Weltwoche: «Orbán ist ein Held»
Kühner Plan: Viktor Orbán, roter Teppich zum Kreml. Bild: Vivien Cher Benko
In der Nacht auf Mittwoch, Kiew liegt schon wieder einige Stunden Fahrt zurück, zieht mich Viktor Orbán an einer Autobahnraststätte zur Seite. Es ist ungefähr zwei Uhr morgens. «Können Sie noch ein paar Tage freimachen? Es ist streng geheim. Wir fliegen am Freitag nach Moskau zu Putin und dann weiter nach Aserbaidschan. Unsere Mission hat erst begonnen. Fortsetzung folgt.» Die Augen des Premiers funkeln. Der Schalk blitzt aus seinen Augen. Nach Selenskyj nun also Putin, und wen, um Himmels willen, will er im Kaukasus treffen? Schlagartig bin ich hellwach. Meinen bereits fertig getippten Text muss ich nochmals umschreiben. Natürlich sage ich zu. Noch auf dem Weg nach Budapest streiche ich alle meine Termine und Interviews fürs erweiterte Wochenende. Gegen vier Uhr morgens kommen wir in Budapest an. Ich schreibe fertig und zeichne meine Weltwoche dailys auf. Dann sinke ich todmüde ins Bett.
Wir sind auf Freitagmorgen in der Regierungs-Lounge verabredet. Die Ungarn sind schnell unterwegs. Sicherheitshalber komme ich fünfzig Minuten zu früh. Bence isst bereits ein Birchermüesli. Er ist einer der Jüngsten im Tross, hat in Neuenburg die Hotelfachschule gemacht und organisiert für Orbán alle Reisen. Er erklärt mir, wie sie in der Ukraine die Öffnung der Tankstellenshops in Abstimmung mit den Passierzeiten unserer Kolonne hingekriegt haben, lange nach Mitternacht. Alles ist hier generalstabsmässig eingefädelt. Allmählich tröpfeln die anderen herein. Draussen steht eine Militärmaschine bereit, Langstreckenflieger, die Stewardessen tragen grüne Overalls. Sonst läuft alles wie bei einem Linienflug, ausser dass sie im hinteren Teil der Kabine eine medizinische Notfallstation eingerichtet haben, ein fliegendes Kleinstspital. Orbáns Rhythmus ist mörderisch hoch. Vorsorge leuchtet ein.
Flug nach Moskau
Nie wird so dreist gelogen wie im Krieg. Glauben darf man nichts. Die Propaganda trommelt von allen Seiten. Der für mich verblüffendste, immer noch nachhallende Eindruck meiner Kiew-Reise ist, wie abwesend der Krieg im Westen des Landes und in der Hauptstadt war. Nichts erinnerte äusserlich daran, dass sich die Ukraine in einem, wie es bei uns heisst, existenziellen Überlebenskampf, in einer Art Endschlacht zur Verteidigung unserer westlichen Zivilisation gegen die dunklen Mächte der Unfreiheit befindet. Man könnte ja auch annehmen, dass ein Land, das sich einem Feind vom Kaliber Russlands gegenübersieht, alle Kräfte für den Krieg aufbieten muss. Totale Mobilmachung, Blut, Schweiss und Tränen. Anders ist so eine Auseinandersetzung ja gar nicht zu bestehen. Doch nichts davon. Der Alltag plätscherte an diesem Dienstag provozierend, aufreizend normal vor sich hin.
Unsere Welt bunkert sich ein hinter einer Brandmauer von Slogans und Feindbildern.
Ich fragte einen unserer Begleiter, der in Kiew lebt, ob es denn keinen Luftalarm mehr gebe. «Doch», entgegnete der Mann, «gerade gestern, 16 Uhr.» Was passierte? «Nichts.» Wie bitte? «Nichts.» Nichts? «Ja. Das ist immer so. Der Verkehr läuft, die Fussgänger gehen weiter. So, als ob nichts wäre.» Wie das? «Weil die Leute keine Angst haben.» Warum haben sie keine Angst? «Weil sie wissen, dass die Russen keine zivilen Ziele angreifen, sondern, schlimm genug, kriegswichtige Infrastrukturen, Kraftwerke oder Militäranlagen.» Aber bei uns schreiben die Zeitungen das Gegenteil. «Ich weiss.»
Mir kommt das Interview in den Sinn, das wir ein halbes Jahr nach dem Einmarsch der Russen mit Peter Maurer geführt haben. Der damalige Präsident des Internationalen Roten Kreuzes war gerade von der Front zurückgekehrt. Auch er erzählte, dass das, was bei uns über den Krieg geschrieben wird, oft erstaunlich weit weg ist von dem, was in diesem Krieg passiert.
