Geht es jedoch um Russland, haben die USA und ihre NATO-Verbündeten jahrzehntelang unter Missachtung genau dieses Grundsatzes gehandelt. Sie haben die Aufstellung ihrer Streitkräfte immer weiter auf Russland zubewegt, sogar bis an dessen Grenzen. Dabei haben sie nicht ausreichend darauf geachtet, wie die russische Führung diesen Vormarsch wahrnehmen könnte, ja sie haben diesen Aspekt locker «übersehen». Hätte Russland vergleichbare Maßnahmen in Bezug auf amerikanisches Territorium ergriffen – zum Beispiel seine Streitkräfte in Kanada oder Mexiko stationiert –, wäre Washington in den Krieg gezogen und hätte diesen Krieg als defensive Reaktion auf das militärische Eindringen einer ausländischen Macht erklärt.
So gesehen ist der Einmarsch Russlands in die Ukraine nicht der ungezügelte Expansionismus eines böswilligen russischen Führers, sondern eine gewalttätige und zerstörerische Reaktion auf die fehlgeleitete Politik des Westens: Es ist der Versuch, um Russlands Westgrenze herum eine Zone ohne offensive Bedrohung durch die USA und ihre Verbündeten zu schaffen. Da der Westen nicht verstanden hat, warum Russland in die Ukraine einmarschiert ist, stützt er sich nun bei existenziellen Entscheidungen auf falsche Prämissen. Damit verschärft er die Krise und läuft möglicherweise schlafwandelnd in einen Atomkrieg hinein.
Diese Argumentation, die ich nun im Detail darlege, basiert auf den Analysen einer Reihe von Wissenschaftlern, Regierungsvertretern und Militärbeobachtern, die ich im Verlauf dieser Darstellung alle genauer vorstellen und zitieren werde. Dazu gehören John Mearsheimer, Stephen F. Cohen, Richard Sakwa, Gilbert Doctorow, George F. Kennan, Chas Freeman, Douglas Macgregor und Brennan Deveraux.
Eine entscheidende Wende
In den Monaten seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat sich die Begründung für Amerikas Engagement geändert. Was ursprünglich als begrenzter, gewissermassen humanitärer Einsatz zur Unterstützung der Ukraine bei der Selbstverteidigung angepriesen wurde, hat sich zu einem neuen, zusätzlichen Ziel verstärkt: Russlands künftige Potenz, einen weiteren Krieg zu führen, soll geschwächt werden.
In der Realität war dieses strategische Ziel aber vielleicht schon von Anfang an vorhanden. Im März, mehr als einen Monat vor der Ankündigung der neuen US-Politik, sagte Chas Freeman, früherer stellvertretender Verteidigungsminister für internationale Sicherheit:
«Alles, was wir tun, anstatt ein Ende der Kämpfe und einen Kompromiss herbeizuführen, scheint darauf abzuzielen, die Kämpfe zu verlängern und den ukrainischen Widerstand zu unterstützen – eine edle Sache, wie ich meine, aber [ ] sie wird zu vielen toten Ukrainern und Russen führen.» (1, zu den Fussnoten siehe die Anmerkung am Ende des Textes.)
Freemans Beobachtung weist auf eine unbequeme Wahrheit hin: Amerikas zwei Kriegsziele sind nicht miteinander vereinbar. Während ein humanitärer Einsatz darauf abzielt, die Zerstörung zu begrenzen und den Krieg schnell zu beenden, erfordert das strategische Ziel, Russland zu schwächen, einen langwierigen Krieg mit maximaler Zerstörung, der Russland auf dem Schlachtfeld Ukraine ausbluten lässt. Freeman bringt diesen Widerspruch in einem schon fast zynischen Spruch auf den Punkt: «Wir werden bis zum letzten Ukrainer für die ukrainische Unabhängigkeit kämpfen.»
Konfrontation USA-Russland
Amerikas neues militärisches Ziel bringt die USA in eine Position der direkten Konfrontation mit Russland. Jetzt geht es darum, eine Komponente des russischen Staates, nämlich sein Militär, anzugreifen und nach Möglichkeit dauerhaft lahmzulegen. Die Biden-Administration hat zusätzliche 33 Milliarden Dollar an Hilfen für die Ukraine beantragt, die meisten davon für das Militär, und in den letzten Tagen haben US-Beamte enthüllt, dass amerikanische Geheimdienste die Ermordung von einem Dutzend russischer Generäle in der Ukraine ermöglicht haben, ebenso wie die Versenkung der Moskwa, des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte im April, bei der 40 Seeleute getötet und 100 verwundet wurden. Amerikas europäische Verbündete haben sich dem US-Ziel angeschlossen und noch mehr und noch wirksamere Waffen geliefert. Die britische Führung hat sogar versucht, das Schlachtfeld zu erweitern, indem sie das ukrainische Militär offen dazu ermutigte, westliche Waffen einzusetzen, um Nachschublinien in Russland selbst anzugreifen.
Als Reaktion auf das eskalierende westliche Engagement und auf das, was Moskau als existenzielle Bedrohung für die russische Nation empfinden darf, hat der Kreml seinerseits erklärt, dass seine nuklearen Waffen bereits in höchster Alarmbereitschaft sind. Ein enger Medien-Vertrauter Putins hat den britischen Premierminister gewarnt: Seine Äußerungen und Handlungen könnten dazu führen, dass England – von einem der russischen Landangriffs-Atomtorpedos aus – einem radioaktiven Tsunami ausgesetzt sein wird. Diese und andere russische Warnungen vor einem Atomkrieg wurden von den meisten westlichen Medien als bloße Propaganda abgetan: Die Vorstellung, dass ein Atomkrieg 75 Jahre nach Hiroshima tatsächlich möglich ist, scheint Vielen im Westen fern zu liegen. Dennoch kann man sicher sein, dass die amerikanische Nukleartriade (die Kriegsintensivierung von nicht-nuklearen über taktische zu strategischen Atomwaffen, Red.), ebenso wie die russische Nukleartriade, bereits in höchster Alarmbereitschaft sind. Diese Situation bringt beide Länder in die Nähe einer höchst volatilen Abschusspolitik, was zum Beispiel auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ein Unfall oder ein Computerfehler zu einem nuklearen Schlagabtausch führen kann.
Außerdem ist zu bedenken, was passieren würde, wenn Russland zu verlieren begänne und seine militärischen Kapazitäten insgesamt so stark geschwächt wären, dass Moskau sich seinerseits als Invasions-bedroht fühlen müsste. In einer solchen Situation würden russische Strategen mit Sicherheit den Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft auf dem Schlachtfeld in Erwägung ziehen, um die gegnerischen Streitkräfte zu vernichten. So etwa erklärte der Direktor des US-Geheimdienstes Anfang Mai vor dem Streitkräfteausschuss des Senats, dass Putin Atomwaffen einsetzen könnte, wenn «aus seiner Sicht eine existenzielle Bedrohung für sein Regime und für Russland besteht». (2) Wenn Russland Atomwaffen einsetzt, könnte der Druck für eine westliche nukleare Antwort, gefolgt von einer weiteren Eskalation, aber unwiderstehlich werden. Doch genau diese Situation – Verlust und Erschöpfung Russlands – wird mit der neuen US-Politik angestrebt.
Schließlich müssen wir uns fragen, was passieren würde, wenn sich der Krieg bis zu dem Punkt hinzöge, an dem die Opposition gegen Putin innerhalb der russischen Eliten zu seiner Entmachtung führte. Dabei geht es um das gepriesene Ziel des «Regime Change», der in den USA von einer informellen Allianz aus republikanischen Neokonservativen, demokratischen liberalen Interventionisten und verbal inkontinenten Politikern aller Couleur angestrebt wird. Die Annahme scheint zu sein, dass Putin dann durch eine fügsame, verweichlichte Marionette ersetzt würde, die sich den amerikanischen Interessen unterwerfen würde. Gilbert Doctorow, ein unabhängiger, in Brüssel ansässiger politischer Analyst, der in russischer Geschichte promoviert hat, kommentiert das so:
«Seien Sie vorsichtig, was Sie sich wünschen. Russland hat mehr Atomwaffen als die USA. Russland verfügt über mehr moderne Waffen als die USA. Russland kann die USA in 30 Minuten dem Erdboden gleichmachen. Ist dies ein Land, in dem Sie Unruhe stiften wollen? Außerdem, wenn Putin gestürzt würde, wer würde dann seinen Platz einnehmen? Irgendein kleines Weichei? Ein neuer Trunkenbold wie [der erste russische Präsident Boris] Jelzin? Oder jemand, der ein Rambo ist und einfach auf den Knopf drücken kann? [ ] Ich denke, dass es für ein Land wie die USA äußerst unklug ist, einen Regimewechsel in einem Land wie Russland herbeizuführen. Das ist fast schon selbstmörderisch.» (3)
Unabhängig davon, ob die Schwächung des russischen Militärs von Anfang an der Plan der USA war oder nicht, ist diese Politik nicht überraschend, denn sie folgt logisch, ja sogar vorhersehbar, aus einem umfassenden westlichen Narrativ über Russland, das bereits weitgehend akzeptiert ist. Diesem Narrativ zufolge ist Putin ein unersättlicher Expansionist, der keine plausiblen nationalen Sicherheitsgründe für seine Entscheidungen hat. In diesem Narrativ wird Putin als ein neuer Hitler dargestellt, und der russische Vorstoß in die Ukraine wird mit der Nazi-Aggression des Zweiten Weltkriegs verglichen. Ebenso wird jeder Wunsch des Westens nach Kompromissen und Verhandlungen über ein schnelles Ende des Konflikts als Wunschdenken und als Beschwichtigung dargestellt. Amerikas neues militärisches Ziel ist die direkte Folge der westlichen Wahrnehmung der Motive Moskaus und der Ursachen des Krieges.
Damit rückt eine entscheidende Frage in den Mittelpunkt: Ist die westliche Darstellung des Ukraine-Krieges auch wirklich richtig? Wenn ja, dann könnte die westliche Politik durchaus Sinn machen, auch wenn sie das Risiko eines nuklearen Konflikts birgt. Ist das Narrativ jedoch falsch, dann stützt der Westen existenzielle Entscheidungen auf falsche Prämissen ab. Wenn das Narrativ falsch ist, dann stellt ein schnell ausgehandelter Kompromiss, der das Leben von Kämpfern und Zivilisten gleichermaßen schont und gleichzeitig das Risiko eines Atomkriegs erheblich verringert, keine Beschwichtigung, keine Appeasement-Politik, keine falsche Anbiederung dar. Vielmehr wäre ein Kompromiss dann eine praktische Notwendigkeit, ja sogar eine moralische Verpflichtung. Und noch einmal: Wenn die westliche Darstellung der russischen Beweggründe falsch ist, dann werden die Maßnahmen, die der Westen jetzt ergreift, die Krise sogar vertiefen und möglicherweise zu einem Atomkrieg führen.
Die westliche Sicht ist falsch
In diesem Aufsatz vertrete ich die Auffassung, dass die westliche Sichtweise falsch ist. In entscheidender Hinsicht ist sie das Gegenteil der Wahrheit. Die eigentliche Ursache des Krieges liegt nicht in einem ungezügelten Expansionismus Putins oder in paranoiden Wahnvorstellungen der Militärplaner im Kreml, sondern in einer 30-jährigen Geschichte westlicher Provokationen gegen Russland, die mit der Auflösung der Sowjetunion begann und bis zum Beginn des Krieges andauerte. Diese Provokationen brachten Russland in eine unhaltbare Situation, für die Putin und sein militärischer Stab den Krieg als einzige praktikable Lösung ansahen. Bei dieser Argumentation widme ich besondere Aufmerksamkeit den USA – und unterziehe sie einer besonders scharfen Kritik –, weil sie die entscheidende Rolle bei der Gestaltung der westlichen Politik gespielt haben.
Bei meiner Kritik am Westen geht es mir nicht darum, Moskaus Invasion zu rechtfertigen oder die russische Führung zu entlasten. Ich habe keinen Auftrag von Putin. Ungeachtet all dessen, was ich sagen werde, glaube ich, dass er Alternativen zum Krieg gehabt hätte. Aber ich möchte ihn verstehen – in dem Sinne, dass ich versuche, die Kausalreihenfolge rational zu bewerten, die ihn zu der aktuellen Katastrophe geführt hat.
