kisten und Containern, die als humanitäre Fracht für die Ukraine deklariert waren, Waffen transportiert wurden.
In Deutschland ist die Lage schwierig, wer sich nicht einreiht, wird denunziert. In der Schweiz haben Sie die Neutralität zu verteidigen. Die werden Sie nur bewahren können, wenn Sie EU und Nato von Ihrem Land fernhalten. •
* Der Text gibt einen Vortrag wieder, den Karin Leukefeld am 19. März 2022 vor einem Leserkreis von Zeit-Fragen in der Schweiz gehalten hat.
ef. Die freie Journalistin Karin Leukefeld wurde 1954 in Stuttgart geboren und studierte Ethnologie, Islam- und Politikwissenschaften. Seit dem Jahr 2000 berichtet sie aus dem Nahen und Mittleren Osten für Tages- und Wochenzeitungen sowie für den ARD-Hörfunk. 2010 wurde sie in Syrien akkreditiert und informiert seither von vor Ort über den Syrien-Konflikt. Seit Beginn des Krieges 2011 pendelt sie zwischen Damaskus, Beirut und anderen Orten in der arabischen Welt und ihrem Wohnort Bonn. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u. a.: «Syrien zwischen Schatten und Licht – Geschichte und Geschichten von 1916 –2016. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land» (2016, Rotpunkt Verlag Zürich); «Flächenbrand Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat» (2015, 3. überarbeitete Auflage 2017, PapyRossa Verlag Köln). In Kürze erscheint von ihr im selben Verlag «Im Auge des Orkans: Syrien, der Nahe Osten und die Entstehung einer neuen Weltordnung».
Mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitung Zeit-Fragen
Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2022/nr-8-5-april-2022/wegweiser-in-zeiten-des-krieges.html
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