An Bord der ungarischen Militärmaschine ist die Stimmung gelöst, erwartungsfroh, fast heiter. Orbáns Equipe ist unprätentiös unterwegs. Die Minister verzichten auf amtliche Allüren. Es ist ein bisschen wie im Sport vor einem wichtigen Wettkampf, wenn auch ernster. In wenigen Stunden fahren wir im Kreml ein, um den umstrittensten, meistangefeindeten Politiker unserer Zeit zu treffen. Selbst in der Schweiz ist es kaum mehr möglich, sachlich über den russischen Präsidenten zu reden. Der Mann polarisiert derart, dass jedes angeblich unpassende Adjektiv, jede als zu wenig verurteilend, als verdammend empfundene Formulierung einem sofort um die Ohren gehauen wird. Man ist dann gleich der «Putin-Versteher», was verächtlich gemeint ist, ein Ausschlusskriterium, Körperangriff auf die intellektuelle und moralische Autorität des Betreffenden.
Emotional kann ich das nachvollziehen. Die meisten Leute haben weder von Russland noch von der Ukraine eine grosse Ahnung, aber sie haben starke Gefühle, einseitige; aufgrund der Bilder und der Berichte kein Wunder. Politisch allerdings ist die umfassende Verteufelung Putins ein Problem. Sie hat zu einer geistigen Radikalisierung im Westen geführt. Alain Berset hatte recht, als er von einem «Kriegsrausch» sprach und dafür heftige Kritik einsteckte. Unsere Welt bunkert sich ein hinter einer Brandmauer von Slogans und Feindbildern. Die Dämonisierung Putins dient mittlerweile als Alibi für den Verzicht auf jegliche Diplomatie. Das ist gefährlich und jetzt wohl auch ein Grund dafür, warum sie in Brüssel so allergisch auf die Initiative des Ungarn reagieren.
Orbán trifft als Letzter ein, energiegeladen. Seine Minister tragen Anzug und -Krawatte. Der Premier grüsst in Jeans und grünem Freizeithemd. «Ich werde mich dann hinter dem Cockpit-Vorhang umziehen, wenn es euch nichts ausmacht.» Ich frage Orbán, wo er das politische Handwerk lernte. Seine Antwort überrascht mich: «Auf dem Fussballplatz.» Insgesamt 32 Jahre seines Lebens habe er in Umkleidekabinen verbracht. «Das war die Schule meines Lebens.» In den Garderoben lerne man die ganze Gesellschaft kennen. «Man stand zusammen unter der Dusche, vom Professor bis zum Arbeiter», alle Schichten seien vertreten. «Wir mussten miteinander auskommen, erfolgreich zusammenspielen.» Man sieht es Orbán nicht mehr an, aber er war ein talentierter, gertenschlanker Stürmer auf dem Sprung zum Profi. Noch in seiner ersten Amtszeit als Premier spielte er jeden Sonntag in der dritthöchsten Liga. Haben die Gegner den kickenden Regierungschef geschont? «Im Gegenteil. Ich wurde viel öfter gefoult. Sie wollten mir beweisen, dass ich mir nichts einzubilden hätte auf mein Amt.» So habe er sich frühzeitig an Widerstand gewöhnt, auch an unfairen. «Ich musste oft aufstehen. Das ist eine gute Erfahrung.» Auf dem Fussballrasen habe er gelernt, wie man eine Mannschaft zusammenstelle. Sein wichtigster Führungsgrundsatz: «Du kannst allein nicht clever sein.»
Der Mann mit den Atomsprengköpfen
Grosses Thema beim Abflug sind die schlechtgelaunten Artikel über die Kiew-Reise in den Medien. Bereits am Vorabend geisterten Gerüchte durchs Internet. Unverzüglich brannte es in Brüssel lichterloh. Schon der Trip zu Selenskyj stiess der EU sauer auf. Und jetzt noch Putin? Das ist definitiv zu viel. EU-Rats-Präsident Charles Michel wirft Orbán vor, er missbrauche sein Amt für Verhandlungen ohne Mandat, für Eigenwerbung. Die Medien beten es nach, aber es stimmt nicht, Fake News. Orbán erklärte öffentlich, er werde nicht verhandeln, sondern Fakten sammeln und Positionen klären. Er wolle herausfinden, wie die entscheidenden Akteure denken: Wären sie bereit für einen sofortigen Waffenstillstand? Wie müssten die nachfolgenden Friedensverhandlungen laufen? Gibt es Vorstellungen über eine Sicherheitsordnung nach dem Krieg? Mit diesen Fragen reist Orbán auch zu Putin. Vor unserem Abflug grätschte twitternd noch der deutsche Bundeskanzler rein. Eine enge Mitarbeiterin Orbáns lächelt mütterlich. Scholz sei lange im Schatten Merkels gestanden, habe als Bundeskanzler aber wenig zustandegebracht: «Auf Orbán ist er eifersüchtig.» Die Politik, ein Schlachtfeld menschlicher Eitelkeiten.
