«Du hast grosse Lust auf Krieg?»
Der hier abgedruckte Text ist ein Vortrag, den Kurt Steinmann im Rahmen von «Erasmus klingt – Festival Lab» 2024 in Basel gehalten hat.
Es gibt in den geschichtlichen Abläufen gelegentlich enge Zeitfenster, in denen sich kurz die Möglichkeit auftut, dass Wirklichkeit wird, was vorher und nachher undenkbar scheint. Die Griechen prägten dafür den Begriff kairos.
Einen winzigen Augenblick schien es, als könnte die endlose Kette der Kriege unterbrochen werden. Nach mehreren zwischenstaatlichen Abkommen hatten sich die verfeindeten dynastischen Parteien Europas darauf geeinigt, am 2. Februar 1517 in Cambrai einen internationalen Friedenskongress abzuhalten. Zu lange hatten sich Deutsche und Franzosen um das Erbe Karls des Kühnen und insbesondere um die Macht in Italien gestritten, zu weit hatte sich der Flächenbrand der Kriege mit der Beteiligung Englands, Spaniens und besonders des kriegsfreudigen Papstes Julius II. durch ganz Europa gefressen.
Aber die Hoffnung zerrann so schnell, wie sie gekommen war. Zuerst wurde das Gipfeltreffen der Fürsten auf den April verschoben, dann abgesagt. Die Geschichte nahm eine Wendung, die Erasmus 1523 beklagt hat:
«Nun haben sich die Dinge so entwickelt, dass man dem Frieden einen Grabstein setzen muss, da ja keine Hoffnung besteht, dass er wieder einmal obenaufschwingen wird.»
Erasmus, der zeitlebens an der Friedlosigkeit Europas litt, erhielt den Auftrag zur Abfassung der «Klage des Friedens», der «Querela pacis», von Jean le Sauvage, dem Kanzler des Burgunderherzogs Karl, des späteren Karl V. Sie sollte alle Pazifistischen Kräfte für den geplanten Friedenskongress mobilisieren.
Mit der Absage der Friedensverhandlungen war die Schrift, nimmt man den politischen Zweck, dem sie dienen sollte, zum Massstab, bei ihrem Erscheinen (im Dezember 1517 in Basel) bereits überholt. Aber weit über die aktuelle Politik hinaus wurde von den Zeitgenossen und erst recht von späteren Generationen deren zeitlose Gültigkeit erkannt: «Die Klage des Friedens» ist ein Kondensat der gesamten erasmischen Friedenskonzeption.
Gräuel des Krieges
Dieser «Psalm christlicher Eintracht», wie Huldrych Zwingli ihn nennt, wurde bald aus dem Latein, der einzigen Sprache, in der Erasmus publizierte, übersetzt, so auch vom Leuteprediger Leo Jud in Zürich im Jahr 1521 ins Deutsche. 1525 verurteilte die Pariser theologische Fakultät das Manuskript der ersten französischen Übersetzung der «Querela» und liess es öffentlich verbrennen. Deren Urheber, Louis de Berquin, wurde 1529 als rückfälliger Ketzer hingerichtet, primär unter dem Vorwand, ein Sympathisant Luthers zu sein, aber auch, weil er Erasmus’ Friedensthesen in seine Muttersprache übertragen hatte.
Erasmus hat die Klage über den heillosen Zustand der Welt der Pax, der Personifikation des Friedens, in den Mund gelegt. Dadurch gewinnt die Darstellung an Lebendigkeit und Eindrücklichkeit. Es ist keine theoretische, sondern eine stark rhetorisch geprägte Abhandlung, die über weite Strecken Appellcharakter hat. Da zu Erasmus’ Zeiten die Monarchie als Staatsform die Regel ist, wendet sich die Pax an einen Fürsten, der stellvertretend für alle Machtträger steht.
In einer bewegenden Gegenüberstellung werden gegen Ende der Schrift die Vorteile des Friedens und die Nachteile des Krieges gegeneinander aufgerechnet. Auch eine reinrationale Argumentation macht die Absurdität des Krieges evident. In krassen Bildern, die an einen Brueghel oder Bosch gemahnen, treten uns die Schrecken und Verheerungen des Krieges vor Augen.