Was habe ich im Sinn, wenn ich von „westlichen Provokationen“ spreche? Es wird oft behauptet, dass die Ausdehnung der NATO auf die osteuropäischen Länder zu den Spannungen beigetragen hat. Diese Behauptung ist richtig, aber unvollständig. Zunächst einmal bleiben die Auswirkungen der NATO-Osterweiterung zu oft abstrakt, ohne dass die tatsächliche Bedrohung Russlands erkannt wird. Gleichzeitig haben die USA und ihre Verbündeten sowohl einzeln als auch in Abstimmung miteinander provokative militärische Maßnahmen ergriffen, die nicht direkt mit der NATO zusammenhängen. Es ist wichtig, sich auf die NATO zu konzentrieren, aber wenn man sich nur auf die NATO konzentriert, verdeckt man das ganze Ausmaß und den Ernst der Zwangslage, die der Westen für Russland geschaffen hat.
Als Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird, führe ich hier die wichtigsten westlichen Provokationen auf, die ich im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes erläutern und kommentieren werde. In den letzten drei Jahrzehnten haben die USA, manchmal allein, manchmal zusammen mit ihren europäischen Verbündeten, Folgendes getan:
- Sie haben die NATO über tausend Meilen nach Osten ausgedehnt und sie unter Missachtung von Zusicherungen, die Moskau zuvor gegeben wurden, an die Grenzen Russlands gebracht.
- Sie haben den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty) einseitig gekündigt und antiballistische Trägersystemen in neu beigetretenen NATO-Staaten aufgestellt. Diese Trägersysteme können auch offensive Nuklearwaffen, wie z.B. atomar bestückte Tomahawk-Marschflugkörper, aufnehmen und auf Russland abfeuern.
- Sie haben dazu beigetragen, die Grundlagen für einen bewaffneten, rechtsextremen Staatsstreich in der Ukraine zu schaffen, ja haben ihn möglicherweise sogar direkt angezettelt. Durch diesen Putsch wurde eine demokratisch gewählte pro-russische Regierung durch eine nicht gewählte pro-westliche Regierung ersetzt.
- Sie haben zahlreiche NATO-Manöver in der Nähe der russischen Grenze durchgeführt. Dazu gehörten beispielsweise Raketenübungen mit scharfen Schüssen, die Angriffe auf Luftverteidigungssysteme innerhalb Russlands simulieren sollten.
- Sie haben ohne dringende strategische Notwendigkeit und unter Missachtung der großen Bedrohung, die ein solcher Schritt für Russland bedeuten würde, versprochen, die Ukraine werde NATO-Mitglied. Und die NATO hat sich dann geweigert, die Politik der „offenen NATO-Tür“ (für die Ukraine, Red.) zurückzunehmen, selbst wenn dadurch ein Krieg hätte verhindert werden können.
- Sie haben sich einseitig aus dem INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) zurückgezogen, was die Verwundbarkeit Russlands durch einen Erstschlag der USA erhöht.
- Sie haben das ukrainischen Militär mit besserer Bewaffnung und mit Ausbildung gestärkt, basierend auf bilateralen Abkommen und regelmäßigen gemeinsamen militärischen Manövern innerhalb der Ukraine. Ziel war es, militärische Zusammenarbeit – die sogenannte Interoperabilität – auf NATO-Niveau herzustellen, und dies schon bevor einer offiziellen Aufnahme der Ukraine in die NATO.
- Sie haben die ukrainische Führung zu einer kompromisslosen Haltung gegenüber Russland gedrängt, was die Bedrohung für Russland weiter verschärft hat und die Ukraine in die Gefahr eines russischen militärischen Gegenschlages gebracht hat. (Nicht zu vergessen: Die Ukraine hat die Minsk II Vereinbarungen nie erfüllt und sie wurde auch von den USA nie aufgefordert, es zu tun, sondern wohl eher sogar darin unterstützt, es nicht zu tun. Red.)
Aufgrund der Tiefe der Krise, ihrer jahrzehntelangen Entwicklung und der Tatsache, dass ein thermonuklearer Krieg – ein Krieg, der mit Wasserstoffbomben geführt wird – eine existenzielle Bedrohung für alle beteiligten Länder sowie für die gesamte Menschheit darstellt, werde ich meine Argumente so klar und so systematisch wie möglich darlegen. Ich gliedere den Aufsatz in acht Teile, die meine Argumentation schrittweise aufbauen:
Teil 1 gibt einen chronologischen Überblick über die westlichen Provokationen gegenüber Russland im Zeitraum 1990-2014. Teil 2 erweitert diesen Überblick bis zum Beginn der russischen Invasion im Februar 2022. In Teil 3 wird die Frage gestellt, wie die USA reagieren würden, wenn „der rechte Schuh am linken Fuß“ wäre, d. h. wenn Russland sich den USA gegenüber so verhalten würde, wie der Westen sich Russland gegenüber verhalten hat. Teil 4 beschreibt die Auswirkungen des amerikanischen Rückzugs aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen von 1987 auf die russische Sicherheit. In Teil 5 wird aufgezeigt, wie amerikanische Außenpolitik-Experten öffentlich warnten, die NATO-Osterweiterung führe zu einer Katastrophe. In Teil 6 wird beschrieben, wie die Verantwortlichen für die gescheiterte Erweiterungspolitik der NATO nun ihre Fehler wiederholen. In Teil 7 wird erläutert, wie allzu pessimistische Einschätzungen der Absichten potentieller Gegner dazu neigen, sich selbst erfüllende Prophezeiungen zu werden. In Teil 8 wird eine kontrafaktische Geschichte vorgestellt, in der untersucht wird, was hätte sein können, wenn der Westen anders gehandelt hätte. Dabei wird auch auf die Frage eingegangen, wer die Hauptverantwortung für die anhaltende Katastrophe in der Ukraine trägt.
Teil 1: Westliche Provokationen 1990-2014
Die Geschichte beginnt 1990, als sich die Sowjetunion dem Ende zuneigte und die westliche Führung die Wiedervereinigung Ost- und Westdeutschlands unter der Schirmherrschaft der NATO anstrebte. Dazu musste Moskau bereit sein, seine rund 400 000 Soldaten aus Ostdeutschland abzuziehen. Um Moskau zu besänftigen, vertraten die westlichen Staats- und Regierungschefs die Ansicht, die NATO werde nicht nach Osten in Richtung der russischen Grenze expandieren.
Nach einer Analyse des «National Security Archive» der George Washington University, in dem einschlägige, freigegebene Dokumente zu finden sind, wurde «Gorbatschow und anderen sowjetischen Amtsträgern während des gesamten Prozesses der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 und bis ins Jahr 1991 hinein von westlichen Führern eine Reihe von Zusicherungen in Bezug auf die sowjetische Sicherheit gemacht». Diese Zusicherungen bezogen sich nicht nur auf die Frage der NATO-Erweiterung in Ostdeutschland, wie manchmal behauptet wird, sondern auch auf die Erweiterung der NATO in die osteuropäischen Länder. Nichtsdestotrotz begann die NATO innerhalb weniger Jahre, sich in Richtung der russischen Grenze auszudehnen. Obwohl diese Zusicherungen nicht in förmlichen Verträgen festgehalten worden waren, waren „spätere sowjetische und russische Beschwerden darüber, dass sie in Bezug auf die NATO-Erweiterung in die Irre geführt worden seien“, nicht einfach nur russische Propaganda, sondern wurden vielmehr „in zeitgleichen schriftlichen [Memoranden] auf höchster Ebene“ der westlichen Regierungen begründet. (4)
Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangte Joshua R. Shifrinson in der Zeitschrift «International Security». Shifrinson zeigt Beweise dafür, dass „die Vereinigten Staaten die Sowjetunion in die Irre geführt“ und den Geist der Verhandlungen verletzt haben. (5) In einem Interview am Belfer Center der Harvard Kennedy School beschreibt Shifrinson seine Archivrecherche:
«Ich war in der Lage, gleichzeitig zu sehen, was den Sowjets ins Gesicht gesagt wurde und was die USA sich selbst im Hinterzimmer erzählten. Viele der Russen … haben wiederholt behauptet, dass die USA 1990 eine informelle Zusage zur Nichterweiterung gemacht haben. Und in den letzten 25 Jahren haben westliche Politiker, zumindest in den USA, rundheraus gesagt: ‹Nein, das haben wir nicht, und es wurde nichts schriftlich festgehalten und nichts unterschrieben, also spielt es keine Rolle, ob [wir] es getan haben.› Und was ich [in den Archiven] gefunden habe, war, dass die russische Darstellung im Grunde genommen genau das ist, was passiert ist.» (6)
Mit der Beschreibung dieser Episode will ich nicht behaupten, dass die westlichen Zusicherungen rechtlich bindend waren oder dass die Verletzung dieser Zusicherungen den Einmarsch Russlands in die Ukraine vollständig erklärt. Tatsächlich ist die Frage der amerikanischen, europäischen und sowjetischen Diskussionen über die NATO-Erweiterung in den Jahren 1990 und 1991 Gegenstand laufender Debatten. (7) Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass der Westen in einer Weise handelte, die darauf abzielte, Moskau zu täuschen, und dass diese Episode den Grundstein für das sich entwickelnde russische Gefühl legte, man könne der NATO und insbesondere den USA nicht trauen.
Obwohl sich die Richtung der NATO-Erweiterung bereits Mitte der 90er Jahre abzeichnete, erfolgte der erste entscheidende Schritt 1999, als die NATO drei neue osteuropäische Staaten förmlich aufnahm. In einem kürzlich geführten Interview äußerte sich der Oberst der Armee (im Ruhestand) Douglas Macgregor, Ph.D., ein bekannter Befehlshaber im Irak, der an der Ausarbeitung der US-Kriegspläne für Europa beteiligt war, zur Aufnahme eines dieser Länder:
«Als wir 1999 beschlossen, Polen aufzunehmen, waren die Russen sehr besorgt – nicht so sehr, weil die NATO damals feindlich gesinnt war, sondern weil sie wussten, dass Polen es war. Polen hat eine lange Geschichte der Feindseligkeit gegenüber Russland. … Polen ist, wenn überhaupt, zu diesem Zeitpunkt ein potenzieller Katalysator für einen Krieg mit Russland.» (8)
Im Jahr 2001, zwei Jahre nach der Aufnahme dieser ersten Gruppe neuer NATO-Mitglieder, kündigte Präsident George W. Bush einseitig den Vertrag über den Schutz vor ballistischen Raketen (ABM). Im Jahr 2004 nahm die NATO dann weitere osteuropäische Staaten auf, darunter Rumänien und Estland. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die NATO bereits fast tausend Meilen in Richtung Russland ausgedehnt.
Im Jahr 2008 gab die NATO auf einem NATO-Gipfel in Bukarest (Rumänien) im so genannten Bukarester Memorandum bekannt, dass sie die Ukraine und Georgien als Mitglieder aufnehmen wolle. Obwohl einige europäische NATO-Mitglieder ernsthafte Vorbehalte hatten, nutzte die Regierung von Präsident George W. Bush die Position der USA als ranghöchstes Mitglied des Bündnisses, um das Thema voranzutreiben, und in das Memorandum wurde die folgende unmissverständliche Erklärung aufgenommen: «Wir sind heute übereingekommen, dass diese Länder [die Ukraine und Georgien] Mitglieder der NATO werden». Es wurden jedoch keine förmlichen Maßnahmen zur tatsächlichen Aufnahme dieser Länder ergriffen.
Russland hat den möglichen Beitritt der Ukraine und Georgiens von Anfang an als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Die Ukraine hat eine 1200 Meilen lange Landesgrenze mit Russland, die an einigen Stellen nur 400 Meilen von Moskau entfernt ist. In einem 2008 nach Washington gesendeten Telegramm beschrieb der damalige US-Botschafter in Russland, William J. Burns, der heute Direktor der CIA ist, sein Treffen mit dem russischen Außenminister. Burns hielt fest, dass Russland den Beitritt der Ukraine und Georgiens zur NATO als eine Rote Linie ansieht, die nicht überschritten werden darf. Diese Beurteilung spiegelte sich auch in der Überschrift seines Telegramms wider: „Nyet Means Nyet [Nein heißt Nein]: Russlands Grenzen für die NATO-Erweiterung“. Burns schrieb: «Russland sieht nicht nur eine Einkreisung und Bestrebungen, Russlands Einfluss in der Region zu untergraben, sondern fürchtet auch unvorhersehbare und unkontrollierte Folgen, die russische Sicherheitsinteressen ernsthaft beeinträchtigen würden.» (9)
Die Bedrohung, die die russische Führung in dieser NATO-Politik sah, veranlasste Russland später im Jahr 2008 zum Einmarsch in Georgien. Oberst Macgregor erklärt:
«Die Russen haben schließlich in Georgien interveniert, und der ganze Zweck dieser Intervention bestand darin, uns [den USA] zu signalisieren, dass sie kein NATO-Mitglied an ihren Grenzen dulden würden, insbesondere kein Mitglied, das ihnen gegenüber feindlich gesinnt war, wie es die georgische Regierung zu diesem Zeitpunkt war. Ich denke also, dass das, womit wir es jetzt zu tun haben [der Krieg in der Ukraine], genau das Ergebnis ist, das Botschafter Burns befürchtet hat, als er „Nein heißt Nein“ sagte.» (10)
(Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dass diese US-amerikanische Darstellung falsch ist. Es war damals der georgische Staatschef Micheil Saachaschwili, der seine Truppen in Südossetien einmarschieren liess. Russlands Einmarsch war eine Reaktion auf den georgischen Einmarsch. Siehe dazu den Untersuchungsbericht unter Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tgliavini. Red.)