Mit Blick auf diese Kehrtwende spricht Orbán von «Fermentierung», von Gärung.
Gut möglich, dass Orbáns kühner Plan aufgeht. Schon kurz nach dem Treffen in Kiew sagte Selenskyj überraschend der ukrainischen Prawda, er wünsche eine Fortsetzung der Friedensgespräche, diesmal aber auch mit Russland. Am Bürgenstock hatte er das noch kategorisch ausgeschlossen. Mit Blick auf diese Kehrtwende spricht Orbán von «Fermentierung», von Gärung. Ideen, wenn sie einmal draussen sind, entwickeln ein Eigenleben, wie Samen, wenn sie auf fruchtbaren Boden fallen. Egal, was man dagegen unternimmt, sie sind draussen, lassen sich nicht mehr ungeschehen machen. Orbán will den Frieden wieder ganz nach vorne wuchten. «Jede Woche sterben Tausende. Das ist Wahnsinn. Das müssen wir stoppen.» Alle reden über Frieden, aber alle meinen etwas anderes. «Jetzt sollen sie Farbe bekennen. Konkret werden.» Orbán bedauert, dass die EU in diesem Krieg kein eigenes diplomatisches Gewicht entwickelt. Auch das soll sich ändern. Bis zu den US-Wahlen im November sieht er ein Zeitfenster. Selenskyj habe, auch aus Gründen des eigenen politischen Überlebens, ein Interesse, nicht den Amerikanern die Regie zu überlassen. Trump werde direkt mit Putin verhandeln. Gelingt es Orbán, Selenskyj dazu zu bringen, mit der EU zusammen vorher einen eigenen Friedensplan aufzugleisen? Die -Ukraine, ganz Europa müssten ihm dankbar sein.
Wie stellt man sich auf das Treffen mit einem Mann ein, der 6500 Atomsprengköpfe kontrolliert? Orbán gibt sich unerschrocken. «Wir kennen uns schon lange. Zum ersten Mal traf ich ihn 2009, damals war ich Führer der Opposition.» Seither seien sie sich dreizehnmal begegnet, jetzt folge der 14. Gipfel. Das Eis sei also längst gebrochen. Auf Putin habe er sich immer verlassen können. Er halte seine Versprechen, behandle Ungarn mit Respekt. Das sei nicht selbstverständlich, Russland sei viel grösser. Wie ist der mächtigste Russe im Gespräch? «Rational, unaufgeregt, sehr gut vorbereitet.» Man könne ihm nichts vormachen. Kritiker nennen Orbán einen Putin-Freund, den Schosshund eines Kriegstreibers. «Das ist Unsinn. Ich bin ein Freund der Ungarn, ein Freund des Friedens. Den Krieg verurteile ich seit dem ersten Tag. Aber ich bin der Einzige unter den EU-Regierungschefs, der noch mit Putin reden kann. Davon mache ich Gebrauch.» Wie sieht Orbán die Agenda der Amerikaner? Wollen sie den Frieden überhaupt, oder benutzen sie, wie sie es ja auch schon erklärt haben, die Ukraine, um Russland auf Regionalformat zurückzustutzen? «Das sind dunkle Gedanken. Ich halte sie von mir fern. Wenn man den Frieden will, darf man sich von solchen Überlegungen nicht lähmen lassen. Es ist ein sehr dynamischer Prozess. Die Stimmungen drehen. Es finden Wahlen statt. Wirtschaftliche Fragen spielen hinein. Was passiert an der Front? Ich muss mich auf den Frieden konzentrieren.» Wie wollen Sie Putin überzeugen? «Ich will ihn nicht überzeugen. Ich will Fermentierung, den Gedanken pflanzen.»
Wenn Putin kommt
«Die Luft ist schwer, wenn Putin kommt», sagt einer von Orbáns engsten Mitarbeitern, langjähriger Kreml-Routinier. «Seine Leute fürchten ihn.» Bei uns heisst es, Russland sei eine Diktatur, früher sprach man von Autokratie. Es gibt auch eine Aufrüstung der Begriffe. So einfach sei das nicht, sagt der Orbán-Mitarbeiter. Rein äusserlich habe Russland alle Eigenschaften einer Demokratie, Parteien, Staatsgewalten, Gerichte, Wahlen, ein Volk. Doch wesentliche Entscheidungen, etwa eine Kandidatenauswahl, würden in den Tiefen des Staates vorgespurt. Trotzdem könne Putin nicht einfach machen, was er wolle. Ein Willkürherrscher sei er nicht. Auch an die Gesetze habe er sich zu halten. Und er müsse Rücksicht nehmen auf andere mächtige Gruppen, die Oligarchen, die Armee, das Volk, das nie besonders zimperlich war, erfolglose, ungeliebte Führer loszuwerden, nicht zuletzt durch Mord.
