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Putins Reden zwischen 2001 und 2022 zeigen, wie wichtig ihm Geschichte ist

27. April 2023 Autor: René-Burkhard Zittlau - übernommen mit Dank von globalbridge.ch
28. April 2023
Die letzten Wochen, Monate und Jahre haben gezeigt, wie der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Ex-Kanzlerin Angela Merkel, Ex-Präsident Hollande oder auch z.B. von ukrainischer Seite Ex-Präsident Poroschenko oder der ukrainische Ex-Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk  – von der aktuellen ukrainischen Führung ganz zu schweigen  – mit dem Recht und der Geschichte umgehen. Ihr dabei offenbartes  – im Westen widerspruchslos hingenommenes  – Verständnis des Ordnungssystems Recht, welches das Zusammenleben von Gesellschaften, Staaten und Völkern regelt, und ihre geradezu willkürliche Auslegung von Geschichte sind erschreckend.

globalbridge Vladimir Putin im Kreml 2022 09 21Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation, im September 2022 in seinem Büro. (Foto Kremlin.ru)

Dieses Verhalten gibt jenen recht, die die NATO und den Westen seit Jahren kritisieren, insbesondere, aber eben nicht nur, Russland und die Ukraine betreffend. Es lässt für die Zukunft in Sachen Recht und Diplomatie westlicher Prägung nichts Gutes erwarten.

UNO, BRICS, SOC

Im Gegensatz zum Westen mit seinen Satelliten   – auch die Bezeichnung Vasallen wäre hier angebracht   – pflegen andere Staaten einen deutlich differenzierteren Umgang mit der Vergangenheit. Zu ihnen zählen nicht nur China, Indien oder einige wenige afrikanische Staaten. Auch wenn es dafür keine Statistik gibt, so dürfte es sich bei ihnen um die Mehrheit der UNO-Mitglieder handeln, also die Mehrheit aller Staaten überhaupt: Diese Staaten, zu denen ohne jeden Zweifel auch Russland gehört, betrachten die Geschichte als Summe der gemeinsamen Völkerhistorien und legen großen Wert darauf, ihr Handeln in eine Kontinuität des Gewesenen zu stellen, unter Berücksichtigung gemeinsam gezogener Lehren   – und das nicht zum Vorteil einer kleinen Gruppe von Staaten. 

Mit anderen Worten, sie betrachten diese Werte als gemeinsames Erbe. Nichts anderes stellen die UNO-Charta und das um sie herum geschaffene Regelwerk dar, die sogenannte „Rechtsbasierte Ordnung“. 

Kein Zweifel, die UNO ist aktuell in einem bedauernswerten Zustand und es spricht vieles dafür, dass sie in der heutigen Form nicht überleben wird. Dennoch ist sie der einzige gemeinsame Anker, den die Staaten der Welt haben, auch wenn mit BRICS und SOC sich Neues entwickelt. Da es Kräfte gibt, welche die UNO offensichtlich privatisieren oder gar abschaffen wollen, muss man fragen, wem das nützt. Als negatives Beispiel sei an dieser Stelle die WHO genannt. Einst als ausschließlich staatenfinanzierte Unterorganisation der UNO gegründet, sind die mit Abstand größten Financiers der WHO heute privat organisierte Strukturen. Die Folgen traten in den letzten Jahren schmerzlich zutage.  

Als die Vorgängerorganisation der UNO, der Völkerbund, handlungsunfähig wurde, begann kurze Zeit später der bislang grausamste Waffengang in der Geschichte der Menschheit. Die Gefahr ist so groß wie seit 1945 nicht mehr, dass die Welt im großen Maßstab erneut zum Schauplatz von Gewalt und Elend werden kann. Den Kontrahenten stehen dieses Mal Waffen und Technologien zur Verfügung, deren nur teilweise Kenntnis Einstein folgendes sagen ließ: „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“

