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Ein freundschaftlicher Blick auf Rußland - Ein Reisebericht

Frieden und Freundschaft mit Rußland könnten erblühen, wenn man mehr auf Rußland hören würde.
von Ulrike und Werner Schramm - September 2018
25. März 2019
Ein Blick in manche Zeitungen oder Fernseh„berichte“ genügt und die dort jeweils geschürte antirussische Stimmung  – würden wir den Mainstream-Medien überhaupt noch Glauben schenken  – hätte uns von einem, vor allem menschlich, überwältigenden Erlebnis abgehalten: Unserer Reise nach Nischni Nowgorod, einer 1,5 Mio.-Stadt etwa 2300 km entfernt von hier. Das russische Alphabet hatten wir noch flink hier mit Hilfe gelernt und unser in Rußland lebender Freund, der mit einer Russin verheiratet ist, wurde unsere Brücke auch zu einer anderen Kultur.

Die „Tante-Emma-Läden“ leben

Bild 1 Holzhaus
 Bei einem Stadtrundgang am nächsten Tag war architektonisch zunächst sowohl die Säulenform verschiedener Gebäude noch aus der Sowjetzeit als auch an verschiedenen figürlichen Verzierungen erkennbaren deutsch beeinflußter Baustil auffällig. Da Holz als billiges Baumaterial im Überfluß vorhanden war, wurden die bis zu 100 Jahre alten Häuser daraus erstellt. Heute muß viel Baufälliges abgerissen werden, manches wird liebevoll restauriert. Hervorzuheben sind die vielen Märkte der Kette SPAR, die heute in manchen Stadtvierteln dominieren. In der Regel sind es Franchise-Unternehmen, bei denen SPAR die Vorgaben macht. Präsident Putin hat nun ein Dekret verabschiedet, daß die Nahversorgung vor allem der älteren Mitbürger dadurch gewährleisten soll, daß wieder die „Tante-Emma-Läden“ speziell gefördert werden.

Die Läden müssen hierzu mit wenigen Schritten erreichbar sein, damit die Menschen sich in ihren Vierteln zu Hause fühlen können und daß zu ihrer Versorgung auch das Einkaufen gehört. Dort erhält man neben Frischwaren in einem Geschäft den täglichen Bedarf, um nebenan in einem anderen Geschäft Zeitungen und Haushaltsutensilien erwerben zu können. Ursprünglich war es SPAR gelungen, über die Stadtverwaltung den kleinen Läden gegenüber massive Verkaufseinschränkungen durchzusetzen und so die bewährten, kleinen „Tante-Emma-Läden“ auch in Verbindung mit korrupten Stadtregierungen zu verdrängen. Zigaretten- und Alkoholverkauf waren die Hauptstützen der Umsätze und die Verwaltung hatte deren Verkauf sukzessive beschränkt, so daß eine Reihe Läden schließen mußten.

Glauben ist Privatsache   – aber von zentraler Bedeutung

Bild 2 RussOrthodox1
Auffällig sind allerorten die prächtigen russisch-orthodoxen Kirchen mit ihren vergoldeten Kuppeln. Mehr als zwei Drittel aller Russen bekennen sich zu dieser Glaubensrichtung. Im Unterschied zu Deutschland, wo seit dem Reichskonkordat zwischen Heiligem Stuhl und Nationalsozialisten die Kirchensteuer staatlich eingezogen wird, müssen sich im historisch gewachsenen Vielvölkerstaat Rußland die Kirchen selbst finanzieren. Glauben ist Privatsache, die verschiedenen Glaubenrichtungen leben friedlich zusammen. In Rußland gibt es übrigens keine Sozialhilfe, für Härtefälle hilft die Gemeinde. Es herrscht Aufbaustimmung und niemand muß mehr hungern, aber rechnen.

