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Pro Memoria: Essay  – Abschied von einem Freund

Dürfen wir den AMERIKANERN, denen wir so viel verdanken, die Gefolgschaft verweigern? Die Geschichte einer Entfremdung, kommentiert von stern-Autor Heinrich Jaenecke.Dieser Bericht aus dem Jahre 2002 hatte mich damals sehr beeindruckt und ich schrieb Herrn Jaenecke eine anerkennende Rückmeldung zu seinem mutigen Text, obwohl der "Freund" auch 1945 kein wahrhaft aufrichtiger Freund war. (ww)
Heinrich Jaenecke
04. November 2016
Ein Trauerfall ist anzuzeigen: der Verlust eines Freundes, vielleicht des besten Freundes, den wir je besaßen. Er war unser Wohltäter, damals, als wir am Boden lagen. Er hat uns, seinen einstigen Feinden, wieder aufgeholfen, er hat uns Schutz gewährt. Er wurde in dieser vaterlosen Gesellschaft zu unserem Übervater. Wir haben zu ihm aufgeblickt und ihn bewundert um seiner Stärke, seiner Großherzigkeit und Hilfsbereitschaft willen. Er war unser Vorbild in vielen Dingen. Wir haben von ihm gelernt - Toleranz, Demokratie, Menschenrechte. Wir mochten uns sehr. Fast war es so etwas wie Liebe.

Lange Zeit blieb es so. Dann trat Entfremdung ein. Der Freund veränderte sich, und vielleicht veränderten wir uns auch. Wir waren 'erwachsen' geworden, wie der Kanzler es nannte, und wir sahen mit Beklemmung, wie der Freund sich entfernte von den Idealen, die er uns eingepflanzt hatte.

Er war inzwischen der mächtigste Mann der Erde, ein Weltherrscher, wie es ihn in moderner Zeit noch nicht gegeben hat. Die Macht veränderte ihn. Er brauchte, seit der alte Gegner das Handtuch geworfen hatte, auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen. Er wurde selbstherrlich, grobschlächtig, gebieterisch. Das Schicksal der Erde, die Verantwortung für das Leben künftiger Generationen scherten ihn nicht. Er richtete sich nur noch nach den "eigenen Interessen", wie er freimütig bekannte.

Er teilte Völker in "gute" und "böse" und rief der Welt zu: "Wer nicht auf unserer Seite steht, steht auf der Seite unserer Feinde"   – ein Wort wie eine entsicherte Waffe, Drohung und Erpressung in einem. Mit Politik hatte das nichts mehr zu tun. Es war eine Kriegserklärung an alle, die sich nicht fügen wollen.

MIT GEORGE W. BUSH   – und damit verlassen wie die Allegorie   – betrat ein Amerika die Bühne, das uns mehr und mehr erschrecken ließ, obwohl es schon immer da gewesen war: das Amerika des "big stick', des Knüppels, den Theodore Roosevelt vor 100 Jahren schwang, um im spanischen Hinterhof Amerikas aufzuräumen und all diese aufsässigen Bananenrepubliken auf Vordermann zu bringen.

Mit dem 43. Präsidenten der USA zog der Geist des "großen Knüppels" in die Weltpolitik ein.

Wie kein anderer vor ihm verkörpert Bush einen amerikanischen Archetyp: den einsamen Sheriff mit den mahlenden Kinnbacken, der gnadenlos aufräumt mit den Banditen, Verrätern, Feiglingen, Schurken. Der den Finger immer am Abzug hat und nicht viel nach Paragrafen fragt, der selbst entscheidet, was Recht und Unrecht ist, und dessen Weg gesäumt ist mit den Gräbern der Gerichteten: 135 Todesurteile hat der Gouverneur von Texas in seiner fünfjährigen Amtszeit unterzeichnet, ein Rekord selbst im hinrichtungswütigen Amerika.

Der 11. September war die große Stunde des George W. Bush.

Der Angriff aus dem Dunkel bot ihm die Rolle seines Lebens. "Wir stehen im Krieg", verkündete er und meinte es durchaus wörtlich: Der Sheriff trat an, das Böse in der Welt auszurotten, koste es, was es wolle. Amerika lebt seither im Ausnahmezustand   – in Atem gehalten durch immer neue Bedrohungsszenarien aus dem Weißen Haus. Der Sheriff kann nicht verstehen, wie diese Europäer ungerührt ihr Bier trinken und über Fußball diskutieren.

Bushs Antiterror-Krieg war bislang ein Flop gemessen an dem gigantischen Aufwand. Die Taliban mit B-52-Bombern zu verjagen war kein Kunststück. Die Zahl der Opfer haben wir nie erfahren und die Bilder der Toten nie gesehen. Es muss grauenhaft gewesen sein.

Afghanistan aber ist vom Frieden so weit entfernt wie eh und je, das Phantom al Qaeda trotz aller Erfolgsmeldungen nicht zerschlagen   – wie auch: Für jeden geschnappten Gotteskämpfer springen drei neue ein. Glauben, denn darum handelt es sich, ist weder durch Bomben noch durch Folter zu erschüttern.