Russlands Umgang mit Geschichte 

Von den 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges entfielen allein 27 Millionen auf die damalige Sowjetunion. Damals hatte sie eine Gesamtbevölkerung von nicht einmal 200 Millionen. Es sind vor allem diese erschütternden Zahlen, die den russischen Präsidenten Putin in seiner 20-jährigen Amtszeit bei praktisch all seinen großen Reden umtrieben, wenn er in ihnen Bezüge zur Geschichte herstellte. Dabei schwang er diese Zahlen nicht drohend um sich wie ein Schwert, sondern er formulierte eindringlich, mahnend, trotz aller Schwierigkeiten immer bemüht, das Verbindende zu suchen und zu betonen. Ausgehend von den historischen Schwerpunkten, die Putin in ihnen setzte, lässt sich unschwer der jeweilige Stand der Beziehungen zum Westen ablesen. Schauen wir ein wenig genauer hin.

Putins Rede im Deutschen Bundestag am 25.09.2001

Als erste Rede möchte ich hier seinen Auftritt im Deutschen Bundestag anführen. Diese Rede hielt er am 25.September 2001, nicht einmal zwei Jahre nachdem er sein Amt übernahm. Putin ist ein Deutschland-Kenner. Er verehrt die deutsche Sprache und Kultur, was er zu den verschiedensten Anlässen immer wieder freimütig bekannte. Es ist also davon auszugehen, dass er diese Rede besonders sorgfältig vorbereitet hatte. Er packte alles Positive, das er finden konnte, in diese Rede.  

Ausgehend von der schrecklichen gemeinsamen Geschichte zweier verheerender Kriege gegeneinander, die trotz der vielen Gemeinsamkeiten in Kultur und Wirtschaft ausbrachen, spann er einen Bogen über Jahrhunderte hinweg, immer das Gemeinsame, das Verbindende, die Möglichkeiten betonend, ohne jedoch die schmerzhaften Seiten wegzulassen. Kein Vorwurf schwang dabei mit, allerdings sehr offen der Wunsch, ein gemeinsames Haus aller Staaten in Europa zu errichten, ungeachtet aller Probleme:

„Noch vor kurzem schien es so, als würde auf dem Kontinent bald ein richtiges gemeinsames Haus entstehen, in welchem Europäer nicht in östliche und westliche, in nördliche und südliche geteilt werden. Solche Trennungslinien bleiben aber erhalten, und zwar deswegen, weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen und ideologischen Klischees des Kalten Krieges befreit haben.“ (Präsident Putin vor dem deutschen Bundestag, 25. September 2001)

Diese Rede kann man als diejenige bezeichnen, in welcher Russland Deutschland, dem Westen insgesamt, am nächsten kam. Putin bot eine allumfassende Zusammenarbeit auf allen Gebieten an und hoffte auf eine gemeinsame, friedliche, für alle Seiten erfolgreiche Zukunft. Als Zeichen seiner besonderen Wertschätzung für Deutschland hielt er diese Rede fast ausschließlich auf Deutsch. 

Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahre 2007

Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 ging ebenso auf die Geschichte ein. Sie ist ein Zeitzeugnis besonderer Art. In dieser Rede nahm Putin zukünftige Entwicklungen vorweg, die für viele zum damaligen Zeitpunkt noch nicht greifbar waren. Es geht nicht mehr um das Verbindende, was sich selbst verbal festmachen lässt. In Berlin kam das Wort „gemeinsam“ sechsmal in den verschiedensten positiv besetzen Zusammenhängen vor. In München genau einmal: „Lassen sie uns gemeinsam daran arbeiten.“ Und zwar an einem Vertragsentwurf über die Vermeidung der Stationierung von Waffen im Weltraum. Thema war ausschließlich die Sicherheit, die Putin durch die Entwicklungen der vorausgehenden Jahre erneut gefährdet sah. 