Ende 2013 und Anfang 2014 wurden regierungsfeindliche Proteste auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, die von den USA unterstützt wurden, von gewalttätigen Provokateuren unterwandert. Die Gewalt gipfelte in einem Putsch, bei dem bewaffnete, rechtsextreme ukrainische Ultranationalisten Regierungsgebäude übernahmen und den demokratisch gewählten prorussischen Präsidenten zur Flucht zwangen. John Mearsheimer, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Chicago, beschrieb das Ergebnis so: «Die neue Regierung in Kiew war durch und durch pro-westlich und antirussisch, und ihr gehörten vier hochrangige Mitglieder an, die man zu Recht als Neofaschisten bezeichnen kann.» (11)
Die USA spielten bei diesen Ereignissen eine Rolle, auch wenn das volle Ausmaß ihrer Beteiligung und die Frage, ob sie die Gewalt direkt geschürt haben, möglicherweise nie vollständig transparent werden. Sicher ist, dass die USA seit 1991 fünf Milliarden Dollar in die von ihnen ausgewählten pro-demokratischen Organisationen in der Ukraine gesteckt haben (12) und dass sie schon einen Monat vor dem Staatsstreich hinter den Kulissen daran arbeiteten, den Nachfolger des amtierenden Präsidenten zu bestimmen. Letzteres wurde bekannt, als ein Telefongespräch zwischen der stellvertretenden US-Außenministerin Victoria Nuland und dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, gehackt oder durchgesickert war und das Gespräch vollumfänglich veröffentlicht wurde. (13) Während des Gesprächs benutzte Nuland ein Schimpfwort, das sich auf die Europäische Union bezog («Fuck the EU», Red.), was zu Spannungen zwischen Washington und den europäischen Hauptstädten führte. Wie Stephen F. Cohen, der verstorbene bedeutende Professor für Russische Studien an der Princeton und New York University, feststellte:
«Die Medien konzentrierten sich vorhersehbar auf die Quelle der undichten Stelle und auf Nulands verbalen Ausrutscher – ‹Fuck the EU›. Aber die wesentliche Enthüllung war, dass hochrangige US-Beamte planten, eine neue, antirussische Regierung ins Leben zu rufen, indem sie den demokratisch gewählten Präsidenten des Landes stürzten oder neutralisierten …» (14)
Unabhängig von der genauen Rolle der USA nahm Russland zu Recht an, dass Amerika tief in den Umsturz verwickelt war – auf jeden Fall bei der Schaffung der Grundlage für den Staatsstreich und möglicherweise auch beim Schüren der Gewalt. Als Reaktion darauf und teilweise aus der begründeten Sorge heraus, dass die neue Regierung nach dem Putsch oder ihre westlichen Partner versuchen könnten, Russland die Nutzung seines wichtigen Marinestützpunkts in Sewastopol auf der Krim zu verwehren – über dessen Zugang Russland zuvor verhandelt hatte – annektierte Russland die Krim. John Mearsheimer schreibt:
«Wie der ehemalige Botschafter in Moskau, Michael McFaul, feststellt, war die Einnahme der Krim durch Putin nicht von langer Hand geplant: Es war ein impulsiver Schritt als Reaktion auf den Putsch, der den pro-russischen Führer der Ukraine stürzte. In der Tat war die NATO-Erweiterung bis dahin darauf ausgerichtet, ganz Europa in eine riesige Friedenszone zu verwandeln, und nicht darauf, ein gefährliches Russland einzudämmen. Als jedoch die Krise [auf der Krim] ausbrach, konnten die amerikanischen und europäischen Politiker nicht zugeben, dass sie sie durch ihren Versuch, die Ukraine in den Westen zu integrieren, provoziert hatten. Sie erklärten, die wahre Ursache des Problems sei Russlands Revanchismus und sein Wunsch, die Ukraine zu dominieren, wenn nicht gar zu erobern.» (15)
(An dieser Stelle sei daran erinnert, dass sich die Bevölkerung der Krim 2014 in einem Referendum ausdrücklich für eine Wiedervereinigung der Krim mit Russland aussprach. Die sogenannte Annexion der Krim, die in Wirklichkeit eine Sezession der Krim war, erfolgte denn auch, ohne dass irgendwo auch nur ein Schuss fiel. Red.)
Teil 2: Westliche Provokationen 2014-2022
Obwohl einige oder alle der soeben beschriebenen westlichen Provokationen im Westen weithin anerkannt sind, wird manchmal behauptet, nach 2014 habe es keine neuen Provokationen mehr gegeben. Diese Behauptung ist in der Regel Teil eines umfassenderen Arguments: Da zwischen dem Staatsstreich von 2014 und dem Einmarsch Russlands 2022 acht Jahre vergangen seien, könne man die Behauptung, Putin sei aus Gründen der nationalen Sicherheit motiviert gewesen, außer Acht lassen. Tatsächlich gingen die Provokationen des Westens gegenüber Russland aber nach 2014 weiter, und sie haben sich sogar noch verschärft und ihren Charakter dahingehend geändert, dass sie eine direktere Bedrohung für Russlands Sicherheit darstellten.
Nachdem Russland die Kontrolle über die Krim übernommen hatte, begannen die USA mit einem massiven Programm zur militärischen Unterstützung der Ukraine. Nach Angaben des «U.S. Congressional Research Service» beläuft sich eine Teilbilanz seit 2014, in der die meisten der seit Kriegsbeginn geleisteten Militärhilfen nicht berücksichtigt sind, auf über vier Milliarden Dollar, von denen die meisten durch das Außen- und das Verteidigungsministerium bereitgestellt wurden. (16) Ein Ziel dieser Finanzierung war die „Verbesserung der Interoperabilität mit der NATO“ – ungeachtet der Tatsache, dass die Ukraine (noch) nicht Mitglied der NATO war.
Im Jahr 2016 haben die USA, nachdem sie zuvor den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile) aufgekündigt hatten, eine ABM-Anlage in Rumänien in Betrieb genommen. Obwohl das ABM-System vordergründig der Verteidigung dient, werden Mark-41-„Aegis“-Raketenwerfer eingesetzt, die eine Vielzahl von Raketentypen aufnehmen können: nicht nur ABMs, die ankommende ballistische Raketen abschießen sollen, sondern – und das ist entscheidend – auch atomar bestückte Angriffswaffen wie den Tomahawk-Marschflugkörper. Tomahawks haben eine Reichweite von 1500 Meilen, können Moskau und andere Ziele tief in Russland treffen und tragen Wasserstoffbomben-Sprengköpfe mit einer wählbaren Sprengkraft von bis zu 150 Kilotonnen, was etwa dem Zehnfachen der Atombombe entspricht, die Hiroshima zerstört hat. Eine ähnliche Aegis-Anlage befindet sich in Polen im Bau und soll später im Jahr 2022 in Betrieb genommen werden. Die Aegis-Abschussrampen an jedem Standort können 24 Raketen aufnehmen, so dass 48 Tomahawk-Marschflugkörper aus relativ kurzer Entfernung auf Russland abgeschossen werden können.
Putin hat immer wieder betont, dass die Präsenz dieser offensivfähigen Aegis-Trägerraketen in der Nähe der russischen Grenze eine direkte Gefahr für Russland darstellt. Die USA behaupten, dass die ABM-Anlagen dazu dienen, auf Europa gerichtete Sprengköpfe aus dem Iran oder aus Nordkorea zu stoppen. Angesichts des Potenzials der Raketenwerfer, als offensive Bedrohung nahe der russischen Grenze zu fungieren, könnte ein amerikanisches Ziel bei der Aufstellung dieser ABM-Anlagen – und möglicherweise sogar als Hauptziel – darin bestehen, zusätzlichen offensiven Druck auf Moskau auszuüben und gleichzeitig glaubhaft zu leugnen, eine solche Bedrohung sei beabsichtigt.
Die amerikanische Antwort auf Putins Besorgnis über die ABM-Anlagen bestand in der Behauptung, die USA beabsichtigten nicht, die Trägerraketen für einen offensiven Einsatz zu konfigurieren. Diese Antwort setzt jedoch voraus, dass die Russen sogar in einer Krise auf die erklärten Absichten der USA vertrauen, anstatt die Bedrohung anhand des Potenzials der Systeme zu beurteilen. Es kann nicht zu Russlands Sicherheitsgefühl beitragen, wenn im Aegis-Marketingblatt von Lockheed Martin, dem Hersteller der Trägerraketen, zu lesen ist: «Das System ist so konzipiert, dass es jede Rakete in jede Zelle aufnehmen kann – eine Fähigkeit, die eine beispiellose Flexibilität bietet.» (17)
Im Jahr 2017 begann die Regierung von Präsident Donald J. Trump, tödliche Waffen an die Ukraine zu verkaufen. Dies war eine Abkehr von der Politik der Jahre 2014-2017, in denen nur nicht-tödliche Gegenstände verkauft wurden (z. B. Schutzwesten und verschiedene Arten von technischer Ausrüstung). Die Trump-Administration bezeichnete die neuen Verkäufe als „defensiv“. Bei tödlichen Waffen existieren die Kategorien „offensiv“ und „defensiv“ jedoch in erster Linie im Kopf des Betrachters: defensiv für denjenigen, der die Waffe hält, offensiv für denjenigen, der im Fadenkreuz steht. Wie John Mearsheimer feststellte, „sahen diese Waffen für Moskau sicherlich offensiv aus“. (18)
2019 traten die USA einseitig aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen von 1987 aus. Auf die strategische Bedeutung dieses Schrittes gehe ich in Teil 4 ein.
Die USA waren nicht die einzigen, die damit begannen, tödliche Waffen an die Ukraine zu verkaufen und sich militärisch mit der Ukraine zu koordinieren, obwohl diese noch kein NATO-Mitglied war. Mearsheimer stellt fest:
«Andere NATO-Länder haben sich daran beteiligt, indem sie Waffen an die Ukraine lieferten, ihre Streitkräfte ausbildeten und ihr die Teilnahme an gemeinsamen Luft- und Seemanövern erlaubten. Im Juli 2021 veranstalteten die Ukraine und die USA gemeinsam eine große Marineübung in der Schwarzmeerregion, an der Seestreitkräfte aus 32 Ländern teilnahmen. Die Operation Sea Breeze hätte Russland beinahe dazu provoziert, auf einen britischen Zerstörer zu schießen, der absichtlich in das Gebiet eindrang, das Russland als seine Hoheitsgewässer betrachtet.» (19)
Selbst als westliche Staaten außerhalb der NATO das ukrainische Militär bewaffneten, ausbildeten und mit ihm koordinierten, führte die NATO in der Nähe Russlands aggressive Militärübungen durch. So führte die NATO im Jahr 2020 in Estland, 70 Meilen von der russischen Grenze entfernt, eine Übung mit scharfen Schüssen durch, bei der taktische Raketen mit einer Reichweite von bis zu 185 Meilen eingesetzt wurden. Diese Waffen können russisches Territorium mit minimaler Vorwarnung treffen. Im Jahr 2021 feuerte die NATO, ebenfalls in Estland, 24 Raketen ab, um einen Angriff auf Luftverteidigungsziele innerhalb Russlands zu simulieren. (20) Obwohl der Westen behauptet, dass solche Raketen nur nach einem Angriff Russlands eingesetzt würden, würde kein umsichtiger Militärplaner die Sicherheit einer Nation aufgrund der erklärten Absichten eines potenziellen Feindes riskieren; vielmehr würde dieser Planer auf die Angriffsfähigkeit und den Standort der Waffen achten.