DER PHANTOM-KRIEG hat bisher nur eines geschafft: Er hat Amerika zu einem anderen Land gemacht. Die Institution Krieg, dieses Relikt der Steinzeit, das wir überwunden zu haben glaubten, ist rehabilitiert als legitimes Instrument der Politik: Bush hat den amerikanischen Rüstungsetat auf die Wahnsinnssumme von 379 Milliarden Dollar hochgejagt   – so viel wie die Militärbudgets der nachfolgenden 14 Staaten zusammen.

Das neue Strategiepapier, das Bush jetzt dem Kongress vorgelegt hat, dokumentiert die dramatische Wende der amerikanischen Politik. Unverhüllt plädiert der Präsident darin für den Präventivkrieg, 'Die alte Strategie von Eindämmung und Abschreckung seit den vierziger Jahren   – ein Eckstein der amerikanischen Politik   – ist tot", schreibt die "New York Times". Stattdessen fordert das Weiße Haus jetzt das Recht, "zur Verteidigung unserer Interessen im In- und Ausland die Bedrohung zu zerstören, bevor sie unsere Grenzen erreicht. Wir werden nicht zögern, notfalls allein zu handeln, um unser Recht auf Selbstverteidigung durch Präventivmaßnahmen auszuüben."

Das ist nichts anderes als die Absage an das oberste Friedensgebot, das die Völkergemeinschaft seit dem Zweiten Weltkrieg hoch und heilig beschworen hat. "Die Entfesselung eines Angriffskrieges ist das größte internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft." Woher das stammt? Aus der Urteilsbegründung des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals, maßgeblich verfasst vom Anklagevertreter der Vereinigten Staaten. All das soll nun Makulatur sein, einschließlich der Charta der Vereinten Nationen, durch die sich die Mitgliedstaaten verpflichten, jede "Androhung oder Anwendung von Gewalt" zu unterlassen.

Begreiflich, dass Washington den neuen Internationalen Strafgerichtshof sabotiert, der unter anderem das "Verbrechen der Aggression" verfolgen will. US-Bürger aber sollen nach dem Willen des Weißen Hauses von jeder Strafverfolgung ausgenommen sein. Gleiches Recht für alle? Schnee von gestern.

In beispielloser Weise proklamiert Bush den dauerhaften Anspruch Amerikas auf die Weltherrschaft: "Der Präsident", so heißt es in der neuen Strategie, "beabsichtigt nicht, irgendeiner ausländischen Macht zu gestatten, den ungeheuren Vorsprung (in der Rüstung) aufzuholen, den die Vereinigten Staaten seit dem Fall der Sowjetunion errungen haben." Das bedeutet die Absage an jede Art von Rüstungskontrolle und an alle Abkommen, die einst unter jahrzehntelangen Mühen ausgehandelt wurden und die Welt sicherer machten.

Der Sheriff wähnt sich als Werkzeug des Guten.

Wer seine Entschlüsse nicht gutheißt, ist ein gottverdammter Feigling, wenn nichts Schlimmeres. Seit Schröders Nein zum Irak-Krieg werden wir als Feindstaat behandelt, ausgestoßen aus der Kampfgemeinschaft. Will man uns übel nehmen, dass wir, nach den Katastrophen unserer Geschichte, möglicherweise eine größere Sensibilität für das Wort Krieg entwickelt haben? Und dass wir uns dafür weder schämen noch beschimpfen lassen müssen? Wenn wir etwas zu verteidigen haben, dann ist es dies.

Ein Ozean an Verständnislosigkeit trennt uns heute von dem einstigen Freund. Die Lage ist paranoid. In einem schwäbischen Hinterzimmer im vertrauten Kreis fällt ein harsches Wort über den Präsidenten der Vereinigten Staaten   – und die Weltmacht flippt aus. Der deutsche Regierungschef wird zur Unperson erklärt, der Verteidigungsminister auf flegelhafte Weise gedemütigt, und der Herr im Weißen Haus lässt dunkle Drohungen verlauten wie gegen einen straffällig gewordenen Untergebenen, den man dringend zur Räson bringen muss   – so sieht die kafkaeske Realität aus, in der wir leben. Man müsste mal bei Krenz nachfragen, viel anders kann es im Warschauer Pakt nicht gewesen sein.

Wenn das Nein eines Mitgliedstaates zu einem Krieg mit unabsehbaren Folgen das Bündnis "vergiftet" (so Condoleezza Rice, die Einpeitscherin im Weißen Haus), dann ist etwas faul im Staate Dänemark. Dann signalisiert diese Reaktion ein totalitäres Denken, das nichts mehr zu tun hat mit der offenen Gesellschaft, die wir verteidigen wollten.

Der Freund, den wir einmal hatten, erklärte uns damals, dass unser Kardinalfehler der blinde Gehorsam gewesen war. Er hatte Recht. Wir haben die Lektion gelernt.

Uns trennt ein Ozean an Verständnislosigkeit

Quelle: Stern Nr. 41, Seite 40 vom 02. 10. 2002

Heinrich Jaenecke

Jaenecke

Heinrich Jaenecke 1928-2014 (Foto: Nele Braas)

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