In der Retrospektive kommen wir uns alle so schlau vor. Fassungslos schütteln wir den Kopf, wenn wir sehen, mit welcher Euphorie die jungen Männer aller europäischen Staaten, flankiert von einer kriegstrunkenen Bevölkerung, vor über hundert Jahren in ein Gemetzel zogen, das sich wenig später als die „Urkatastrophe des XX. Jahrhunderts“ erweisen sollte. Es erscheint uns absurd, dass jemand wie Franz Kafka am 2. August 1914 in sein Tagebuch notierte: „Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt – Nachmittag Schwimmschule.“ Wir bekommen den Mund nicht zu, wenn wir sehen, wie ein brüllender Kretin in den Zwanziger und Dreißiger Jahren große Teile eines ganzen Volkes in seinen Bann ziehen konnte.
Und wir verehren umgekehrt einen Mann wie Karl Liebknecht, der am 2. Dezember 1914 als einziger Reichstagsabgeordneter den Mut hatte, gegen die Bewilligung des milliardenschweren Sondervermögens zur Kriegsfinanzierung zu stimmen. (Sein Engagement gegen den Krieg brachte ihm eine mehrjährige Zuchthausstrafe ein.)
Hinterher ist man immer schlauer
‚Wie fahrlässig, wie dumm die meisten Menschen damals doch waren!‘ So denkt es unterschwellig in einem. Und noch etwas tiefer, aber gerade noch vernehmbar: ‚So etwas könnte uns, könnte mir heute nicht passieren!‘
Wirklich? Die platte Wahrheit lautet: Hinterher ist man immer schlauer! Nur halt nicht in der Gegenwart.
In Wirklichkeit geht es uns genauso wie den Generälen, die bei der Planung des kommenden Krieges auf keinen Fall die Fehler des letzten wiederholen wollen – und damit gleich den nächsten Fehler begehen!
Kurz: Wir ‚schlafwandeln‘ auch. Nur anders.
Die militärische ‚Softpower‘
Heute ist es eine junge smart aussehende Außenministerin einer einstmals pazifistischen Partei, die einen Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine stolz verkündete, die westlichen Sanktionen würden „Russland ruinieren“ – wohlgemerkt: das Land, nicht etwa die Machthaber! – und die bereits ein Vierteljahr nach Kriegsbeginn die deutsche (!) Bevölkerung vor sogenannter „Kriegsmüdigkeit“ (sie sprach vornehm von „Fatigue“) warnte. Es sind nicht zuletzt Frauen, wie die stramme Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages oder eine Sicherheitsberaterin mit dem – nomen est omen – bezeichnenden Namen Major, die sich, was Waffenlieferungen an die Ukraine angeht, besonders weit aus dem Fenster legen. Und es ist eine sanfte Theologin, die nun eine Vermögensabgabe zur Finanzierung des Ukrainekrieges fordert.
Schnarrender Befehlston, Knobelbecher und Preußens Gloria sind auch bei der Bundeswehr längst out. Mit den Nazis will, außer ein paar Ewiggestrigen in einigen Spezialkommandos, so gut wie niemand mehr etwas zu tun haben. Heutzutage werden Rekruten – es dürfen gern auch Rekrutinnen sein – nicht mehr zusammengeschissen, sondern in Motivations- und Team Building-Trainings geschickt. Und vor dem Auszug in den nun „Einsatz“ genannten Krieg von der Verteidigungsministerin, ihrerseits ein scheinbarer Ausbund an Naivität, nochmal liebevoll an die Brust gedrückt.
Das Ergebnis dieser militärischen ‚Softpower‘ könnte sich dennoch durchaus sehen lassen. Auch im Vergleich zu den Helden von WK II. Immerhin würden es die heutigen Soldaten – oder, warum nicht?, eine Soldatin mit rot lackiertem Fingernagel – im Rahmen der ‚nuklearen Teilhabe‘ mühelos schaffen, in kürzester Zeit ganze Städte Russlands in Trümmer zu legen und Hundertausende russischer Frauen, Kinder und auch Männer per Knopfdruck in Leichen zu verwandeln. Mit anderen Worten: die Tötungskapazität ihrer Groß- und Urgroßväter ‚spielend‘ zu übertreffen.