Während sie diese militärischen Aktivitäten aktiv vorantrieb, versicherte die NATO weiterhin, die Ukraine werde der NATO beitreten. (21) Auf einer Tagung im Juni 2021 in Brüssel bekräftigte die NATO ihr Engagement: „Zwei Monate später, im August 2021, unterzeichneten der US-Verteidigungsminister und der ukrainische Verteidigungsminister den Strategischen Verteidigungsrahmen zwischen den USA und der Ukraine.(22) Dieser Rahmen setzt die Erklärung der NATO in eine bilaterale (amerikanisch-ukrainische) politische Entscheidung um, die militärischen Fakten vor Ort ab sofort zu ändern, unabhängig davon, ob die Ukraine Mitglied der NATO ist oder nicht. Und neun Wochen nach dieser Unterzeichnung unterzeichneten der US-Außenminister und der ukrainische Außenminister ein ähnliches Dokument, die Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine. (23) Dieses Dokument bezog sich ebenso wie das vom Verteidigungsministerium unterzeichnete auf die NATO-Erklärungen von 2008 und 2021 und gab diesen Erklärungen auf bilateraler Ebene eine neue – operative – Qualität, und zwar ab sofort und unabhängig davon, was mit der NATO geschehen würde.
Im Zeitraum 2017-2021 sehen wir also, wie zwei Arten von militärischen Aktivitäten in der Nähe der russischen Grenze zusammentreffen. Erstens die bilateralen militärischen Beziehungen, die massive Lieferungen tödlicher Waffen, gemeinsame ukrainisch-westliche Ausbildungs- und Interoperabilitätsübungen in der Ukraine selbst sowie die Inbetriebnahme von offensivfähigen Raketenwerfern in Rumänien und (in Kürze) Polen umfassen. Zweitens die militärischen Aktivitäten der NATO selbst, einschließlich der Abschussübungen mit scharfen Raketen, mit denen Angriffe auf Luftverteidigungsziele in Russland simuliert werden sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese simulierten Angriffe von einem NATO-Land an der Grenze zu Russland ausgingen, das entgegen früheren Zusicherungen gegenüber Moskau selbst in die NATO aufgenommen wurde. Und all dies geschah vor dem Hintergrund einer erneuten Zusicherung, dass die Ukraine in die NATO aufgenommen werde. Russland empfand dieses Zusammentreffen von militärischen Aktivitäten als direkte Bedrohung seiner Sicherheit. Mearsheimer erläuterte es so:
«Es überrascht nicht, dass Moskau diese sich entwickelnde Situation als unerträglich empfand und begann, seine Armee an der ukrainischen Grenze zu mobilisieren, um Washington seine Entschlossenheit zu signalisieren. Dies blieb jedoch wirkungslos, da die Regierung Biden sich der Ukraine weiter annäherte. Dies führte dazu, dass Russland im Dezember [2021] eine diplomatische Pattsituation herbeiführte. Wie Sergej Lawrow, der russische Außenminister, es ausdrückte: ‹Damit haben wir den Siedepunkt erreicht.› » (24)
Ebenfalls im Dezember 2021 wies der russische Botschafter in den USA in der Zeitschrift «Foreign Policy» darauf hin, dass die NATO jährlich etwa 40 große Übungen in der Nähe Russlands durchführe. Er warnte: „Die Situation ist extrem gefährlich.“ Damit brachte er erneut zum Ausdruck, was 13 Jahre zuvor in William Burns‘ Telegramm „Nyet means Nyet“ deutlich gemacht worden war:
«Alles hat seine Grenzen. Wenn unsere Partner [die USA und die NATO-Länder] weiterhin militärisch-strategische Realitäten aufbauen, die die Existenz unseres Landes gefährden, werden wir gezwungen sein, ihnen ähnliche Schwachstellen zu schaffen. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es für uns keinen Rückzug mehr gibt. Die militärische Erkundung der Ukraine durch NATO-Mitgliedstaaten ist eine existenzielle Bedrohung für Russland.» (25)
Mearsheimer beschrieb, was dann geschah:
«Russland verlangte eine schriftliche Garantie, dass die Ukraine niemals Teil der NATO werden würde, und dass das Bündnis die militärischen Einrichtungen, die es seit 1997 in Osteuropa stationiert hatte, abziehen würde. Die anschließenden Verhandlungen scheiterten, wie [US-Außenminister] Blinken klarstellte: ‹Es gibt keine Veränderung. Es wird keine Änderung geben.› Einen Monat später startete Putin eine Invasion in der Ukraine, um die Bedrohung, die er von der NATO sah, zu beseitigen.» (26)
Teil 3: «Der rechte Schuh passt nicht auf den linken Fuss»
Wenn man die soeben beschriebene 30-jährige Geschichte betrachtet, muss man sich fragen: Wie würden die führenden Politiker der USA reagieren, wenn sich die Situation umkehren würde – etwa wenn Russland oder China in der Nähe des US-Territoriums gleichwertige Schritte unternähmen? Wie würden die USA beispielsweise reagieren, wenn Russland ein Militärbündnis mit Kanada eingehen und dann 70 Meilen von der US-Grenze entfernt Raketenanlagen aufstellen würde? Was würde geschehen, wenn Russland diese Raketenanlagen für Schießübungen nutzen würde, um die Zerstörung von Luftverteidigungszielen in Amerika zu üben? Würden die führenden Politiker der USA die mündlichen Zusicherungen Russlands akzeptieren, seine Absichten seien harmlos?
Nein, natürlich nicht. Die wahrscheinliche Reaktion wäre die folgende. US-Militärplaner und politische Entscheidungsträger würden sich auf das offensive Potenzial der Waffen und der Trainingsübungen konzentrieren. Sie würden die erklärten Absichten außer Acht lassen und eine ernsthafte Bedrohung wahrnehmen. Sie könnten die Schießübungen als Signal für einen bevorstehenden russischen Angriff deuten. Die USA würden verlangen, dass die Raketen abgezogen werden, und wenn dieser Forderung nicht unverzüglich nachgekommen würde, könnten die USA mit einem Präventivangriff auf die Raketenanlagen reagieren, was wiederum einen allgemeinen Krieg und die Möglichkeit einer Eskalation bis hin zu einem thermonuklearen Schlagabtausch auslösen könnte. Die US-Führung und sicherlich auch die meisten US-Bürger würden dann Russland die moralische Schuld für Amerikas Präventivschlag zuschreiben, der dann als Selbstverteidigung bezeichnet würde.
Seit fast 200 Jahren, seit der Formulierung der Monroe-Doktrin, erheben die USA Sicherheitsansprüche über praktisch die gesamte westliche Hemisphäre. Die US-Politik offenbart somit die Überzeugung von der strategischen Bedeutung der geografischen Nähe bei Militäreinsätzen, unabhängig von den erklärten Absichten. Dieses Verständnis ist der Eckpfeiler der amerikanischen Außenpolitik.
Doch in ihren Beziehungen zu Russland handeln die USA – manchmal allein, manchmal mit ihren NATO-Verbündeten – unter krasser Missachtung derselben Grundsätze, selbst wenn sie in geografischer Nähe – d.h. in unmittelbarer Nähe zu Russland – angewendet werden. Die USA ziehen sich einseitig aus Rüstungskontrollverträgen zurück, schüren antirussische Revolutionen in Ländern an Russlands Grenze und verlegen ihre Streitkräfte und ihre Manöver an den Rand des russischen Territoriums, wobei sie diese Maßnahmen mit der Begründung rechtfertigen, die Absichten des Westens seien gutartig und das Ziel bestehe lediglich darin, eine russische Aggression abzuschrecken. Sie tun dies, ohne sich darum zu kümmern, wie umsichtige russische Führer und Militärplaner und normale russische Bürger dies wahrnehmen könnten oder wie solche Aktionen Russlands politische und militärische Haltung und Entscheidungen im Laufe der Zeit beeinflussen könnten. Nochmals Colonel Macgregor:
«Ich habe immer wieder versucht, den Leuten zu erklären, dass das, was in der Ukraine geschieht, für die Russen eine existenzielle Angelegenheit ist. Die Ukraine ist nicht irgendein weit entferntes Land in Nordafrika. Die Ukraine liegt direkt neben Russland. Russland wird keine ausländischen Streitkräfte und Einsatzkapazitäten in einem Land dulden, das ihm feindlich gesinnt ist und das möglicherweise seine Existenz bedrohen könnte. Ich habe die Analogie zu Mexiko gezogen und versucht, den Menschen zu sagen: ‹Versteht ihr nicht, was wir tun würden, wenn die Russen oder die Chinesen oder jemand anderes eine Streitmacht in Mexiko aufstellen würde?›» (27)
1962 platzierten die Sowjets Atomraketen auf Kuba und lösten damit die Kubakrise aus. Weniger bekannt ist, dass die sowjetischen Raketen auf Kuba stationiert wurden, kurz nachdem die USA mit Wasserstoffbomben bestückte Jupiter-Raketen in der Türkei stationiert hatten. Ebenfalls wenig bekannt ist, dass die Sowjets schließlich ihre Raketen aus Kuba abzogen, was die Krise im Rahmen einer geheimen Vereinbarung zwischen den USA und der Sowjetunion beendete, der zufolge beide Länder ihre offensiven Waffen abziehen würden. Gemäß der damaligen Vereinbarung zogen die USA ihre türkischen Raketen in aller Stille ab, Monate, nachdem die Sowjets ihre Raketen aus Kuba abgezogen hatten.
Da der Zusammenhang zwischen dem Abzug der Raketen nicht öffentlich gemacht wurde, zogen viele im Westen eine falsche Lehre aus der Kubakrise. Sie zogen fälschlicherweise den Schluss, dass Amerika durch eine unerbittliche Demonstration von Stärke und die Androhung einer nuklearen Eskalation mit hohem Einsatz ein strategisches Spiel gewonnen hatte. In Wirklichkeit wurde ein Atomkrieg durch einen Kompromiss vermieden, der möglich wurde, weil Präsident John F. Kennedy zuvor ein gutes persönliches Verhältnis zum sowjetischen Premierminister gepflegt hatte und daher glaubwürdig und in gegenseitigem Vertrauen verhandeln und die Situation deeskalieren konnte. (28) Natürlich ist die Situation heute eine ganz andere.
Schließlich muss noch ein Wort zur Frage gesagt werden, ob die westlichen Staaten 1990 und 1991 versprochen hatten, die NATO nicht in Richtung der russischen Grenze zu erweitern.
Die Frage der westlichen Versprechen hat in den Augen vieler Beobachter große Bedeutung erlangt. Einige dieser Beobachter vertraten die Auffassung, dass in Ermangelung förmlicher vertraglicher Verpflichtungen keine tatsächlichen Versprechungen gemacht wurden; oder sie behaupteten, dass Versprechungen gemacht wurden, die jedoch rechtlich nicht bindend waren. Andere haben behauptet, dass die NATO praktisch nicht die Absicht habe, der Ukraine in den nächsten Jahren die Mitgliedschaft anzubieten, so dass sich die gesamte Frage der Mitgliedschaft der Ukraine erübrige. Hier sind zwei Punkte wichtig.
Erstens: Unabhängig davon, ob die Osterweiterung der NATO gegen formale Vertragsverpflichtungen verstoßen hat oder nicht – was eindeutig nicht der Fall war –, ist die Missachtung der Russland gegebenen Zusicherungen durch den Westen mit der Frage verbunden, ob sich Putin und andere russische Führer getäuscht, gedemütigt und nicht respektiert gefühlt haben. Diese westlichen Maßnahmen haben ein grundlegendes Misstrauen geschaffen, das durch künftige westliche Maßnahmen noch verstärkt wurde. Zweitens: Selbst wenn wir als Gedankenspiel unterstellen, dass der Westen seine Absichten nicht falsch dargestellt hat, d.h. wenn wir um der Diskussion willen annehmen, dass niemals Zusicherungen gegeben wurden, bliebe das wichtigere Problem – die tatsächlichen militärischen Übergriffe der NATO und des Westens – unverändert.
Letztlich ist es nicht entscheidend, ob 1990-1991 Zusicherungen gemacht wurden. Es ist auch nicht entscheidend, ob die Bedrohungen über die NATO oder außerhalb der NATO durch bilaterale oder multilaterale Aktionen zwischen der Ukraine und westlichen Staaten entstanden sind. Drohungen sind Drohungen, unabhängig von den Worten oder Taten, die ihnen vorausgehen, und unabhängig von dem administrativen Weg, auf dem sie zustande kommen. Wichtig ist die Antwort auf diese Frage: Wie sieht die Situation „vor Ort“ aus, und wie kann eine Nation, die an ihrem Überleben interessiert ist, und eine umsichtige Führung, die dieses Überleben sicherstellen soll, auf diese Bedrohungen reagieren? Das ist der Punkt, den man verstehen muss, wenn man die Frage der westlichen Aktionen und Provokationen betrachtet.