Wie gut bewaffnete Metzger beugten sich die US-Offiziere über die Landkarte Russlands.Ich öffne mein Notizbuch. Eine Kaskade von Gedanken schiesst durch mein Gehirn. Was wissen wir schon über Russland? Als Kleinstaatler durch und durch haben wir Schweizer, idyllisch eingepfercht zwischen stolzen Bergen und Flüssen, doch nicht die geringste Ahnung, was es heisst, einen solchen Koloss von offenem Gelände überhaupt zusammenzuhalten. Unsere Politiker denken darüber nach, was sie tun müssen, dass den Leuten Ende Monat mehr Geld im Portemonnaie bleibt. Ein russischer Präsident ist damit beschäftigt, das Auseinanderkrachen seines gewaltigen Imperiums zu verhindern. Ich habe mal einer Gruppe von US-Offizieren und einem Historiker dabei zugehört, wie sie sich über die russische Landkarte gebeugt haben wie gutbewaffnete Metzger über ein saftiges Stück Fleisch. Das war im Oktober 2022. Sie hielten es ernsthaft für möglich, Russland zu zerlegen in leichtverdauliche Einheiten. «Kein Problem, wir machen das wie mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg oder mit dem alten Jugoslawien.» In den neugeschaffenen Teilstaaten würde sich dann automatisch die Demokratie nach westlichem Vorbild ausbreiten. Irgendwie bewunderte ich die Amerikaner für ihren naiven Optimismus. Auf der anderen Seite befiel mich nackte Angst. Was, wenn die das wirklich ernst meinen? Ein auseinanderbrechendes Jugoslawien mit Atomwaffen ist das Letzte, was wir jetzt noch gebrauchen können. Und was wäre mit China? Welche Brocken würde sich das «Reich der Mitte» aus dem verwesenden russischen Leichnam klauben?
Ihrer Bürgerkriege überdrüssig, flüchteten sie sich freiwillig unter das schützende Joch der Autokratie.Natürlich ist Russland keine «lupenreine» Demokratie. Das behauptete nicht einmal Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der an diesem Punkt oft sinnentstellend verkürzt zitiert wird. Zweifellos gibt es in den unüberblickbaren Weiten dieses Staates Abgründe, Finsternis, Brutalität und namenlose Verletzungen der Menschenrechte. Im Lauf seiner Geschichte ist Russland nie demokratisch regiert worden, und unter Putin hat sich der Zug ins Autokratische noch verstärkt. Niemals aber könnte dieser riesige Flächenstaat mit seinem brodelnden Gemisch an Völkern und Religionen mit den aufs Kleinräumige abgezirkelten Institutionen des Schweizer Konsenssystems regiert werden. Einen wie Putin ins Bundeshaus wünscht sich keiner. Doch gnade Gott den Russen, sollte durch eine unglückliche Fügung des Schicksals auf einmal unser siebenköpfiger Bundesrat, in der heutigen Besetzung, die Regie dieses grossen Landes übernehmen.
Chaos oder Ordnung? Autorität oder Anarchie? Das sind über Jahrhunderte die Pole, zwischen denen sich Russlands Politik bewegt. Das würden nicht einmal die russischen Kritiker des aktuellen Präsidenten anders sehen. Zerfiel die Macht im Zentrum, löste sich der Gravitationsschwerpunkt in Moskau auf, herrschte auf den Strassen Chaos, Bürgerkrieg, der Kampf aller gegen alle, und das Leben der Menschen wurde, wie es in einer berühmten Formulierung heisst, «einsam, arm, brutal böse und kurz». Wenig verwunderlich, dass die Russen, konfrontiert mit den Urgewalten ihrer Zivilisation, am Ende stets dem Schutz durch einen starken, strengen Staat gegenüber einer lebensgefährlichen Freiheit den Vorzug gaben. Der britische Philosoph Thomas Hobbes, von dem das Zitat oben stammt, schrieb nach den mörderischen Revolutionen im England des 17. Jahrhunderts einen der grössten Klassiker des politischen Denkens: «Leviathan». So bezeichnete der Philosoph den menschengemachten «sterblichen Gott», das konstruierte Ungeheuer eines Staates, der allein die Macht hat, die kriegerische, auf Konflikt gepolte Natur des Menschen zu bezwingen.