Was für die smarte Variante der Militarisierung gilt, das gilt auch für andere Lebensbereiche – ohne dass wir das immer gleich mitbekommen. Wir sind in keiner Weise schlauer als die Generationen vor uns! Unser Denk-, oder besser: Fühlfehler besteht schlicht darin, dass wir die Methoden der damaligen Propaganda und Mobilisierung mit den Prinzipien verwechseln. Diese aber sind nach wie vor höchst wirksam. Nur eben in anderen Erscheinungsformen.
Schleichende Gleichschaltung
Der Satz, der nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar gebetsmühlenartig in Politik und Medien wiederholt – sprich: der Bevölkerung eingetrichtert – wurde, lautete, der Westen dürfe sich jetzt nicht spalten lassen. Vielmehr gelte es, der Putin‘schen Aggression mit Geschlossenheit zu begegnen. Unnötig zu betonen, dass dies nicht nur für das Verhältnis zwischen den NATO- und EU-Staaten, sondern natürlich auch innerstaatlich zu gelten hatte. Der Aufforderung zur äußeren Geschlossenheit enspricht immer die zur inneren.
Als Bundeskanzler Scholz am 27. Februar nichts weniger als eine „Zeitenwende“ postulierte – der Begriff wurde von Bundespräsident Steinmeier gerade zum „Epochenbruch“ potenziert –, da hätte er allerdings schon fast wie weiland Kaiser Wilhelm II. im Sommer 1914 „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ jubilieren können. Die neue deutsche ‚Volksgemeinschaft‘ war medial längst in der Mache. Fehlten nur noch die spektakulären gemeinschaftsstiftenden Aktionen. Aber dem kann abgeholfen werden: Was in den Dreißiger Jahren der monatliche Sonntagseintopf (inclusive Spende für das Winterhilfswerk) war, das läuft ab jetzt unter dem unausgesprochenen Motto „Frieren für die Ukraine!“
Was im Umkehrschluss natürlich bedeutet, dass all diejenigen, die bezüglich des Krieges das geforderte Schwarzweißdenken nicht mitmachen oder gar eine westliche Mitschuld konstatieren, als unsichere Kandidaten gelten, die genauestens zu observieren sind. „Gegneranalyse“ lautet bezeichnenderweise ein mit mehr als 280.000 Euro vom Bundesfamilienministerium gefördertes Projekt der GRÜNEN-nahen Stiftung „Zentrum liberale Moderne“ (LibMod).
Der Umgang mit „Gegnern“
Und im Umgang mit diesen innerstaatlichen Gegnern wird nichts dem Zufall überlassen. Bereits Anfang August verkündete Außenministerin Baerbock im Vorfeld möglicher Herbstproteste angesichts astronomisch steigender Energiepreise, diesen – noch gar nicht in Erscheinung getretenen – Protestierenden ginge es „dann nicht mehr um Kritik an Ukraine-Politik, sondern darum, den Staat zu destabilisieren“. So macht man unerwünschte Aktivisten im Vorfeld zu Paria, noch bevor diese überhaupt in Erscheinung getreten sind!
Ministerienübergreifende Strategiepapiere legen das passende Wording sowie den „Umgang mit Desinformation“ – sprich: mit allen Positionen, die dem offiziellen Narrativ nicht entsprechen – fest, wobei angestrebt wird, auch Institutionen der Zivilgesellschaft und Social Media möglichst diskret einzubinden.
Parallel dazu wird en passant in aller Stille die deutsche Vergangenheit entsorgt: Putin ist Hitler und er führt gerade, wie damals Hitler-Deutschland, einen „Vernichtungskrieg“. Gleichzeitig wird mit ehemaligen Befürwortern einer Entspannungspolitik und einer fruchtbaren wirtschaftlichen Zusammenarbeit – und sei sie noch so zaghaft gewesen wie unter Außenminister Steinmeier – gnadenlos abgerechnet. Als Bundespräsident unterzog er sich unter dem Druck von Medien und Politik einer entwürdigenden, fast stalinistischen öffentlichen Selbstkritik, wobei er sich auch noch vom damaligen ukrainischen Botschafter am Nasenring durch die Arena ziehen ließ.