Teil 4: Russische Befürchtungen über einen US-Erstschlag
Im Jahr 2019 traten die UDA während der Amtszeit von Präsident Trump aus dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF) von 1987 aus und behaupteten, die Russen hätten betrogen. (Die Vertragsverpflichtungen waren von Russland nach der Auflösung der Sowjetunion akzeptiert worden, wie es auch beim ABM-Vertrag der Fall gewesen war.) Mittelstreckenraketen sind definiert als Boden-Boden-Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern – länger als Gefechtsfeldwaffen, kürzer als Langstreckenwaffen wie ICBMs. Die Behauptung des Betrugs war technischer Natur, und in der Tat hatten sowohl die USA als auch Russland plausible Behauptungen, dass die jeweils andere Seite den Geist, wenn nicht gar den Wortlaut des Vertrags verletze.
Doch unabhängig davon, ob eines, beide oder keines der beiden Länder technisch gesehen gegen den Vertrag verstoßen hat, ist der springende Punkt, dass sich die USA einseitig zurückgezogen haben, anstatt sich offensiv um eine Lösung der Probleme zu bemühen. Möglicherweise witterten die Amerikaner dabei einen militärischen Vorteil, weil die fraglichen Raketen in Europa in der Nähe Russlands stationiert werden sollten, während Russland keine Pläne hatte, Waffen in gleicher Entfernung zu den USA zu stationieren. Darüber hinaus war der Vorwurf des russischen Betrugs wohl nur ein Vorwand, um aus dem Vertrag auszusteigen, damit die USA Mittelstreckenraketen gegen China stationieren konnten, dessen Bemühungen um einen nuklearen Aufholprozess durch den Vertrag von 1987 nicht behindert wurden.
Abgesehen von China dürfte die Entscheidung der USA, aus dem Vertrag auszusteigen, vor allem auf einen taktischen Vorteil gegenüber Russland ausgerichtet gewesen sein, der auf Kosten größerer strategischer Gefahren ging. Zu diesen Gefahren gehören: das Risiko, ein erneutes amerikanisch-russisches nukleares Wettrüsten auszulösen; Russland dazu zu bringen, eine gereizte Abschusspolitik zu verfolgen; die Entwicklung neuer russischer Atomwaffenklassen anzuregen; Russland dazu zu bringen, diese neuen Waffen in entsprechender Entfernung vom US-Territorium zu stationieren; und die politischen Beziehungen zwischen den USA und Russland in einer Weise zu destabilisieren, die ihre Fähigkeit, eine nukleare Krise zu entschärfen, untergraben könnte. Major Brennan Deveraux, ein auf Raketenartillerie und Raketenkrieg spezialisierter Stratege der US-Armee, wies in seinem Artikel vom 28. Januar 2022 auf der militärischen Online-Insider-Website «War on the Rocks» auf dieses Problem hin:
«Das westliche Narrativ ist klar und deutlich: Theaterunterstützende [INF-]Raketen verschaffen den Vereinigten Staaten und der NATO neue Fähigkeiten, um mit einem wiedererstarkenden Russland und einem aufstrebenden China besser fertig zu werden. Doch dieser Diskurs übersah die strategischen Auswirkungen des Einsatzes dieser Raketen und vernachlässigte eine mögliche russische Reaktion.» (29)
Russland war zutiefst besorgt darüber, dass die neuen US-Raketen in der Nähe seiner Grenzen die Wahrscheinlichkeit erhöhen könnten, dass die USA im Krisenfall glauben, einen präventiven Erstschlag ausführen zu können, der die russischen Kommando- und Kontrollsysteme ausschaltet und Russlands Fähigkeit zur Vergeltung beeinträchtigt. Wenn sie mit einem auch nur teilweise wirksamen ABM-Netz koordiniert werden, schüren Mittelstreckenwaffen somit die russischen Befürchtungen, die USA könnten nicht mehr abgeschreckt werden. Diese Befürchtungen sind nicht nur russische Paranoia. Wie zwei von Deveraux zitierte Mitglieder der «Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik» erklärten, könnten diese Raketen „Moskaus Führungseinrichtungen bedrohen und Russlands militärische Handlungsfähigkeit einschränken“. Russland hatte also viel zu gewinnen, wenn es den INF-Vertrag retten würde. Doch die USA blieben standhaft und zogen sich zurück.
Nachdem der Verlust des Vertrags eine vollendete Tatsache war, bemühte sich Russland um neue, gegenseitige Beschränkungen und Moratorien für die Stationierung von Raketen. Diese hätten es den USA und Russland ermöglichen können, ihre eigenen, gegeneinander gerichteten Waffen auszusetzen, während sie gleichzeitig Waffen gegen China einsetzen könnten. Die USA lehnten den russischen Vorschlag jedoch ab. Major Deveraux stellte fest, dass die Reaktion des Westens nicht nur nicht auf die Bedenken Russlands einging, sondern die Wiedereingliederung dieser Raketen [in seine Streitkräftestruktur] als ausgemachte Sache behandelte und sich fast ausschließlich auf den relativen Vorteil konzentrierte, den ihre Stationierung den USA und der NATO verschaffen könnte.
Deveraux beschrieb auch, wie die einzelnen Bereiche des US-Militärs um die neuen Raketen konkurrierten: „Statt interner Debatten über die strategischen Auswirkungen der Wiedereinführung dieser Raketen konzentrierte sich der öffentliche militärische Diskurs auf die Frage, welche Dienststelle für den Einsatz und die Entwicklung zuständig sein würde. Dies implizierte, dass der Einsatz der neuen Raketen und ihre Stationierung im Ausland von vornherein schon feststanden.“
In der Tat hat Putin in den letzten Monaten wiederholt seine Besorgnis über solche Stationierungen zum Ausdruck gebracht. Noch einmal Deveraux:
«Im Oktober 2021, gerade als die aktuelle Ukraine-Krise begann, brachte Putin seine Frustration über die internationale Gemeinschaft bezüglich seines vorgeschlagenen Raketenmoratoriums zum Ausdruck: ‹Hat irgendjemand überhaupt auf unsere Erklärung reagiert, dass wir diese Art von Raketen im europäischen Teil nicht einsetzen werden, wenn wir sie produzieren, wenn sie uns sagen, dass niemand aus den USA oder Europa dies tun wird? No. They never responded.› In einer Pressekonferenz im Dezember knüpfte er an diese Äußerungen an und sagte: ‹Bringen wir unsere Raketen in die Nähe der Grenzen der USA? Nein, das tun wir nicht. Es sind die USA, die mit ihren Raketen vor unserer Haustür stehen.›»
Obwohl es unmöglich ist, die genauen Beweggründe zu kennen, die Putin dazu veranlassten, in die Ukraine einzumarschieren, war es wahrscheinlich eine Kombination verschiedene Faktoren: Erstens die laufende Bewaffnung, Ausbildung nach NATO-Standards und Integration der militärischen Strukturen der Ukraine, der USA und anderer westlicher Mächte durch direkte Vereinbarungen ausserhalb der NATO. Zweitens die ständige Drohung, die Ukraine werde in die NATO aufgenommen. Drittens die Besorgnis über die mögliche Stationierung neuer Mittelstreckenraketen, verschärft durch die Sorge, die USA könnten in der Ukraine bereits Aegis-Raketen mit Offensiv-Potenz stationieren, unabhängig davon, ob die Ukraine bereits Mitglied der NATO ist.
Was den letzten Punkt betrifft, so ist es möglich, dass Putin angesichts der laufenden und fortschreitenden militärischen Koordinierung zwischen den USA und der Ukraine das Gefühl hatte, das Zeitfenster zur Verhinderung der Stationierung offensivfähiger Aegis-Raketen in der Ukraine schließe sich und er jetzt handeln müsse, wenn er diese Bedrohung abwenden wolle. Dies ist alles spekulativ, aber es ist plausibel und steht im Einklang mit den zuvor geäußerten russischen Bedenken. Unabhängig davon, was konkret zu der Invasion geführt hat, eines ist klar: Die Drohung mit neuen Aegis-Stellungen hat einer Küstenfestung, die bereits kurz vor dem Einsturz stand, ein weiteres Sandkorn hinzugefügt.
Teil 5: Politische Experten warnten vor der NATO-Erweiterung
In den letzten 30 Jahren haben hochrangige amerikanische Außenpolitik-Experten immer wieder vor einer NATO-Osterweiterung gewarnt: Die USA würden mit der Erweiterung der NATO nach Osteuropa einen gefährlichen politischen Fehler begehen. Im Jahr 1997, als die NATO im Begriff war, einen großen Schritt in Richtung NATO-Erweiterung zu unternehmen, warnte George Kennan, der damals vielleicht bedeutendste amerikanische Staatsmann – als Botschafter in der Sowjetunion hatte Kennan die amerikanische «Politik der Eindämmung“ eingeleitet – öffentlich, die Erweiterung der NATO wäre «der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Nachkriegszeit». Kennan beklagte die Sinnlosigkeit des gesamten Expansionsprojekts und fragte:
«Warum sollten sich die Ost-West-Beziehungen bei all den hoffnungsvollen Möglichkeiten, die das Ende des Kalten Krieges mit sich brachte, auf die Frage konzentrieren, wer mit wem verbündet sein würde und folglich auch gegen wen in irgendeinem phantastischen, völlig unvorhersehbaren und höchst unwahrscheinlichen künftigen militärischen Konflikt?» (30)
Ein Jahr später reagierte der damals 94-jährige Staatsmann in einem Interview mit Thomas Friedman auf die Ratifizierung der NATO-Erweiterung durch den Senat:
«Ich glaube, das ist der Beginn eines neuen Kalten Krieges. Ich denke, die Russen werden ziemlich negativ reagieren, und das wird sich auf ihre Politik auswirken. Ich halte das für einen tragischen Fehler. Es gab dafür überhaupt keinen Grund. Niemand bedrohte irgendjemanden anderen. Bei dieser [NATO-]Ausweitung würden sich die Gründerväter im Grabe umdrehen.» (31)
Und Kennan fügte hinzu: «Verstehen das die Leute nicht? Unsere Differenzen im Kalten Krieg bestanden aufgrund des sowjetischen kommunistischen Regimes. Und jetzt wenden wir uns von genau den Menschen ab, die die größte unblutige Revolution der Geschichte angezettelt haben, um dieses [kommunistische] Sowjetregime zu beseitigen.»
Kennan war nicht allein. Viele andere – auch prominente Falken – sprachen sich gegen die Expansion aus. Dazu gehörten Robert McNamara, ehemaliger Verteidigungsminister, der während des Vietnamkriegs massive Bombenangriffe plante und durchführte; Paul Nitze, ehemaliger Marineminister und Verteidigungsminister, der Kennans Politik der statischen Eindämmung ablehnte und aggressivere Versuche bevorzugte, die Russen zur Räumung von Gebieten zu zwingen; der antikommunistische Harvard-Akademiker Richard Pipes, der ein von der CIA organisiertes Team zur Analyse der strategischen Fähigkeiten und Ziele der Sowjetunion leitete; der ehemalige CIA-Chef Robert Gates, der später Verteidigungsminister wurde; Jack F. Matlock Jr, der vorletzte Botschafter in der Sowjetunion, der half, das Ende des Kalten Krieges auszuhandeln, sowie frühere Botschafter in Rumänien, Polen und Westdeutschland. Diese und andere prominente Washingtoner Insider sprachen sich öffentlich und lautstark gegen die NATO-Erweiterung aus. (32) Doch ihr Rat wurde nicht gehört.
Im Jahr 2015 begann der Professor der University of Chicago, John Mearsheimer, öffentlich zu erklären, die Russen könnten sich aus Sorge um ihre Sicherheit gezwungen sehen, militärische Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich des Versuchs, die Ukraine zu „zerstören“, um sie aus dem Gleichgewicht (engl.: equation) zu entfernen, wenn der Westen nicht aufhöre, die Ukraine militärisch, politisch und wirtschaftlich zu integrieren – eine Warnung, die wie die von Kennan vorausschauend war.
Es mag überraschen, dass der Grundtenor des historischen Arguments von Mearsheimer und anderen sogar von den aggressivsten russophoben Analysten akzeptiert zu werden scheint. Ein kürzlich geführtes Interview mit Fiona Hill, einer Washingtoner Insiderin – eine Anti-Russland-Falkin – aus drei Regierungen, veranschaulicht diesen Punkt. (33) In diesem Interview räumte Hill ein, dass die USA „schreckliche Fehler“ gemacht hätten. Als Hill gefragt wurde: „Also wird Putin im Moment von Emotionen getrieben und nicht von einem logischen Plan?“, korrigierte sie den Interviewer:
«Ich denke, es gibt einen logischen, methodischen Plan, der sehr weit zurückreicht, zumindest bis 2007, als er der Welt und vor allem Europa zu verstehen gab, dass Moskau die weitere Ausweitung der NATO nicht akzeptieren würde. Und ein Jahr später, 2008, öffnete die NATO Georgien und der Ukraine die Tür. Das geht auf jeden Fall auf diesen Zeitpunkt zurück.»