Putin, Augustus und Leviathan
Eingeschüchtert durch das mythische Bild der furchterregenden Staatsbestie, eines Monsters aus dem Meer, fügten sich die Menschen, ihrer Bürgerkriege überdrüssig, freiwillig unter das Joch der Autokratie. Das war Hobbes’ Überlegung, erdacht nicht auf der Hängematte, sondern nach einer Ära blutiger religiöser Auseinandersetzungen. In den Theorien Hobbes’ kann man also durchaus die archaischen Umrisse dessen sehen, was vielen Russen, die noch die Zeit vor Putin kennen, nur allzu vertraut vorkommen muss. Bevor man den modernen Leviathan des russischen Staats im Westen überheblich verwirft, sollte man sich immer zuerst die Frage stellen, aus welchen leidensvollen historischen Erfahrungen heraus so viele Russen immer wieder bereit waren und sind, ihre autoritäre Staatsform den gutgemeinten westlichen Angeboten von Demokratie und Liberalismus vorzuziehen.
Hoch über den Wolken fällt mir plötzlich der Name Augustus ein. Der erfolgreichste und langlebigste aller römischen Kaiser übernahm von seinem Grossonkel Julius Cäsar vier Jahrzehnte vor Christi Geburt den Trümmerhaufen einer Republik. Das alte Rom lag nach Bürgerkriegen darnieder, zerfetzt und blutig getrampelt von den verschiedenen Fraktionen des Adels, die sich um die Überreste stritten wie Raubtiere um ein Stück Beute. Um das Chaos wieder in Ordnung zu bringen, durchwatete Augustus Ozeane von Blut, ermordete seine Gegner, räumte Freunde aus dem Weg, marschierte in abtrünnigen Provinzen ein. Doch geschickt gelang es diesem grossen Schauspieler der Macht, seine Autokratie mit den Kulissen der früheren Res publica zu camouflieren. Als er starb, friedlich in seinem Bett als alter Mann, verehrten ihn die Römer als Retter des Vaterlandes. Sie waren dem Imperator dankbar, dass er ihren stolzen Staat dem Chaos entrissen und ungezählten Römern die Existenz und eine lebenswerte Zukunft gesichert hatte. Ist Putin ein Augustus unserer Zeit?
«Nüchtern betrachtet, ist ein autoritäres Russland für den Westen weniger gefährlich als ein zerfallendes Russland», spricht mich der Orbán-Mitarbeiter wieder an. Die Leidensfähigkeit der Russen sei enorm. Er erzählt mir eine Anekdote von einer früheren Moskau-Reise. «Frühmorgens kommen wir an. Es ist Winter. Dichter Schneefall. Gegen sieben Uhr fahren wir an einer dieser schrecklichen Mietskasernen vorbei. Vor dem Eingang steht draussen ein Mann. In Pyjamahosen und Pantoffeln. Ein Oberteil trägt er nicht. Er raucht. Wir wären längst erfroren. Das ist Russland.»
«Nüchtern betrachtet, ist ein autoritäres Russland für den Westen weniger gefährlich als ein zerfallendes Russland», spricht mich der Orbán-Mitarbeiter wieder an. Er erzählt mir eine Anekdote von einer früheren Moskau-Reise. «Frühmorgens kommen wir an. Es ist Winter. Dichter Schneefall. Gegen sieben Uhr fahren wir an einer dieser schrecklichen Mietskasernen vorbei. Vor dem Eingang steht draussen ein Mann. In Pyjamahosen und Pantoffeln. Ein Oberteil trägt er nicht. Er raucht. Wir wären längst erfroren. Das ist Russland.»
Mit Blaulicht in die Festung
Unsere Flugbahn senkt sich. Allmählich kommt Moskau in Sicht. Friedlich ausgestreckt liegt die Millionenstadt unter einem fast wolkenlosen Himmel. Auf der Landebahn haben sie den roten Teppich ausgerollt. Allerdings erwartet uns weder Putin noch eine Militärparade. Orbáns Visite gilt als Arbeitsbesuch. Es ist kein Staatsempfang. Bevor wir im Konvoi Richtung Kreml fahren, bringen sie uns in eine medizinische Station. Eine freundliche Arztgehilfin mit Maske und Schutzanzug misst die Temperatur und macht mir den sanftesten Nasenabstrich meines Lebens. Noch immer muss man sich als Kreml-Besucher einem Covid-Test unterziehen. Spötter machen sich lustig über Putins angeblichen Gesundheitsfimmel oder sehen darin ein Symptom für andere, möglichst tödliche Krankheiten. Ich vermute, es ist banaler. Putin kann es sich wahrscheinlich nicht leisten, krank zu werden. Macht ist auch eine Frage der Bilder. Ein im Bett liegender Oberkommandierender, der hustet oder beatmet werden muss, ist kein Anblick, den die Russen in Kriegszeiten von ihrem Präsidenten sehen wollen. Man beachte nur die Reaktion auf Bidens Auftritt kürzlich im Duell gegen Trump. Wie Hyänen fielen unsere Medien über den schwächelnden US-Präsidenten her.