Zur Konstitution der möglichst geschlossenen ‚Volksgemeinschaft‘ gehört neben der Verteufelung des äußeren und inneren Gegners auch das Streuen von Misstrauen und der Aufruf zur Wachsamkeit. So rief Spiegel-Chefredakteurin Melanie Amann vor zwei Monaten unter dem ominösen Titel „Wie gut kennen Sie Ihre Nachbarn?“ kaum verhohlen zur allseitigen Bespitzelung und zur Denunziation auf.
Vorauseilender Gehorsam
Wie überhaupt eine im Gleichschritt marschierende Medienlandschaft unaufgefordert ihren Beitrag leistet. Nicht nur durch extreme Einengung des Meinungskorridors, sondern auch indem sie stets am relevanten Thema haarscharf vorbei einen Pseudoskandal zum Ereignis aufbläst: Skandalös ist – wieder für den Spiegel – nicht etwa die aktuelle astronomische Aufrüstung oder die durchaus mögliche Gefahr eines Atomkrieges in Europa, sondern die Tatsache, dass Frauen in den Chefetagen der Rüstungsindustrie nicht etwa unterrepräsentiert, sondern praktisch nicht vorhanden sind und Transgenderpersonen selbst im Offiziersrang in der Bundeswehr immer noch diskriminiert werden!
Unaufgefordert – heimlich, still und leise – spielt selbst die Süßwarenindustrie mit. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die seit über hundert Jahren beliebten Buchstabenkekse bei Bahlsen neuerdings nicht mehr „Russisch Brot“ sondern „Bahlsen ABC“ heißen? Und dass das Ice Snack-Sandwich „Moskauer Art“ der Edeka-Eigenmarke „Gut & Günstig“ unlängst politisch-korrekt in „Kiewer Art“ umbenannt wurde? (Was einigen deutschen Ukraine-Freunden allerdings immer noch nicht schmeckt. Hatte man doch „Kiew“ und nicht, wie im von Russland angegriffenen Land üblich, „Kyiv“ – also: „Київ“ – geschrieben!)
Die Unbedarftheit
In seinem Essay „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ schrieb Bertolt Brecht im Januar 1935: „Die Zeiten der äußersten Unterdrückung sind meist Zeiten, wo viel von großen und hohen Dingen die Rede ist.“ – Wir leben zwar noch längst nicht in Zeiten „der äußersten Unterdrückung“, aber an „großen und hohen Dingen“, sprich: an feierlichem „Werte“-Geläute, herrscht in dieser Zeit der unsichtbaren Gleichschaltung und sanften Militarisierung wahrlich kein Mangel! Und diejenigen, die diese Entwicklung mit aller Macht befördern, sind in aller Regel keine bösartigen Menschen, sondern meist freundliche, nicht selten – wie die junge grüne Außenministerin – sympathisch aussehende Personen, die sich redlich Mühe geben, das von ihnen mitverursachte Desaster selbst für die Ärmsten der Gesellschaft noch notdürftig abzufedern. „You never walk alone!“, doppelwummst beruhigend unser Kanzler.
Und so ist wenigstens Eines sicher: Wir werden nicht an der Bosheit unserer Politiker zugrunde gehen, sondern an ihrer smarten Unbedarftheit!
PS:
Wer weiß, ob in ferner Zukunft eine Frau wie Sarah Wagenknecht vielleicht nicht als zweite Rosa Luxemburg, aber doch als der ‚Karl Liebknecht‘ unserer Epoche in die Geschichte eingehen wird! Aber sicher erst in einigen Jahrzehnten – falls es unser Land und Europa dann noch geben sollte …
Quelle: https://globalbridge.ch/der-sanfte-weg-in-den-abgrund-oder-wir-schlafwandler/
Mit freundlicher Genehmigung von globalbridge.ch