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Eine Leserzuschrift zu John Pilgers «77 Jahre HIROSHIMA» 6. August 2022

07. August 2022
Lieber Willy Wahl, von John Pilgers Beitrag motiviert, ein paar persönliche Anmerkungen von zwei alten Leuten mit familiären Beziehungen zu Japan.

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, liebe Freunde, weil wir vom Leserbrief sehr beeindruckt sind, bringen wir ihn Ihnen als eigenen Beitrag, auch zur Weiterleitung - mit deeple übersetzt - für englisch sprechende Leser. Wir denken, der Brief ist so wertvoll, weil der Blick auf die japanische Sichtweise bei uns vollkommen fehlt. Wie ist es möglich, dass Japan, nach dieser unvorstellbar schrecklichen Erfahrung mit lebensbedrohlichen Spätfolgen bis heute, mit der US-Kriegsadministration verbündet ist? Auf diese wichtige Frage gibt der Brief eine erste Antwort. Der kulturelle Blickwinkel ist ja bei uns auch so verschüttet und die Frage, weshalb es möglich ist, dass sich eine alte Kultur   – auch die europäische gehört dazu   – einer der kläglichsten unterwirft, ist auch für uns relevant. Darum hatte uns Nikolai Patruschew so gefallen mit seinen Ausführungen über die «Wiederbelebung» der Bildung der Jugend in Russland: "Die Ausbildung der Lehrer als wichtigste Bezugsperson der Schüler ist oberste Priorität, weg mit Bologna und zurück zu einer guten humanistischen Bildung". Wir würden uns freuen, wenn dieser ganze Fragenkomplex auch bei uns in Europa einmal ernsthaft ins Auge gefasst würde. Dafür sind ja die Hochschulen da - oder besser noch ‘Volkshochschulen?’ - mit «freier Forschung»! Meiner Frau und mir lässt die Frage keine Ruhe, weshalb sich gerade Deutschland   – nach den bitteren Erfahrungen nach 1945   – nun wiederum in einen schrecklichen US-NATO-Krieg gegen Russland hineinschwatzen lässt. Herzlich Margot und Willy Wahl

Ja, Hiroshima und Nagasaki waren vorsätzlicher Massenmord - leider, leider!  Trotz bereits eingeleiteter Friedenskontakte Japans wurde die Massenvernichtungswaffe ausprobiert. An den "Gelben", nicht in Europa. Hiroshima hat das höchste Gut der Japaner zerstört, ihre Selbstachtung, ihr Selbstvertrauen und ihre kulturelle Verankerung. 

Ein großer Teil der jüngeren japanischen Bevölkerung weiß heute nichts mehr von den beiden Atombomben - oder will nichts davon wissen. Es bleibt offen, wie dabei die Kausalitäten verteilt sind: Wieviel ist psychologische "Verdrängung", wieviel bewusstes Totschweigen und Unterdrücken?

Man war ja Mitte 45 an einem Punkt angekommen, den sich in Japan niemand vorstellen konnte. Z.B. als die Stimme des Kaisers am Mitttag des 15. August 1945 (6 Tage nach der Bombe auf Nagasaki) zum ersten Mal dem Volk per Radio hörbar gemacht wurde. Mit dem völlig unerwarteten Befehl, die Niederlage zu akzeptieren und jede weitere Kriegsführung zu unterlassen. Der große Regisseur Akira Kurosawa beschreibt diesen Augenblick in seinen Memoiren. Er streifte an diesem Tag durch die Straßen. Man wusste, das etwas ganz außergewöhnliches geschehen würde. Manche Leute saßen vor ihrer Haustür mit den Zurichtungen für Sepuku (Harakiri), weil sie einen Aufruf dazu erwarteten und dem wohl auch nachgekommen wären.