Die Krise der Jelzin-Ära (auch er hatte seinerzeit in Esalen im Bottich der Reinigung geplantscht) hatte Ende der 90er Jahre zum Staatsbankrott geführt. Die verzweifelten Menschen interpretierten diese Entwicklung als Rache Gottes. Hatten sie zu Sowjetzeiten noch Arbeit und ihr Auskommen gehabt, so traf sie der US-gesteuerte Zusammenbruch mit harter Armut. Versorgung ermöglichte in erster Linie die Familie. Was hielt, war der Glauben. So wurde die von Stalin durch Umwandlung in eine Schwimmbad geschändete Christ-Erlöser Kathedrale in Moskau mit ihren heute 10000 Plätzen auf zwei Etagen nach dem Ende der SU erneut aufgebaut, neu geweiht und damit zum Symbol des Glaubens auch für andere Religionen.

Man respektiert einander und jeder glaubt an seinen Gott, hat zutiefst sein inneres Glaubensbekenntnis. Menschen, die etwa an einer russisch-orthodoxen Kirche vorbeikommen, machen ein Kreuz. Es kann vorkommen, daß die Fahrgäste einer vorbeifahrenden Straßenbahn ebenfalls sich der Kirche zuwenden und das Kreuz schlagen. Über Religion macht man einfach keine Scherze oder abfällige Bemerkungen, das ist ein absolutes Tabu wie überhaupt jede „Diskussion“ über Sterbehilfe bzw. Euthanasie.

Traditionen des Gedenkens und Wirtschaftens werden gepflegt

Bild 3 Panzer1n
Es war ein sonniger Tag und so schlendern wir die Pokrowka, die breite Fußgängern vorgehaltene Einkaufsstraße der Stadt, hinunter Richtung Kreml, was einfach Burg heißt. Hier werden im Innenhof Militärfahrzeuge ausgestellt, die in den Rüstungswerken der Stadt Gorki, wie sie damals hieß, von 1931 bis 1991 für die Front produziert worden sind. In einer Mauernische ist auf der Ziegelsteinwand ein Panzer stilisiert dargestellt, der aus unzähligen kleinen Photos russischer Soldaten des II. Weltkrieges besteht   – der bei den Russen übrigens „Großer Vaterländischer Krieg“ heißt.

Auffällig ist überall, wie gepflegt und auch stolz junge Leute einzeln oder in Gruppen uns entgegenkommen. Wir machten Bilder, vermutlich könnte es ansonsten uns keiner glauben. Keiner kam uns in zerrissenen Hosen oder T-Shirts entgegen. In Deutschland fragen wir uns oft, aus welchem Bombentrichter die jungen Leute kommen. Unsere russischen Freunde vermuten gemeinsam mit uns, daß solche „Modediktate“ offensichtlich darauf abzielen, längerfristig gewisse Verelendungsentwicklungen hinnehmen zu lernen.

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Die Straße weitete sich zu einem Platz, auf dem sich die Region Semjonow mit handwerklichen Produkten vorstellte. Erwachsene und Kinder trugen prächtige Trachten. Traditionelle Musik und Tanzdarbietungen auf der Straße fesselten unsere Aufmerksamkeit. Auffällig war für uns, daß wir trotz der Feindseligkeiten der deutschen Politik mit ihren rechtswidrigen Sanktionen und der angerichteten Kriegsverwüstungen   – Gorki wurde 1943 mehrfach bombardiert   – immer freundlich empfangen und bedient wurden. Wer konnte, bemühte sich um einige Worte deutsch.

Getrennte Schulformen bieten Schülern zielführende Entfaltungsmöglichkeiten

Unser nächster Termin ist das deutschsprachige  Gymnasium Nr. 1. In der Eingangshalle sind Eltern mit ihren Kindern zu sehen. Eine Großmutter läßt sich stolz mit ihrem Enkelkind, das eine obligatorische Schuluniform trägt, photographieren. Der Aufgang zum Treppenhaus ist wegen möglicher Terrorgefahr mit zwei Drehkreuzen und Wachpersonal gesichert. Es war wohltuend, Schüler zu sehen, die auch in Pausen, höflich miteinander umgingen. Die Kinder der Unterstufe tragen selbstverständlich eine Schuluniform.