Er richtet auch in den Seelen der Kriegsteilnehmer unermesslichen Schaden an, der nach Kriegsende weiterwirkt, ist doch die Hemmschwelle zum Töten in den blutigen Kämpfen drastisch herabgesetzt worden. Der finanzielle Aufwand für die Rüstung ist unsinnig, denn die dafür dem Volk abgepresste Summe könnte besser für sinnvolle Zwecke eingesetzt werden.
«Sub specie mortis» (unter dem Gesichtspunkt des Todes) sind alle Kriegsmotive lächerlich. Wer denkt heute nicht an die Verwüstungen durch die Kriege in der Ukraine, in Palästina, im Libanon, im Sudan, in Jemen, wenn er die folgenden Klagen der Pax liest:
«Du hast grosse Lust auf Krieg? Zuerst erwäge, von welcher Art der Friede ist, von welcher Art der Krieg, was jener an Gutem, was dieser an Bösem mit sich bringt, und dann berechne, ob es sich lohnt, den Frieden mit dem Krieg zu vertauschen. Wenn etwas wirklich bewundernswert ist, dann ein Reich, das mit seinen vortrefflich angelegten Städten, seinen wohlbestellten Feldern, seinen mustergültigen Gesetzen, seinen überaus angesehenen Wissenschaften und seinem hohen Stand der Moral in jeder Hinsicht in Blüte steht. Nun aber bedenke: Diese glücklichen Verhältnisse stürze ich unweigerlich in ein Chaos, wenn ich Krieg führe.
Was für den Frieden spricht
Wenn du dagegen einmal die Ruinen der Städte gesehen hast, die niedergerissenen Dörfer, die ausgebrannten Kirchen, die verödeten Felder, und diesen bejammernswerten Anblick in seiner ungeschminkten Wirklichkeit erfasst hast, so bedenke, dass dies die Frucht des Krieges ist. Wenn du es für etwas Bedrückendes hältst, ein verbrecherisches Pack gedungener Söldner in dein Land zu führen, […] so bedenke, dass dies die Bestimmung des Krieges ist. Wenn du Raubzüge verabscheust: Eben diese lehrt der Krieg. Wenn du Mord verfluchst: Eben diesen erlernt man im Krieg. [...] Wenn du Vergewaltigung, Blutschande und noch Niederträchtigeres für scheusslich hältst, so wisse: Der Krieg ist der Lehrmeister all dieser Teufeleien. [...] Im Krieg haben die ärgsten Verbrecher das Sagen, und die, die man im Frieden an den Galgen brächte, spielen in Kriegen selbstverständlich die Hauptrolle.
Stelle dir den gerechtesten Kriegsgrund vor, stelle dir seinen günstigsten Ausgang vor, […] und sieh dann zu, ob es sich gelohnt hat zu siegen. Kaum einmal gelingt ein unblutiger Sieg. […] Um ein Städtchen auszulöschen, wie viele Belagerungsmaschinen und Zelte braucht es da? Du musst eine provisorische Zeltstadt anlegen, um eine wirkliche Stadt zu zerstören, aber für eine kleinere Summe hätte man eine andere, richige Stadt erbauen können.»
Frieden ist die Voraussetzung jeglichen Gedeihens, Krieg der Verursacher höchster Not. Alles empfiehlt den Frieden: die fragile und ephemere Natur des Menschen, die auch ohne selbstbewirktes Leid genug an Plagen zu tragen hat, die Gemeinschaft in Christus und die Pax als Quelle allen menschlichen Glücks.
Die universelle Harmonie in Makro- und Mikrokosmos von Himmelskörpern bis zu den Mineralien rät zur Eintracht; allein die Menschen, im Krieg unter die Stufe der Tiere fallend, trachten einander zu vernichten, angeführt von den von Ehrgeiz, Zorn, Habsucht und Dummheit bestimmten Fürsten.
Die Kriege haben ihren Ursprung vorwiegend in den Ambitionen der Mächtigen. Sie werden auf Kosten des Volkes geführt, das an diesen Störungen der Ordnung überhaupt kein Interesse hat. «Schändliche und läppische Gründe» lassen die Fürsten zu den Waffen greifen. Als Rezepte zur Friedenssicherung schlägt die Pax unter anderm das Verbot der Veräusserung irgendeines Teils des Hoheitsgebietes vor. Die Fürsten soll einmal definitiv die Grenzen ihrer Machtsphären anerkennen.