Hill fuhr fort:
«Damals war ich nationale Nachrichtenoffizierin, und der «National Intelligence Council» analysierte, wie Russland wahrscheinlich auf die NATO-Open-Door-Erklärung reagieren würde. Eine unserer Einschätzungen lautete, dass ein echtes, reales Risiko für eine Art präventiver russischer Militäraktion bestand, die sich nicht nur auf die Annexion der Krim beschränkte, sondern sich in einem viel größeren Rahmen gegen die Ukraine und Georgien richtete. Und natürlich kam es vier Monate nach dem NATO-Gipfel in Bukarest [als die Politik der offenen NATO-Tür angekündigt wurde] zur Invasion in Georgien. Damals gab es keine Invasion in der Ukraine, weil die ukrainische Regierung von ihrem Antrag auf NATO-Mitgliedschaft zurücktrat. Aber wir hätten uns ernsthaft damit befassen müssen, wie wir mit diesem möglichen Ergebnis und unseren Beziehungen zu Russland umgehen sollten.»
Hills Verständnis der Ursprünge der Krise ist im Wesentlichen dasselbe wie das von Mearsheimer und anderen. Doch während diese späteren Analysten die Realität dieser „schrecklichen Fehler“ ernst genommen und in ihre Analyse einbezogen haben, messen Hill und gleichgesinnte Politik-Gurus ihnen aus schwer nachvollziehbaren Gründen nur minimales Gewicht bei oder lassen sie ganz außer Acht. Diese «falkistischen» Analysten scheinen „kognitiv abgeschottet“ zu sein: In einem Teil ihres Gehirns wissen sie, dass Russland durch diese „schrecklichen Fehler“ motiviert wurde, und daraus können sie ableiten, dass Fragen der militärischen Sicherheit für die russische Führung und die militärischen Planer entscheidende Motivationsfaktoren sind. Im restlichen Teil ihres Gehirns, aus dem ihre politischen Rezepte stammen, scheinen sich diese Analysten dieser sicherheitsorientierten russischen Motivationen jedoch nicht bewusst zu sein.
Darüber hinaus sind die Sicherheitsbedenken Russlands, die Hill auf das Jahr 2007 oder früher zurückführt, nach wie vor vorhanden und haben sich, wie oben dargelegt, durch die nachfolgenden Maßnahmen der USA, der NATO und einzelner europäischer Staaten noch erheblich verstärkt. Hill hätte diesen russischen Bedenken daher noch mehr Gewicht beimessen müssen – doch sie scheint ihnen überhaupt kein Gewicht beizumessen.
Hill ist sich auch der russischen Angst vor Einkreisung und Angriffen bewusst, die sich aus der deutschen Invasion im Zweiten Weltkrieg ergibt. Sie stellt sogar fest: „Wladimir Putins eigene Familie hat unter der Belagerung von Leningrad gelitten.“ Das ist richtig, wenn auch etwas untertrieben: Wie Stephen F. Cohen beschreibt, „überlebten seine Mutter und sein Vater nur knapp tödliche Verwundungen und Krankheiten, sein älterer Bruder starb bei der Belagerung Leningrads durch die Deutschen, und auch mehrere seiner Onkel kamen ums Leben“. (34) Obwohl die genauen Zahlen nicht bekannt sind, starben während der deutschen Invasionen des Zweiten Weltkriegs etwa 25 Millionen Sowjetbürger, von denen die Hälfte – etwa 12,5 Millionen – in Russland getötet wurde. Das entspricht etwa jedem siebten damals lebenden Russen. (35)
Doch anstatt diese Fakten als relevant für die Frage nach den Sicherheitsbedenken Russlands zu betrachten oder Putin eine verständliche psychologische Sensibilität zuzugestehen, stellt Hill die familiären Verluste von Putin als weiteren Beleg für ihre Ansicht dar, er sei ein irrationaler Expansionist, der nicht durch plausible Sicherheitsbedenken motiviert sei. So fügt sie nach der Erwähnung seiner Verluste eine hämische rhetorische Verzierung hinzu: „Doch hier [beim Einmarsch in die Ukraine] tut Wladimir Putin genau dasselbe“, was Deutschland getan hat. Auch hier zeigt sich eine Diskrepanz in Hills Denken: Sie weiß, dass Russland und Wladimir Putin bei einer massiven Invasion auf dem Landweg große Verluste erlitten haben – dennoch ist sie nicht in der Lage, dieses Bewusstsein in ihr Verständnis der russischen Sicherheitsbedenken und der Beweggründe Wladimir Putins einfließen zu lassen.
Generell ist die russische Wahrnehmung äußerer Bedrohungen stark von seiner Vergangenheit geprägt: Zusätzlich zu den deutschen Invasionen im Zweiten und Ersten Weltkrieg war Russland schon hundert Jahre zuvor von Napoleon überfallen worden, dessen Armee bis nach Moskau reichte. Richard Sakwa, Professor für russische und europäische Politik an der Universität von Kent, England, beschreibt die entsprechende Geografie: «Moskau … hat keine zwei großen Ozeane, um sich zu verteidigen. Es hat keine Berge, die es verteidigen könnte. Keine großen Flüsse. Es liegt in einer riesigen nordeurasischen Ebene, hat keine zu verteidigenden Grenzen und ein ständiges Gefühl der Bedrohung durch den Westen.» (36)
Politische Falken sind sich dieser Tatsachen natürlich bewusst, aber anstatt zum Schluss zu kommen, dass Russlands jüngste Geschichte als psychologische Verstärkung für legitime Sicherheitsbedenken dienen könnte, tun diese Analysten so, als ob Russland überhaupt keine legitimen Sicherheitsbedenken hätte, und sie stellen sich vor, dass seine Führer paranoid sind, in der Vergangenheit leben und von einem angeborenen russischen Militarismus und einer wahnhaften Verteidigungsbereitschaft angetrieben werden.
Teil 6: Die US-Politiker wiederholen die Fehler der Vergangenheit
Ungeachtet des eindeutigen Scheiterns der westlichen Politik gegenüber Russland und der Ukraine doppeln diejenigen, die für die jahrzehntelangen provokativen Maßnahmen der USA und der NATO verantwortlich sind, jetzt noch einmal nach und behaupten, Russlands Einmarsch in die Ukraine beweise, dass sie die ganze Zeit über richtig lagen. Diese Analysten behaupten, der wahre Grund für die russische Invasion sei, dass die USA Russland nicht stärker unter Druck gesetzt hätten. Die plausiblere Erklärung allerdings ist, dass die vielen amerikanischen Politik-Experten, die vorausgesagt hatten, dass die NATO-Erweiterung zu einer Katastrophe führen würde, richtig lagen und dass sich ihre Vorhersagen nun auf schreckliche Weise bewahrheiten.
Nachdem die NATO-Erweiterung bis vor die Tore Russlands vorgedrungen war, erklärte George Kennan, dass der NATO-Beschluss eine sich selbst erfüllende Prophezeiung sei. Weit davon entfernt, den Westen zu schützen, so erklärte er, werde die Erweiterung die USA in einen Krieg mit Russland führen. Und sobald dieser Fall eintrete, so Kennan, würden die Befürworter der Erweiterung behaupten, dies beweise, dass der angeborene russische Militarismus die Ursache sei:
«Natürlich wird es eine böse Reaktion Russlands geben, und dann werden [die Befürworter der Erweiterung] sagen, dass wir euch immer gesagt haben, dass die Russen so sind – aber das ist einfach falsch». (37)
Kennans Vorhersage war doppelt richtig: Erstens in Bezug auf die russischen Reaktionen auf die NATO-Erweiterung und zweitens in Bezug auf die zirkuläre, sich selbst rechtfertigende Reaktion derjenigen westlichen politischen Falken, die auf der falschen Seite der Ereignisse standen.
Nur wenige in den US-Medien sprechen über diese Dinge. Wenn man sich das Fernsehen ansieht und die Zeitungen liest, könnte man sogar glauben, dass die Bedenken gegen die NATO-Erweiterung nie geäußert wurden oder dass sie nur am Rande eine Rolle spielten. Obwohl die Rolle der USA und der NATO-Staaten bei der Verursachung der Krise in der Ukraine offensichtlich sein sollte, sind viele Amerikaner und Europäer von einer Art „stellvertretendem Kriegsfieber“ befallen, wobei sie das große Ganze übersehen, aber mit den täglichen Details der Schlacht beschäftigt sind, getrieben von einer selbstgerechten Wut und der Überzeugung, dass die beste Politik darin besteht, immer mehr Waffen in die Ukraine zu pumpen, bis Putin seinen Unmut kundtut.
Angesichts der Intensität dieses Kriegsfiebers sollte es nicht überraschen, dass die wenigen US-Politiker, die die seltene Kombination aus Klarheit und Mut haben, die erforderlich ist, um die Hintergründe des Ukraine-Kriegs offen zu diskutieren, als Verräter bezeichnet werden. In Wahrheit sind sie Patrioten. Sie weigern sich, das Stammesspiel des „Mein Land kann nichts falsch machen“ zu spielen. Sie erkennen unbequeme historische Fakten als das an, was sie sind, und versuchen zu vermeiden, dass dieselben Fehler in Zukunft wiederholt werden. Und sie wollen die Auswirkungen dieser Tatsachen auf die Gegenwart erkennen, insbesondere in einer Weise, die Tod und Zerstörung in der Ukraine begrenzen und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit einer apokalyptischen nuklearen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen verringern könnte.
John Mearsheimer betrachtet die Situation aus einem aktuellen Blickwinkel und schreibt:
«Wir befinden uns in einer extrem gefährlichen Situation und die Politik des Westens verschärft diese Risiken noch. Für die russische Führung hat das, was in der Ukraine passiert, wenig damit zu tun, dass ihre imperialen Ambitionen vereitelt werden; es geht darum, mit dem umzugehen, was sie als direkte Bedrohung für Russlands Zukunft ansieht. Putin mag die militärischen Fähigkeiten Russlands, die Effektivität des ukrainischen Widerstands und den Umfang und die Geschwindigkeit der westlichen Reaktion falsch eingeschätzt haben, aber man sollte nie unterschätzen, wie rücksichtslos Großmächte sein können, wenn sie glauben, dass sie sich in einer Zwangslage befinden. Die USA und ihre Verbündeten setzen jedoch noch einen drauf, in der Hoffnung, Putin eine demütigende Niederlage beizubringen und vielleicht sogar seine Absetzung zu bewirken. Sie erhöhen die Hilfe für die Ukraine und setzen gleichzeitig Wirtschaftssanktionen ein, um Russland massiv zu bestrafen – ein Schritt, den Putin jetzt als „eine Art Kriegserklärung“ betrachtet.» (38)
Teil 7: Wie übermäßig pessimistische Erzählungen zu «sich selbst erfüllenden Prophezeiungen» werden
Die Geschichte eines bösen, irrationalen, von Natur aus expansionistischen Russlands mit einem paranoiden Führer an der Spitze, dem die tugendhaften USA und Europa gegenüberstehen, ist eine verworrene und seltsame Konfabulation, die mit einer ganzen Reihe von richtungsweisenden Ereignissen in den letzten 30 Jahren unvereinbar ist – Ereignisse, deren Bedeutung und Sinn sich eigentlich von selbst hätte erschließen müssen. Tatsächlich könnte die vorherrschende westliche Erzählung selbst als eine Art Paranoia betrachtet werden.
Die Provokationen, die die USA und ihre Verbündeten gegen Russland gerichtet haben, sind so schwerwiegende politische Fehler, dass die US-Führer, wäre der Fall gerade umgekehrt, schon längst einen Atomkrieg mit Russland riskiert hätten. Das Gegenteil zu behaupten, wie sie es jetzt tun, stellt eine gefährliche Missachtung der Realität dar. In einigen Fällen stellt diese Missachtung sicherlich vorsätzliche Demagogie dar. Bei einigen politischen Entscheidungsträgern muss sie jedoch gut gemeint sein, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie immer wieder neue Fakten im Lichte des gleichen verbrauchten Narrativs interpretieren.