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Zu unserem Erstaunen begegnet uns ein etwa 11-jähriger Junge mit Anzug, Krawatte und stolz geschwellter Brust. Wir erfahren, daß seit der Sowjetzeit jede Schule ihre eigene Uniform wählen kann, die von Schülern vor allem deswegen gerne getragen wird, weil sie zeigt, auf welche Schule „man“ geht. Jeans werden eigentlich nicht geduldet. Es geht auch darum, daß durchaus modische Kleidung möglich ist, ohne daß daraus ein Schaulaufen materiellen Wohlstands im Sinne einer Ansehenshierarchie entsteht. Der Unterricht wird traditionell, mit Tafel und Kreide durchgeführt.

 Das erinnert uns daran, daß wir als Lehrer in Deutschland über die Jahrzehnte damit ebenfalls erfolgreich zum Abitur geführt haben. Natürlich gibt es in allen Bildungseinrichtungen Rußlands, die wir besucht haben, auch Computer, aber sie dominieren nicht die Wahrnehmung. Immer noch steht die vom Lehrer geförderte Verbundenheit einer Klassengemeinschaft im Vordergrund. Das ist auch ein großes Stück Einübung in demokratische Einstellungen.  Auffällig ist ein Schild an deroberen Tafelecke: „Putin spricht gut DEUTSCH. UND DU!“

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Beim Besuch einer Oberstufenklasse, die sich auf eine Deutschprüfung vorbereitet, konnten wir ein gelungenes Beispiel von klarer Gedankenführung auch in einer Fremdsprache erleben. Die Lehrerin hatte das Thema Massenmedien mit den Schülern erarbeitet. Es sollten Kriterien dargestellt werden, woran Nachrichten nach ihrem Informationswert beurteilt werden können. Das Surfen im Internet liefert einen permanenten Strom an vielfältigen Eindrücken. Es ginge darum, nach Kriterien der schon erarbeiteten Geschichtskenntnisse etwa Impulse aus dem Netz zu ordnen und zu bewerten. Abgelehnt wurden brutale, grausame Darstellungen von Kampf und Krieg, wie sie beispielweise gewisse Onlinespiele verkörpern.

Soziale Netzwerke zu verfolgen „frißt“ zu viel Zeit, erläutert eine Schülerin in gutem Deutsch. Fruchtbringender wäre es, sich im normalen, d.h. realen Leben und dessen Anforderungen zu bewegen statt in eine virtuellen Ersatzwelt zu folgen. Vor allem den Schülerinnen sind Suchtgefahr und Abhängigkeit von medial hervorgerufenen „Erfolgserlebnissen“ bewußt. Sie beobachten auch Bekannte, die stundenlang wie abgetreten im Netz „kommunizieren“. Massenmedien, so die einhellige Meinung, überschwemmen den Zuschauer mit nicht nachprüfbaren „Informationen“ und Bildern. Diese Schüler brachten zum Ausdruck, daß sie keine Zeit dafür haben, mit Freunden im Netz zu „surfen“.

Differenziertes Lernen statt Inklusion

Die Lehrer der Schulen, die wir besuchten, sehen in der von oben aufoktroyierten Inklusion ein großes Hindernis allen anvertrauten „normalen“ Schülern zum Lernen zu verhelfen. Sie beklagen, daß sie schon genug schwächere Schüler haben, mit denen sie schon immer individuell arbeiten müssen. Wozu braucht es dann noch zusätzlich welche, die schwerhörig, schwersehend, verhaltensauffällig oder geistig behindert sind? Wie kann ein Lehrer, so der Schulleiter, mit 25 normalen Kindern und einem Kind, das solche Probleme vorweist, gemeinsam arbeiten? Das ist in den Augen des Schulleiters kein Unterricht, denn er muß sich diesem einen Kind u.U. die ganze Zeit widmen, statt mit den anderen Kindern zu arbeiten.

Ein gelungenes Beispiel für Bildungsteilhabe liefert uns eine Schule für gehörlose Kinder. Etwas außerhalb und wunderschön in einem Wald gelegen, erreichen wir das Internatsgebäude der Schule, die 1924 von der Stadt Nischni Nowgorod gegründet wurde. Die Farbgestaltung  des Gebäudes erinnert auch uns an Hundertwasser. An Bäumen hängen Vogelhäuschen in verschiedenen Farben und Größen, die Schüler in einer im Gebäude befindlichen Tischlerei als Teil des Unterrichts erstellen.