Wenig später kippte die Weltsicht der Japaner; der US-amerikanische Lebensstil ergoß sich über ihre Denk- und Lebensgewohnheiten. Nicht unbedingt ein Schock, aber eine totale Verunsicherung und Ratlosigkeit. Man spielte nun "Westen". Meine Frau erinnert sich, dass noch bis Mitte der 50er Jahre verstümmelte Soldaten am Straßenrand saßen, um Almosen bettelnd - und von den Passanten mit kühler Distanz behandelt wurden. Für die einen waren sie Versager (ein guter Soldat kam nicht mehr zurück), für die anderen die Erinnerung an all das, was man ja gerade begraben hatte. "Sitzplätze für Kriegsversehrte" wie in Europa gab es nicht. Japanische Filme haben das später behutsam gestreift. 

China wird in Japan bis heute von vielen gehasst. Nicht nur infolge der US-amerikanischen Propaganda und trotz der wirtschaftlichen Bindungen, sondern eher dafür, daß man dort seine ärgsten, eigenen, Kriegsverbrechen begangen hat - der Ort der verpönten Erinnerung. Eine offizielle japanische Entschuldigung gibt es noch immer nicht. Der Hass hat nichts mit dem chinesischen Sozialismus zu tun (Japans KP hat ja auch eine beachtliche Geschichte und Wählerschaft; das Gemeininteresse ist in beiden Nationen präsent).

Wir kommen da mit unseren westlichen Analogien nicht weiter, aber vielleicht der Frage etwas näher, warum eine der ältesten eigenständigen und differenziertesten Kulturen sich derart bedingungslos der wohl weltweit kläglichsten unterwirft. Und gerade dieser "Erfolg" befeuert die US-amerikanischen Pläne bezüglich China: zu John Pilgers "weiterem Hiroshima".

John Pilgers Text deutsch finden Sie hier - englisch finden Sie hier

Weil wir den Leserbrief so wertvoll finden, haben wir ihn für unsere englisch sprechenden Leser mit deeple übersetzt.

Dear Willy Wahl,

 motivated by John Pilger's contribution, a few personal comments from two old people with family ties to Japan.

Yes, Hiroshima and Nagasaki were deliberate mass murder - unfortunately, unfortunately!  Despite peace contacts already initiated by Japan, the weapon of mass destruction was tried out. On the "yellows", not in Europe. Hiroshima destroyed the highest good of the Japanese, their self-respect, their self-confidence and their cultural anchorage.

Today, a large part of the younger Japanese population knows nothing about the two atomic bombs - or wants to know nothing about them. It remains open how the causalities are distributed: How much is psychological "repression", how much is conscious silence and suppression?

After all, in mid-45, a point had been reached that no one in Japan could have imagined. For example, when the Emperor's voice was made audible to the people for the first time by radio on the afternoon of 15 August 1945 (6 days after the bombing of Nagasaki). With the completely unexpected order to accept defeat and to refrain from any further warfare. The great director Akira Kurosawa describes this moment in his memoirs. He was roaming the streets that day. People knew that something extraordinary was about to happen. Some people were sitting outside their front door with the preparations for sepuku (harakiri) because they were expecting a call to do so and would probably have complied.

A little later, the Japanese worldview changed; the US lifestyle poured over their way of thinking and living.

habits of thought and life. Not necessarily a shock, but total uncertainty and perplexity. They were now playing "West". My wife remembers that until the mid-1950s, mutilated soldiers still sat by the roadside begging for alms - and were treated with cool detachment by passers-by. For some they were failures (a good soldier never came back), for others the reminder of all that had just been buried. There were no "seats for the war-disabled" as in Europe. Japanese films later touched on this cautiously.

China is still hated by many in Japan today. Not only as a result of US propaganda and despite the economic ties, but rather for having committed its worst, own, war crimes there - the place of scorned memory. There is still no official Japanese apology. The hatred has nothing to do with Chinese socialism (Japan's CP, after all, has a considerable history and constituency; the common interest is present in both nations).

Our Western analogies won't get us anywhere, but perhaps they will bring us a little closer to the question of why one of the oldest independent and most differentiated cultures submits so unconditionally to what is probably the world's most questionable one. And it is precisely this "success" that is fuelling US plans regarding China: to John Pilger's "another Hiroshima".

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