Auch die großen Presseorgane tragen Verantwortung. Anstatt sich zu bemühen, die Ereignisse für ihre Leser in einen angemessenen Kontext zu setzen, haben die Medien es vorgezogen, die von der Regierung bevorzugte Darstellung in die Welt hinaus zu posaunen. Unabhängig von ihren Beweggründen haben die Mainstream-Medien ein Propagandaregime eingeführt, das die Öffentlichkeit fehlinformiert und von Russland nur als Affront gegen den nationalen Charakter seines Volkes empfunden werden kann. Die Online-Informationsanbieter tun oft das Gleiche. Wie der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalist und Anwalt für das Recht auf freie Meinungsäußerung Glenn Greenwald gezeigt hat, findet auf vielen Ebenen der Gesellschaft sowohl in den USA als auch in Europa eine massive Zensur abweichender Meinungen statt. (39)
Obwohl es schwierig ist, die schrecklichen Bilder aus der Ukraine ohne Abscheu und Wut zu betrachten, ist es ein gefährlicher Fehler, blinden Emotionen zu erliegen und sich dem vorherrschenden westlichen Narrativ anzuschließen. Es stärkt die schlimmsten Kräfte in Washington, einschließlich der Verquickung bürokratischer Macht und kommerzieller Interessen, was Präsident Eisenhower, ein Fünf-Sterne-General der Armee, als «militärisch-industriellen Komplex» bezeichnet hatte und vor dem er die amerikanische Öffentlichkeit in seiner letzten Fernsehansprache als US-Präsident auch warnte. Dieses Narrativ hat die russophobsten und militaristischsten europäischen NATO-Führer sowie diejenigen, die am wenigsten Mut haben, sich gegen die fehlgeleitete amerikanische Politik zu stellen, erst möglich gemacht. Das Narrativ vernebelt das Bewusstsein der amerikanischen und europäischen Bürger und führt zu Hurrapatriotismus und zu Kriegstreiberei.
Mein Hauptziel in diesem Aufsatz ist es, ein falsches Narrativ zu korrigieren, und zwar aus einem sehr praktischen Grund: weil falsche Narrative zu schlechten Ergebnissen führen. Narrative spiegeln sich unweigerlich in Verhaltensweisen wider; sie sind sowohl beschreibend als auch erzeugend. Indem sie als Modelle der Realität fungieren, dienen Narrative als Leitfaden für das Handeln. Durch die Dynamik von Aktion und Reaktion, Vorstoß und Rückstoß können sie dann die Ergebnisse hervorbringen, die sie als bereits vorhanden darstellen. Auf diese Weise kann ein Narrativ, das die Absichten eines potenziellen Gegners übermäßig pessimistisch einschätzt, was ich als „Narrativ des Misstrauens“ bezeichne, genau die Bedrohungen verstärken, die es zu entschärfen vorgibt.
Dieser Beschreibung liegt die klassische Dynamik eines Wettrüstens zugrunde, das in Eskalation und Krieg gipfelt. Sie verkörpert nicht das Paradigma des Zweiten Weltkriegs mit den damit verbundenen Bildern von unerbittlichem Expansionismus und westlichem Appeasement, sondern das des Ersten Weltkriegs, in dem Deutschland, Großbritannien, Westeuropa und schließlich Amerika schlafwandlerisch in eine Katastrophe hineinliefen. Doch heute kann eine Katastrophe aufgrund der Beschaffenheit von Atomwaffen leichter und mit verheerenderen Auswirkungen eintreten.
Wie im Ersten Weltkrieg versucht jede Seite, sich durch eine militärische Strategie, die notwendigerweise auch ein offensives Potenzial hat, unverwundbar zu machen – ein zweischneidiges strategisches Schwert, das politische Analysten als „Sicherheitsdilemma“ bezeichnen. Dies ist genau das, was George Kennan in Bezug auf die NATO-Erweiterung vorausgesagt hat und womit er Recht behalten hat. Diese Expansion, die im Namen der Verteidigung gerechtfertigt wurden, wurde von Russland als offensive Bedrohung wahrgenommen und führte zu Handlungen, die wiederum vom Westen als expansionistisch wahrgenommen werden. Richard Sakwa gab 2014 einen prägnanten Rückblick auf die Situation, die Kennan vorausgesehen hatte:
«Letztendlich wurde die Existenz der NATO durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die durch ihre Erweiterung hervorgerufenen Sicherheitsbedrohungen zu bewältigen. Die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes und die baltischen Staaten traten der NATO bei, um ihre Sicherheit zu erhöhen, aber gerade dadurch entstand für Russland ein Sicherheitsdilemma, das die Sicherheit aller untergrub.» (40)
Und seit Sakwa das geschrieben hat, hat sich die Situation nur noch verschlimmert, nicht zuletzt, weil die USA und ihre Verbündeten parallel dazu eine Reihe von militärischen Expansionen auch außerhalb der NATO durchgeführt haben.
Putin ist, ungeachtet seiner autoritären Tendenzen, nicht auf einem festen Weg geboren. Im gegenwärtigen Zeitgeist mag es als ketzerisch angesehen werden, das Offensichtliche auszusprechen: dass Putin, wie alle Menschen, von einer Kombination aus inneren Faktoren – seiner Psychologie, seinen Überzeugungen und Werten – und äußeren Faktoren – den dynamischen äußeren Umständen, mit denen er konfrontiert ist – beeinflusst wird. Dies ist einfach eine Binsenweisheit. Ebenso ist es eine Binsenweisheit, dass die chronische Einwirkung bestimmter Muster äußerer Ereignisse die inneren Tendenzen eines Menschen verändern kann, oder zumindest einige Tendenzen auf Kosten anderer, manchmal auch entgegengesetzter Tendenzen, selektiv verstärken kann.
Schritt für Schritt, in kleinen und großen Schritten, hat der Westen die berechtigten Sicherheitsbedenken Russlands missachtet und sie als irrelevant betrachtet, wodurch die russische Sorge vor Einkreisung und Invasion geschürt wurde. Gleichzeitig haben die USA und ihre europäischen Verbündeten angenommen, dass ein rationaler Akteur durch die Absichtserklärungen des Westens beruhigt würde: dass die Waffen, die Ausbildung und die Interoperabilitätsübungen, egal wie provokativ, mächtig oder nahe an Russlands Grenzen, rein defensiv seien und nicht gefürchtet werden müssten. In vielen Fällen haben westliche Staats- und Regierungschefs, vor allem aus den USA, Putin aktiv missachtet und ihn mehrere Male direkt beleidigt.
Dabei hat der Westen den Eindruck erweckt, Putin bilde sich strategische Bedrohungen ein, die in Wirklichkeit gar nicht existieren. Dieses westliche Framing – das einen Mangel an legitimen russischen Sicherheitsbedenken in Verbindung mit impliziten und expliziten Vorwürfen der Irrationalität unterstellt – liegt einem Großteil der derzeit vorherrschenden Darstellung zugrunde. Sie ist auch die Basis für die ideologische Position der Anti-Russland-Falken, die in Washington eine so prominente Rolle spielen. In persönlichen Beziehungen würde man die Kombination aus Drohungen und Anschuldigungen der Paranoia als Brandstifter bezeichnen. Ist die Situation auf dem Gebiet der internationalen Politik wirklich so anders?
In Zeiten von Krieg und militärischer Bedrohung neigen selbst die Führer freier Länder zum Autoritarismus. Wenn sie eine große Gefahr wittern, können sie die Zügel der Macht straffen, eine Kontrolle von oben nach unten durchsetzen und die Kategorie der als verräterisch geltenden Handlungen und Äußerungen im Inland erweitern. Es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass die in diesem Aufsatz beschriebenen Provokationen in den Köpfen von Putin und anderen Mitgliedern der politischen und militärischen Klasse Russlands ein Gefühl der Belagerung und des Notstands hervorgerufen haben. Ich will damit sagen, dass man die Möglichkeit in Betracht ziehen muss, dass westliche Maßnahmen nicht nur zu Russlands Außenpolitik, sondern auch zu ungünstigen Aspekten der russischen Innenpolitik beigetragen haben. Tatsächlich sagte George Kennan dies 1998 voraus: Er sagte, die NATO-Erweiterung würde sich „negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken“.
Politische Akteure, sowohl Einzelpersonen als auch Unternehmen wie Bürokratien und Staaten, sind keine statischen Gebilde. Vielmehr ergeben sich die menschlichen Entscheidungen, die wir „Politik“ nennen, aus einer Verkettung bewusster Absichten, unbewusster Motivationen, historischer Zufälle und persönlicher, menschlicher Interaktionen, einschließlich unverhohlener Drohungen, Demütigungen und respektloser Worte, wie sie aus dem Mund von Joe Biden kamen. Und es ist durchaus möglich, dass die Handlungen der USA und ihrer europäischen Verbündeten eine tiefgreifendere Wirkung auf die Politik von Putin, einschließlich seiner Innenpolitik, ausübten und weiterhin ausüben, als einige zu glauben geneigt sind. (42)
Teil 8: Eine kontrafaktische Geschichte – und eine Schlussfolgerung
Wer trägt die Verantwortung für die humanitäre Katastrophe in der Ukraine, für den Tod Tausender ukrainischer Zivilisten und Soldaten und für die Einberufung ukrainischer Zivilisten zum Militär? Wer trägt die Verantwortung für die Zerstörung ukrainischer Häuser und Unternehmen und für die Flüchtlingskrise, die nun zu der aus dem Nahen Osten hinzukommt? Wer trägt die Verantwortung für den Tod Tausender meist sehr junger Männer, die im russischen Militär dienen, von denen die meisten sicherlich wie ihre ukrainischen Kollegen glauben, dass sie für den Schutz ihrer Nation und ihrer Familien kämpfen? Wer trägt die Verantwortung für den anhaltenden Schaden, der der Wirtschaft und den Bürgern Europas und der Vereinigten Staaten zugefügt wird? Wer trägt die Verantwortung, wenn Störungen in der Landwirtschaft zu Hungersnöten in Afrika führen, einem Kontinent, der in hohem Maße von der Einfuhr von Getreide aus der Ukraine und Russland abhängig ist? Und wer trägt schließlich die Verantwortung, wenn der Krieg in der Ukraine zu einem nuklearen Schlagabtausch eskaliert und dann zu einem ausgewachsenen Atomkrieg wird?
Die Antwort auf all diese Fragen ist eigentlich ganz einfach: Putin ist verantwortlich. Er hat den Krieg begonnen und leitet mit seinen Militärplanern dessen Verlauf. Er hätte nicht in den Krieg ziehen müssen. Das sind Tatsachen. Aber Tatsachen müssen im Zusammenhang mit anderen Tatsachen interpretiert werden, auch mit solchen, die längst aus den Schlagzeilen verschwunden sind oder die es gar nicht erst gegeben hat. Dabei wird deutlich, dass die politischen Entscheidungsträger in den USA und Europa eine erhebliche Verantwortung für den Krieg tragen.
Wie man die relative Verantwortung Moskaus, Washingtons und der verschiedenen europäischen Hauptstädte beurteilt, hängt davon ab, wie man bestimmte historische Ereignisse, die Handlungen der beteiligten Personen und die relative Bedeutung, die man der inneren und äusseren Verursachung beimisst, gewichtet. Dennoch wage ich die Einschätzung, dass, wenn man alles berücksichtigt, die Hauptverantwortung beim Westen und insbesondere bei den USA liegt. Ich kenne keinen völlig zufriedenstellenden Weg, um diesen Punkt zu argumentieren; es gibt keine validierte Methode, um die Schuld auf eine Reihe von Akteuren zu verteilen, die alle zumindest eine gewisse Handlungs- und Entscheidungsfreiheit haben. Ich glaube jedoch, dass wir einen Einblick gewinnen können, indem wir eine kontrafaktische Geschichte konstruieren, die die Frage stellt: Wo stünden wir heute, wenn die USA anders gehandelt hätten? Dies ist ein Spiel mit dem „Was wäre wenn“ – und die Projektionen, die dabei entstehen, können niemals bewiesen oder widerlegt werden. Aber diese kontrafaktische Betrachtung lässt sich gut mit der Geschichte der letzten 30 Jahre vereinbaren und ist meiner Meinung nach sowohl aufschlussreich als auch überzeugend.
Hätten die USA die NATO nicht bis an die Grenze Russlands gedrängt; hätten sie nicht nuklearfähige Raketen-Abschussanlagen in Rumänien stationiert und für Polen und vielleicht auch anderswo geplant; hätten sie nicht zum Sturz der demokratisch gewählten ukrainischen Regierung im Jahr 2014 beigetragen; nicht den ABM-Vertrag und dann den Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen aufgekündigt und dann die russischen Versuche, ein bilaterales Moratorium für die Stationierung auszuhandeln, missachtet; keine Schießübungen mit Raketen in Estland durchgeführt, um den Abschuss von Zielen innerhalb Russlands zu üben; keine massive militärische Übung mit 32 Nationen in der Nähe des russischen Hoheitsgebiets koordiniert; das US-Militär nicht mit dem der Ukraine verflochten; das US-Militär nicht mit dem der Ukraine verflochten. Hätten die USA und ihre NATO-Verbündeten diese Dinge nicht getan, wäre der Krieg in der Ukraine wahrscheinlich nicht zustande gekommen. Ich denke, das ist eine vernünftige Behauptung.