Im Konfliktfall gelte Toleranz, bisweilen müsse zur Friedenserhaltung auch Geld eingesetzt werden. Die Christen sollten «eine Amnestie der früheren Missetaten» beschliessen und in gemeinsamen Beratungen mit aller Kraft um den Frieden ringen. Alle sind aufgerufen, am Friedensprozess teilzunehmen. In der Politik muss ein Paradigmenwechsel stattfinden: statt Gewaltanwendung Toleranz, Wille zum Ausgleich und Versöhnungsbereitschaft. Vor allem sollten der übersteigerte Nationalismus und der masslose Vaterlandskult überwunden werden durch das Ideal eines vereinigten Europas, das sich im Glauben, in der Bildung, Kultur und der über nationalen Gemeinschaftssprache des humanistischen Lateins geistig als Einheit begreift.
Die Sicht des Erasmus auf den Menschen ist tief pessimistisch. Er glaubte zu erkennen, dass im Menschen destruktive statt konstruktive, nekrophile statt biophile und misanthropische statt philanthropische Kräfte wirken.
Albert Einstein wird diesem Gedanken (im Briefwechsel mit Sigmund Freud 1932) entschieden zustimmen: «Im Menschen lebt ein Bedürfnis zu hassen und zu vernichten. Diese Anlage ist in gewöhnlichen Zeiten latent vorhanden; […] sie kann aber leicht geweckt und zur Massenpsychose gesteigert werden. [...] Gibt es eine Möglichkeit, die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hasses und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden?» (Diogenes 1996)
Das Überleben der Menschheit hängt heute von Faktoren ab, von denen Erasmus nichts wissen konnte. Soll der ökologische Kollaps verhindert werden, muss die Zahl der Menschen auf unserem Planeten zumindest stabilisiert werden. Die Beanspruchung der Naturvorkommen, der Energieverbrauch und die Abfallerzeugung müssen dringend begrenzt, das Arsenal der atomaren, biologischen und chemischen Waffen muss abgebaut und sschliesslich vernichter werden.
«Durch Leiden Erkenntnis»
Selbstverständlich gehört eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, die entschieden den Kampf gegen den Hunger, diesen «stillen Genozid» (Jean Ziegler), und gegen die Armut aufnimmt, zu den Voraussetzungen des Weltfriedens. Unabdingbar für den Frieden ist auch die gegenseitige Achtung der Weltreligionen unter Verzicht auf jeglichen Superioritätsanspruch.
Erasmus’ Thesen zur Schaffung und Erhaltung des Friedens sind nun aber trotz der fundamental verschiedenen Komplexität der Probleme von einst und jetzt, die sich schon aus der ungeheuren Erweiterung des geografischen Raums ergibt, in vielerlei Hinsicht noch immer und auf immer gültig.
Seine Friedensargumente leitet er aus zwei Quellen her: aus der menschlichen Vernunft und dem Glauben. Während uns die rationalen Argumentationen zur Kriegsvermeidung auch heute einleuchten, sind die aus den Geboten Christi im Evangelium gewonnenen Begründungen der erasmischen Friedensutopie für einen grossen Teil der Menschheit nicht der explizit bestimmende Massstab.
Es mag sein, dass Erasmus als später Nachfahre des Sokrates in seinem Vertrauen auf die Vernunft allzu sehr an die Lehr- und Lernbarkeit des Sittlichen glaubte und dass ihm die Einsicht in die politischen Realitäten und Mechanismen der Macht sowie der Sinn für das Irrationale in den geschichtlichen Prozessen nicht in ausreichendem Mass zu Gebote standen. Sein Kerngedanke indes ist nach wie vor gültig: Es kann auf Dauer keinen Frieden geben ohne eine grundlegend geistig-sittliche Erneuerung der Menschheit.
Wie soll sich diese vollziehen? Der gläubig Hoffende unserer Zeit mag an den Einbruch des Geistes von aussen denken, der Rationalist und Desillusionierte eher an die Erfahrung des äschyleischen pathei mathos, der «Erkenntnis durch Leiden».
Aus dem Lateinischen von Kurt Steinmann.
Insel-Verlag, Neuauflage 2024. 1168., Fr. 16.50
- Quelle: Weltwoche Nr. 44.24
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- Quelle 2/Original: Mit freundlicher Genehmigung übernommen
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