Mit Blaulicht geht es in die Innenstadt. Die vierspurige Autobahn wurde grossräumig freigesperrt und ist in hervorragendem Zustand. Wir sind mit BMWs und Mercedes-Limousinen unterwegs, mit dabei ein massiger Luxuswagen russischer Bauart. Neben der Strasse schiessen topmoderne Neubauten in die Höhe. Überall stehen Kräne, Gerüste. Gewaltige Anlagen entstehen, viele Unternehmen säumen die Zufahrt in die Hauptstadt. Wir könnten uns auch auf der Strecke nach Stuttgart oder Mailand befinden, so viele Firmensitze reihen sich hier aneinander, allerdings mit Namen, die mir nicht geläufig sind. Sind das potemkinsche Kulissen? Oder boomt es hier im grossen Stil? Wir lesen, die Sanktionen hätten den Rubel geschwächt, was stimmt, aber für den Binnensektor sind sie offenbar ein Booster.
Vor uns das ewige Gemäuer in rot: Betreten wir das Gehege eines besonders gefährlichen Raubtiers?Wir passieren die Moskwa. Vor uns öffnet sich an einem von schwarz uniformierten Wachen gesicherten Portal das ewige Backsteingemäuer des Kremls. Die Architektur der Macht sagt viel über den Charakter einer Herrschaft aus. Der Kreml ist eine Festung. Betreten wir Leviathans Revier, das Gehege eines grossen, gefährlichen Raubtiers? Hinter den dicken, nicht allzu hohen Mauern regiert Putin. Von hier aus muss dieser Vulkan von Multikultistaat durch den schieren Willen eines Einzelnen gebändigt werden. Manche Länder haben starke Institutionen, die USA, die Schweiz. Andere, etwa Grossbritannien, vertrauen auf die Macht der Tradition. Russland, scheint es, ist nicht vorstellbar ohne eine starke Hand, die unerschütterlich das Ruder hält. Ich frage mich, aus was für Holz ein Mensch geschnitzt sein muss, um eine derartige Aufgabe zu bewältigen. Putin macht diesen Job seit 24 Jahren: 24 Jahre harte Arbeit, 24 Jahre Verzicht auf ein normales Leben, 24 Jahre Entscheidungen mit ungeheuren Konsequenzen. Für viele ist er jetzt der absolute Bösewicht, der Sündenbock schlechthin, als wäre er der Erste und Einzige auf unserem Planeten, der jemals mit seinen Armeen eine Grenze überschritt. Ist er ein Diktator? Im langen Lauf der russischen Geschichte ist Putin vielleicht der erste Zar, den sich die Russen selber gegeben haben.
Winzlinge der Geschichte
Wieder muss es schnell gehen. Wir steigen an einem schmucken, nicht allzu grossen Empfangspalais mit farbiger Fassade aus. Vor dem Eingang verharren in Achtungstellung zwei Jünglinge mit Uniformen aus dem Museum. Ihre frontal angehobenen Gewehre präsentieren sie unbeweglich ein paar Zentimeter vor Kinn und Nase. Blinzeln sie? Sie könnten die Zwillinge jener Ukrainer sein, die im Selenskyj-Palast am Treppenaufgang Spalier gestanden haben. Durch ein Labyrinth von Treppen landen wir in einem eleganten holzgetäfelten Vorraum. Bereits steht Kreml-Prominenz herum. Regierungspressesprecher Dmitri Peskov plaudert mit Aussenminister Sergei Lawrow, einem der dienstältesten Diplomaten der Welt. Die Atmosphäre ist ungezwungen. Ich stelle mich den beiden vor. Scherzend fragt mich Lawrow mit Baritonstimme, ob mich meine Regierung überhaupt nach Moskau habe reisen lassen. Selbstverständlich. Doch in einem Punkt gebe ich dem Aussenminister recht. Es war ein Fehler des Bundesrats, unsere Neutralität gegenüber Russland teilweise ausser Kraft zu setzen. Er nickt. Doch, wende ich gleich ein, es soll ja vorkommen, dass auch die russische Aussenpolitik nicht gänzlich frei von Fehlern sei. Jetzt hätten beide Länder die gemeinsame Chance, ihre Fehler wieder auszubügeln. Allgemeines Gelächter.