Später werden wir auch dies erleben. Eine uns herzlich begrüßende Betreuerin, Maria, weist auf die Vielfalt der Formen und Farbgebungen hin. Manche Klassen haben zwischen zwei und fünf Kinder, die Lehrer verfügen über eine besondere Ausbildung. Wir erfahren, daß die staatlich geförderte Schule 62 Internatsplätze anbietet.

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Voller Stolz zeigen uns die Schüler sowohl die Näherei als auch Schreinerei und Töpferei. In ersterer fällt bereits die Sauberkeit und Ordnung des mit Nähmaschinen, die im Einzelfall nur vom Lehrer bedient werden dürfen sowie Exponaten warmherzig ausgestalteten Raumes auf. Ab und an werden externe Künstler eingeladen, um mit den Schülern zu malen, wobei die Lehrer auch kleinere Teile des Werkes übernehmen. Besonderer Stolz ist die Puppenausstellung.

Nirgendwo ist eine Spur von Vandalismus zu sehen. Das liegt nicht nur am jeweiligen Bezug der Schüler zum Gegenstand, vielmehr haben sie auch bereitwillig bei der Ausgestaltung der Räume mitgeholfen. So ist auch ein Stück Mitverantwortung gewachsen. Auch in der Schreinerei wird auf Ordnung geachtet.

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Jeder Schüler hat einen mit Foto gekennzeichneten Werkzeugkasten und mit Kreide ist auf der Wandtafel vermerkt, was der Kasten enthalten muß. Dies quittiert jeder Schüler mit seiner Unterschrift. Von daher muß bei jedem Gebrauch geprüft werden, ob alle Werkzeuge vorhanden sind. In diesem Klassenzimmer finden sich auch Bleistifte, Kreide und Filzstifte, mit denen die Schüler zu den Werkstücken jeweils Schreibübungen machen. Im Nebenraum finden sich Töpferscheibe und weitere Werkstücke. Auch hier präsentieren uns die Kinder stolz ihre Werke.

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Wir werden zu einem kleinen Theater mit einer Bühne und einigen Zuschauerplätzen, in dem Schüler Pantomimen proben können, mitgenommen. Man integriert uns in den Pantomime-Workshop von begeisterten  Kindern und tanzen am Schluß gemeinsam zur Musik. Diese ist so gestaltet, daß die Bewegungen der Kinder stets dazu passen. Auffällig ist ein größerer Junge der manche Passagen allein gestaltet. Später erfahren wir, daß er aus desolaten Familienverhältnissen kommt und als Autist getestet ist.

Eine Kindergemeinschaft, in der alle aufgrund ihres Hörproblems ein ähnliches Handicap haben, läßt Raum für die individuelle Förderung und Entfaltung von Bildungsmöglichkeiten. Die aufgezwungene Inklusion würde diese einmalige Chance für diese Kinder zerstören.

Was zusammenführt

Unsere jeweiligen Gesprächspatrtner waren sich mit uns einig: Frieden und Freundschaft mit Rußland könnten erblühen, wenn man mehr auf Rußland hören würde. Wie seinerzeit bei der Aussöhnung mit Frankreich sollte der Schüleraustausch auch mit Rußland intensiviert werden. Mehr Verständnis für andere Nationen und Kulturen (die jeweilige Sprache eingeschlossen) könnten speziell aus der Bevölkerung heraus die Kriegsabenteurer in unserer Politik zurückdrängen.

Wir brachten zum Ausdruck, daß wir empört darüber sind, daß unsere Politiker sich den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands durch Rußland verweigert hatten. Daran teilzunehmen wäre in der Tat ein wahres Stück Friedensarbeit gewesen   – statt immer wieder US-amerikanische Eroberungs- und Zerstörungsfeldzüge zu rechtfertigen oder gar zu unterstützen.

© Ulrike und Werner Schramm, Höchstadt 03/2019

Videoimpressionen von der Reise: http://www.aischtaler-filmtheater.net/html/russlandreise-2018.html

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