Ich würde sogar behaupten, dass die Dinge heute ganz anders aussähen, wenn zwei oder drei der vielen hier diskutierten Provokationen nicht stattgefunden hätten. Ich habe bereits die Analogie einer Strandburg verwendet, die mit Sand gebaut wurde. Obwohl man nicht ohne weiteres vorhersagen kann, wie viel Sand in welcher Anordnung das Bauwerk tragen kann, ist klar, dass das Bauwerk umso instabiler wird, je größer die Sandmenge, je höher die Stapel und je unsicherer die Platzierung ist. Ich würde sagen, dass der Westen Tassen und Schalen von Sand auf eine Struktur aufgeschüttet hat, die ein klar denkender, rationaler Akteur als wahrscheinlich zum Zusammenbruch führend erkannt hätte. Der Krieg in der Ukraine ist ein solcher Zusammenbruch, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass nicht noch mehr Katastrophen folgen werden, egal wie sehr sich die Kriegsplaner in den USA einbilden, Russlands militärische Kapazitäten dchwächen zu können.
Und selbst das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Die US-Regierung hat durch ihre Worte und Taten die ukrainische Führung und das ukrainische Volk möglicherweise dazu gebracht, eine unnachgiebige Haltung gegenüber Russland einzunehmen. Anstatt auf einen Verhandlungsfrieden im Donbass zwischen Kiew und prorussischen Autonomisten zu drängen und diesen zu unterstützen, haben die USA stark nationalistische Kräfte in der Ukraine gefördert. Sie belieferten die Ukraine mit Waffen, verstärkten die militärische Integration und die Ausbildung des ukrainischen Militärs, weigerten sich, die Pläne zur Eingliederung der Ukraine in die NATO aufzugeben, und erweckten bei der ukrainischen Führung und Bevölkerung möglicherweise den Eindruck, dass sie im Namen der Ukraine direkt in den Krieg gegen Russland ziehen würden.
All dies mag sich auf Wolodymyr Selenskyj ausgewirkt haben, der seine Wahl 2019 mit über 70 Prozent Unterstützung in der Bevölkerung gewann und mit einer Friedensplattform antrat. Doch am Ende konnte er sich nicht durchsetzen. Selbst im Angesicht des drohenden Krieges wollte er des Friedens willen keine Kompromisse eingehen. Am 19. Februar, fünf Tage vor dem russischen Einmarsch, traf sich Selenskyj in München mit Bundeskanzler Olaf Scholz. Nach Angaben des Wall Street Journal schlug Scholz vor, ein Friedensabkommen zu vermitteln. Er sagte Selenskyj, die Ukraine solle auf ihre NATO-Bestrebungen verzichten und als Teil eines umfassenderen europäischen Sicherheitsabkommens zwischen dem Westen und Russland ihre Neutralität erklären. Der Pakt würde von Putin und Biden unterzeichnet, die gemeinsam die Sicherheit der Ukraine garantieren würden. Selenskyj sagte, man könne Putin nicht zutrauen, ein solches Abkommen einzuhalten, und dass die meisten Ukrainer der NATO beitreten wollten. Seine Antwort ließ deutsche Beamte besorgt zurück, die Chancen auf Frieden würden schwinden. (43)
In einem kürzlich erschienenen Interview meinte Richard Sakwa, dass Wolodymyr Selenskyj mit nur fünf Worten Frieden mit Russland hätte schließen können: «Die Ukraine wird nicht der NATO beitreten.» Sakwa fuhr fort: «Wenn Putin geblufft hat [über die entscheidende Bedeutung der NATO-Erweiterung], dann sollte er bluffen. Stattdessen … hatten wir diesen katastrophalen Krieg … Es war ein leichtfertiger Umgang mit dem Schicksal einer Nation und vor allem mit dem Schicksal seines eigenen Volkes.» (44)
Wie kam es, dass ein Verfechter des Friedens, der ein starkes Wahlmandat für Verhandlungen über ein Ende des Donbass-Konflikts hatte, sich auf die Hinterbeine stellte und auf Krieg setzte? Ich würde behaupten, dass die Ukraine, wenn ihr nicht von den USA fehlgeleitete und unrealistische Vorstellungen aufgezwungen worden wären, längst einen Modus Vivendi mit Russland ausgearbeitet und wahrscheinlich eine Haltung der politischen Neutralität eingenommen hätte – etwas, das die Ukraine jetzt, und nur wenn sie Glück hat, nach der Zerstörung der Hälfte ihres Landes, dem Tod Tausender und der Vertreibung und Verelendung von Millionen noch erreichen könnte. Die Neutralität hat in Europa eine ehrwürdige Geschichte. Sowohl Österreich als auch Finnland haben sich gegenüber der Sowjetunion neutral verhalten und daraus großen Nutzen gezogen. Auch wenn sich die Regierungsform in Moskau geändert hat, ist die geostrategische Begründung für die Neutralität dieselbe geblieben. Warum geschah dies nicht mit der Ukraine?
Kurz nach der Wahl Selenskyjs im Jahr 2019 deutete Stephen F. Cohen in einem Interview an, dass Selenskyj die aktive Unterstützung der USA benötigen würde, um dem Druck – einschließlich der Drohungen gegen sein Leben – von der extremen Rechten in der Ukraine standzuhalten. Ohne diese Unterstützung, so prognostizierte Cohen, werde Selenskyj nicht in der Lage sein, sich um Frieden zu bemühen:
«Der neue Präsident der Ukraine, Selenskyj, kandidierte als Friedenskandidat. … Er hat ein enormes Mandat gewonnen, um Frieden zu schaffen. Das bedeutet also, dass er mit Wladimir Putin verhandeln muss. … Aber seine Bereitschaft – und das ist wichtig und wird hier [in den USA] nicht gut berichtet –, direkt mit Putin zu verhandeln, … erforderte von [Selenskyj] beträchtliche Kühnheit, denn es gibt in der Ukraine Gegner, und die sind bewaffnet. Einige Leute sagen, sie seien faschistisch, aber sie sind mit Sicherheit ultranationalistisch, und sie haben gesagt, dass sie Selenskyj absetzen und töten werden, wenn er auf dieser Linie der Verhandlungen mit Putin weitermacht. … Selenskyj kann nicht weitermachen … es sei denn, Amerika hält ihm den Rücken frei. Vielleicht wird das nicht ausreichen, aber wenn das Weiße Haus diese Diplomatie nicht unterstützt, hat Selenskyj keine Chance ….» (45)
Soweit ich weiß, hat Selenskyj nie nennenswerte amerikanische Unterstützung bei der Verfolgung seiner Friedensagenda erhalten. Stattdessen wurde er wiederholt von führenden amerikanischen Politikern und Beamten des Außenministeriums besucht, die alle ein theoretisches Prinzip der absoluten ukrainischen Freiheit verkündeten, definiert als das „Recht“, der NATO beizutreten und einen militärischen Außenposten der USA an der russischen Grenze zu errichten. Am Ende war diese „Freiheit“ schlimmer als ein Hirngespinst: Obwohl sie die Ziele der USA – oder genauer gesagt die Interessen bestimmter amerikanischer politischer, militärischer und finanzieller Gruppierungen – förderte, zerstörte sie die Ukraine.
Und selbst aus einer engstirnigen amerikanischen Perspektive war der gesamte westliche Plan ein gefährliches Bluffspiel, das aus schwer zu ergründenden Gründen durchgeführt wurde. Die Ukraine ist nicht im Entferntesten ein vitales Sicherheitsinteresse der USA. In der Tat spielt die Ukraine kaum eine Rolle. Aus amerikanischer Sicht – und ich sage das respektlos vor dem ukrainischen Volk – ist die Ukraine irrelevant. Die Ukraine ist für die Bürger der USA nicht wichtiger als irgendeines der fünfzig anderen Länder, die die meisten Amerikaner aus verständlichen Gründen nicht einmal auf einer Landkarte finden könnten, ohne lange zu suchen. Also ja, die Ukraine ist für Amerika irrelevant. Und wenn die Führer der USA und der NATO diese offensichtliche Tatsache anerkannt hätten, wäre das alles nicht passiert.
Im Gegensatz dazu ist die Ukraine für Russland – mit seiner 1200 Meilen langen gemeinsamen Grenze und seiner Geschichte dreier großer Invasionen auf dem Landweg aus dem Westen, von denen zwei im letzten Jahrhundert stattfanden und die letzte den Tod von etwa 13 Prozent der gesamten russischen Bevölkerung zur Folge hatte – das vitalste aller vitalen Interessen.
Die existenzielle Bedrohung, die Russland durch eine vom Westen bewaffnete, ausgebildete und militärisch integrierte Ukraine wahrnimmt, hätte Washington von Anfang an klar sein müssen. Welcher vernünftige Mensch könnte wirklich glauben, dass die Aufstellung eines westlichen Waffenarsenals an Russlands Grenze keine starke Reaktion hervorrufen würde? Welcher vernünftige Mensch könnte glauben, dass die Aufstellung dieses Arsenals die amerikanische Sicherheit erhöhen würde? Und wenn es noch Unklarheiten gab, hätten sie 2008 beseitigt werden müssen, als der US-Botschafter in Russland, William Burns, der jetzt Bidens CIA leitet, nach Washington telegrafierte, die Ukraine sei für Russland die roteste aller roten Linien. Man muss kein Raketenwissenschaftler sein, um zu verstehen, warum. Dennoch scheint diese transparente Realität vielen im Außen- und Verteidigungsministerium der USA, in der NATO und den Medien sowie dem amtierenden amerikanischen Präsidenten undurchsichtig zu sein.
Was bedeutet dies nun für die Bürger der USA und ihrer europäischen Verbündeten?
Offen gesagt, sie – wir – sind in einer sehr schlechten Lage. Es ist eine Situation, die nicht nur äußerst gefährlich ist und die ganze Welt dem Risiko eines Atomkriegs aussetzt: Es ist eine Situation, die nur durch ein Maß an Dummheit und Blindheit der amerikanischen Regierung und durch ein Maß an Ehrerbietung und Feigheit der europäischen Führer den USA gegenüber, Red.) erreicht werden konnte, das fast unvorstellbar ist. In einem Interview wurde Gilbert Doctorow kürzlich gefragt, was die amerikanischen Bürger am meisten über den Krieg wissen sollten. Seine Antwort: «Ihr Leben ist in Gefahr.» Und er fuhr fort,
«Putin hat zu Protokoll gegeben, dass er sich eine Welt ohne Russland nicht vorstellen kann. Und wenn die Amerikaner die Absicht haben, Russland zu zerstören, dann wird die amerikanische Absicht die Selbstzerstörung sein. …. [Amerika] steht vor einer existenziellen Bedrohung, die es selbst geschaffen hat. Und der Ausweg aus dieser Bedrohung liegt für jeden vor der Nase: ein Deal mit Putin ….» (46)
Die politischen Entscheidungsträger in Washington und den europäischen Hauptstädten – zusammen mit den gefangenen, feigen Medien, die ihren Unsinn kritiklos verbreiten – stehen jetzt bis zu den Hüften in einem Fass mit zähem Schlamm. Es ist schwer vorstellbar, wie diejenigen, die töricht genug waren, in dieses Fass zu steigen, die Weisheit haben werden, sich selbst zu befreien, bevor sie das Fass zum Kippen bringen und den Rest von uns mit in den Abgrund reißen.
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Diese Analyse erschien zuerst in englischer Sprache auf //medium.com/@benjamin.abelow/western-policies-caused-the-ukraine-crisis-and-now-risk-nuclear-war-1e402a67f44e" data-type="URL" data-id="https://medium.com/@benjamin.abelow/western-policies-caused-the-ukraine-crisis-and-now-risk-nuclear-war-1e402a67f44e">medium.com . Dort können auch die einzelnen Fussnoten eingesehen werden. Benjamin Abelow hat Globalbridge.ch erlaubt, den Beitrag ins Deutsche zu übersetzen und zu publizieren. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.
Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
>>>>>> Siehe auch: «Wer jetzt noch die Grünen wählt, ist kein Mitläufer, sondern ein Mittäter» (von Jens Berger auf den NachDenkSeiten)
>>>>>> Siehe auch: «Das Ende der Kriegsmüdigkeit» (auf German Foreign Policy)