Dafür fand sich das Wort „monopolar“ fünfmal. Und nicht einmal war es positiv konnotiert: Exemplarisch möchte ich folgende Passage herausheben: 

„Die Menschheitsgeschichte kennt natürlich auch Perioden eines monopolaren Zustandes und des Strebens nach Weltherrschaft. Alles war schon mal da in der Geschichte der Menschheit. Aber was ist eigentlich eine monopolare Welt? Wie man diesen Terminus auch schmückt, am Ende bedeutet er praktisch nur eines: Es gibt ein Zentrum der Macht, ein Zentrum der Stärke, ein Entscheidungs-Zentrum. Es ist die Welt eines einzigen Hausherrn, eines Souveräns. Und das ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört.“ (Präsident Putin, Münchner Sicherheitskonferenz 2007) (Red. Die Rede Putins an der Sicherheitskonferenz 2007 in München kann hier in deutscher Übersetzung nachgelesen werden.)

Der politische Wind hatte sich komplett gedreht. Die Ereignisse des Jahres 2008   – gemeint ist hier der Georgien-Krieg   – bestätigten den negativen Trend auf ihre Art. Ich möchte daran erinnern, dass eine offizielle Untersuchung der EU zu dem Ergebnis kam, dass Georgien diesen Krieg begonnen hat. 

Rede vom 21. Februar 2022 aus Anlass der Aufnahme der Regionen Donezk und Luhansk in die Russische Föderation

Als letzte Reden in dieser Reihe seien die beiden genannt, die der militärischen Spezialoperation im Donbass und der Ukraine unmittelbar vorausgingen. Zum einen die Rede vom 21. Februar 2022 aus Anlass der Aufnahme der Regionen Donezk und Luhansk in die Russische Föderation, zum anderen die Rede vom 24. Februar 2022 aus Anlass des Beginns der Kampfhandlungen im Donbass und der Ukraine. Da beide praktisch zeitgleich und durch einander bedingende Ereignisse gehalten wurden, möchte ich sie hier gemeinsam abhandeln. In beiden spielt die Geschichte erneut eine überragende Rolle. 

Putin leitet die den Reden vorausgegangenen historischen Entscheidungen ausführlich aus den geschichtlichen Ereignissen her. In seiner Rede zur Aufnahme von Donezk und Lugansk geht er teilweise sehr weit zurück, nicht nur bis zur Zeit der russischen Oktoberrevolution, sondern bis in das 17. Jahrhundert, als sich die ukrainischen Hejtmane freiwillig dem russischen Zaren unterwarfen. Allerdings legt er einen großen Schwerpunkt auf politische Fehler der Führer der Sowjetunion, die praktisch nicht nur die Lunte an die heutigen Ereignisse legten, sondern zum Glimmen brachten. Damit erklärt er die geschichtliche und kulturelle Folgerichtigkeit der getroffenen Entscheidungen. Ihre Unvermeidlichkeit ergibt sich aus seiner Sicht aus den Handlungen der ukrainischen Führung seit 1990, befeuert durch NATO und EU. 

Es sei auch an dieser Stelle noch einmal an die Äußerungen des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg erinnert, getätigt am 14. Februar 2023 auf einer NATO-Presskonferenz in Brüssel: „Der Krieg begann 2014!

Rede vom 24. Februar 2022 aus Anlass des Beginns der Kampfhandlungen im Donbass und der Ukraine

Die Rede zur Aufnahme der Kampfhandlungen schließt nahtlos an jene vom 21. Februar 2022 an. Sie behandelt detailliert die Ereignisse der ukrainischen und russischen Geschichte der letzten 30 Jahre. Hierbei gibt Präsident Putin den letztlich erfolglosen Bemühungen Russlands zu einer friedlichen Lösung der entstandenen Probleme breiten Raum. 