Hinter dem dunklen Holztäfer öffnet sich ein prachtvoller Saal. Alles strahlt in Weiss. An den gerundeten Wänden sind eindrucksvolle Statuen eingebracht, Standbilder der bedeutendsten Zaren: Katharina die Grosse, Peter der Grosse, Alexander II., Nikolaus I. Durch diese Halle weht der lange Atem der russischen Geschichte. Wir staunen, Winzlinge in diesem imponierenden Resonanzraum der Historie. Neben mir steht der riesige ovale Konferenztisch, an dem Putin während Covid seine Besucher auf Distanz gehalten hat. Und da ist auch der Teppich, auf dem zur Hälfte der Stuhl stand, von dem aus merkwürdig verschoben im Raum Tucker Carlson sein Interview mit dem Präsidenten führte. Jetzt ist alles hergerichtet für die ungarischen Gäste, mit Fahnen, insgesamt acht Stühle. Mehrere Kameras stehen bereit, um den Handshake und den Austausch erster Freundlichkeiten einzufangen. Noch mehr Journalisten sind anwesend als vor ein paar Tagen in Kiew.
Ich merke nicht einmal, wie Putin hineinhuscht. Plötzlich ist er da. Zusammen mit Orbán posiert er händeschüttelnd für die Fotografen. Man setzt sich hin, flankiert von den Übersetzern, den Aussenministern und den beiden Sicherheitsberatern. Putin sagt irgendetwas, kaum vernehmlich. Er hat diese spezielle Art, sich auf seinem Sessel hinzufläzen, leicht schräg, breitbeinig, lauernde Sprungbereitschaft. Sein Gesicht, etwas weniger kantig als früher, lässt keine Regungen erkennen. Alles an ihm ist Pokerface, der ganze Körper im Staatsdienst, ausgerichtet auf den Auftrag, so kommt es mir vor. Die Prozedur läuft businessmässig ab. Als besonders furchtgeschwängert erlebe ich die Atmosphäre nicht. Nach wenigen Minuten entschwinden die Delegationen zur Besprechung durch einen der Ausgänge.
Die Journalisten haben sich rasch nach unten zu verlegen. Ein Medienbeauftragter aus Peskovs Stab eilt voran. Durch das nicht mehr enden wollende Palais schlängeln sich die Gänge. Wir stoppen an einem grünlichen Korridor. Es ist sehr heiss. Vor einer offenen Tür sitzen gelangweilt weitere Journalisten. Ich bahne mir den Weg ins Zimmer dahinter. Hier haben sie das provisorische Medienzentrum eingerichtet. Der Raum ist rappelvoll. Auf einem Buffet stehen Brötchen und Getränke. Vorne flimmern zwei riesige Bildschirme. Hinten sendet RT (vormals Russia Today) aus einem improvisierten Studio die Einschätzungen seiner Reporter. Zwei Kommentatoren sind vor Ort, der eine berichtet über die Politik aus der Hauptstadt. Der andere ist Kriegsreporter, gerade aus dem Donbass zurück. Beide reden hervorragend englisch. Man ist allgemein erfreut über den Besuch eines hohen Politikers aus der EU. Orbáns Reise ist hier die grosse Story: «Es ist gut, dass sie wieder miteinander reden.»
Die Stimmung ist wie immer, wenn sich Journalisten auf engem Raum begegnen. Die einen arbeiten, andere hängen herum. Manche plaudern. Man macht Scherze, zieht sich auf. Am Buffet unterhalte ich mich mit einem Kollegen von RT. Sein Englisch, fast akzentfrei, hat einen amerikanischen Einschlag. Er erzählt mir, bis Mitte zwanzig habe er in New York gelebt. Einen Grossteil seiner Jugend verbrachte er in den USA. Seine Eltern, beide Russen, arbeiteten als Journalisten für einen russischen Sender, sind aber inzwischen US-Bürger, pensioniert, und leben an der Ostküste. Er selber kehrte nach Russland zurück, es gefalle ihm hier besser. Das Leben in den USA sei schon okay gewesen, sagt er, «aber die Dauerkritik an Russland ging mir auf die Nerven». Auch die politische Korrektheit sei nichts für ihn gewesen, die «woken» Unis. Auch hier sei nicht alles optimal, doch vieles, was im Westen über Russland geschrieben werde, halte er für Unsinn, Propaganda.
«Tut mir leid, ihr habt keine Ahnung»
«Ich frage mich, wo meine alte Heimat Amerika hinsteuert», sagt er weiter. Die USA verweigerten ihm das Visum. «Weil ich Russe bin.» Sollten die Eltern krank oder hinfällig werden, könnte er sie nicht besuchen. Diesen Februar waren Vater und Mutter zurück in der alten Heimat Russland. Sie trauten ihren Augen nicht, als ihnen der Sohn sein nigelnagelneues iPhone zeigte. Aber Russland werde doch sanktioniert, hätten sie ausgerufen. Beide seien sie erstaunt gewesen über den Komfort und hohen Lebensstandard in der Hauptstadt. Doch auch die Russen seien kriegsmüde, sagt der Kollege. «Reisen in den Westen sind sehr schwierig, der Zahlungsverkehr ist abgeschnitten.» Den Glauben aber, man könne Russland isolieren, hält er für weltfremd. «Ich bedauere, dass sich Europa gegen Russland entschieden hat, aber wir haben andere Freunde, etwa in Asien.» Dass Russland militärisch verlieren könne, glaubt hier niemand. Wenigstens gibt es niemand zu.