Vieles, was Putin zum Verhältnis Russland   – NATO bzw. EU ausführt, erscheint als Déjà-vu, wenn man seine Münchner Rede von 2007 kennt. Er kritisiert ungeschminkt wie nie zuvor das Handeln von USA, NATO und EU, das als alleiniges Ziel eine Art neuen Absolutismus anstrebe, die Schaffung einer absoluten Überlegenheit zur Durchsetzung praktisch beliebiger Ziele. Dabei spiele das Völkerrecht keine Rolle, „sondern die Umstände, die sie nach ihrem Gutdünken interpretieren“

Libyen, Irak, Jugoslawien seien entsprechend logische Folgen dieses Allmachtsanspruchs gewesen. Auf diese NATO-Kriege geht er detailliert ein, um dann festzustellen: 

„Trotz allem haben wir im Dezember 2021 erneut versucht, mit den USA und ihren Verbündeten eine Einigung über die Sicherheitsgrundsätze in Europa und über die Nichterweiterung der NATO zu erzielen. Alles umsonst. Der Standpunkt der USA hat sich nicht geändert. Sie halten eine Einigung mit Russland in dieser für uns wichtigen Frage nicht für notwendig, sie verfolgen ihre eigenen Ziele und setzen sich über unsere Interessen hinweg.“ (Präsident Putin am 24. Februar 2022)

So schliesst sich der Kreis in seiner Rede mit einem Verweis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs: 

„Und natürlich stellt sich in dieser Situation die Frage: Was ist als nächstes zu tun, was ist zu erwarten? Wir wissen aus der Geschichte, dass die Sowjetunion 1940 und Anfang 1941 alles getan hat, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Dazu gehört auch, dass man buchstäblich bis zur letzten Minute versucht, den potenziellen Angreifer nicht zu provozieren, indem man die notwendigsten und naheliegendsten Schritte zur Vorbereitung auf die Abwehr des unvermeidlichen Angriffs nicht durchgeführt oder aufgeschoben hat. Und die Schritte, die schließlich unternommen wurden, waren katastrophal verspätet.“ (Präsident Putin, 24. Februar 2022)

Fazit

Wenn man die Reden des russischen Präsidenten übergreifend betrachtet, so wird deutlich, dass ihm die Bedeutung der Ereignisse der Vergangenheit für die Gegenwart äusserst wichtig sind. Die geschichtlichen Bezüge sind gezielt und sie widerspiegeln wie an einem Barometer die politische Gesamtlage. Mit dem Zweiten Weltkrieg, dem für Russland Großen Vaterländischen Krieg, berühren sie ein nationales Trauma von für Außenstehende unvorstellbarer Dimensionen. 

Um ein Land zu verstehen, um die Handlungen seiner Führung begreifen zu können, ist es unerlässlich, sich mit seiner Geschichte und Kultur eingehend zu befassen. Mit diesem Wissen sind politische Erklärungen und diplomatische Reden russischer Politiker nicht allzu schwer zu verstehen. Man muss sie allerdings lesen und verstehen wollen. 

Dieser Beitrag erschien zum ersten Mal auf der Plattform «Stimme aus Russland»

Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Siehe dazu auch:

Der Krieg fiel nicht vom Himmel! Putins Rede im Bundestag nach 9/11, von Leo Ensel auf Globalbridge.ch
Der Krieg fiel nicht vom Himmel! (IV) Die zweite Rede des Wladimir Putin: Münchner Sicherheitskonferenz 2007, von Leo Ensel auf Globalbridge.ch

Und siehe insbesondere auch: «So kann man aus der Geschichte lernen» von Christian Müller*

Quelle: https://globalbridge.ch/putins-reden-zwischen-2001-und-2022-zeigen-wie-wichtig-ihm-geschichte-ist/
Mit freundlicher Genehmigung von globalbridge.ch

Christian Mller 16 e1620919897642
*Christian Müller studierte an der Universität Zürich Allgemeine Geschichte und Staatsrecht und promovierte zum Dr.phil.I mit einer Dissertation zu einem sozialhistorischen Thema der Zeit 1890 bis 1914. Mehr zur Biografie des Herausgebers von Globalbridge

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