Im Pulk sind auch zwei Briten, der eine lebt seit vielen Jahren hier. Er mag Russland, liebt die russische Kultur. Die beiden sehen es kritischer. Nach dem Einmarsch habe Putin die Schrauben nochmals angezogen. Jeder hier im Raum wisse, es gebe rote Linien, man rede nicht darüber, aber sie seien Realität. «Überschreitest du sie nicht, hast du deine Ruhe. Tust du es trotzdem, landest du in der Hölle.» Er habe Fälle von Kollegen erlebt, die unter fadenscheinigem Vorwand ins Gefängnis mussten, manchmal jahrelang.
Was ist Russland? Das Gipfeltreffen zieht sich hin. Ich versuche Wladimir Solowjow anzurufen, den russischen TV-Superstar aus gelehrter jüdischer Familie, den «Propagandisten», bei uns ein rotes Tuch, in Russland so beliebt wie umstritten. Manchen ist er zu krass, zu polemisch. Aber für äusserst intelligent und gut informiert halten ihn hier alle. Je nachdem könne er sich auch differenziert ausdrücken. Er nimmt nicht ab. Ich schicke ihm meine Überlegungen per Whatsapp. Kurz darauf summt mein Handy, eine Sprachnotiz. Es ist Solowjow.
«Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber deine Theorie ist Müll. Ihr im Westen habt keine Ahnung von Russland, glaubt aber trotzdem, ganz genau Bescheid zu wissen.» Zum Thema Staatsform sei ein längeres Gespräch fällig. Er versuche es ganz kurz. «Es mag sich komisch anhören, aber Russland ist eine echte, direkte Form der Volksdemokratie. Keiner kann Russland führen, ohne vom Volk geliebt zu werden, ohne dass das Volk ihn bewundert, ihm vertraut, an seine Entscheidungen glaubt. Deshalb musste Boris Jelzin zurücktreten. Deshalb musste Michail Gorbatschow zurücktreten. Vertrauen kommt nicht aus den Gewehrläufen. Vertrauen gewinnt man, indem man die Russen versteht, ihr Leben, die Kräfte unserer Geschichte. Es ist fast etwas Romantisches.»
Und noch etwas würden wir vergessen. «Ihr beschreibt Putin als ehemaligen KGB-Offizier. Das ist richtig, verfehlt aber das Entscheidende. Putin ist Jurist, von seiner ganzen Ausbildung her. Er hat Recht studiert. Und das Recht spielt in unserem Staat eine grosse Rolle. Ist es legal? Ist es auch fair? Das ist das Spannungsfeld. In Russland muss alles legal sein, sogar die Revolutionen hatten sich ans Gesetz zu halten. Das klingt verrückt. Die Bolschewisten trauten sich nicht, den letzten Zaren einfach abzusetzen. Er musste ordentlich abdanken. Putin ist Jurist. Merk dir das. Alles, was er tut, macht er im Einklang mit dem Gesetz.»
Putin schützt das Recht? Und wenn das Recht nicht passt, unterwirft er es seinem Willen? Es gäbe einiges zu vertiefen, aber ich muss weiter. Die Beratungen zwischen Orbán und Putin gehen zu Ende. Durch ein Gewirr von Korridoren hasten wir wieder in die obere Etage. Diesmal landen wir in einer noch grösseren, spektakulären Säulenhalle mit einer wunderschönen, weiss-blau bemalten Kuppel. Wie viele Säle gibt es in diesem Zauberzylinder von Empfangspalais? Man fühlt sich noch winziger als vorher, und auch diese Prachtsräumlichkeit, gewidmet der Zarin Katharina der Grossen, ist aus den Medien bekannt. Hier sass Putin am Tag des Einmarschs, als er seine Generäle und wichtigsten Minister zusammenrief, um sie über die «militärische Spezialoperation» zu informieren. Heute sind hier mehr als zwei Dutzend Journalisten, ein grosses carré von Sesseln füllt den Raum. Vorne sind zwei Stehpulte aufgestellt, hinter den Stuhlreihen eine ganze Phalanx von Kameras. Interessanterweise kommen Peskov und Lawrow früh herein, von Putin und Orbán keine Spur.
Peskov plaudert mit Journalisten. Lawrow setzt sich vorne in die erste Reihe. Die Minuten verstreichen. Ich finde es bemerkenswert, dass der Aussenminister mit den Journalisten auf den Präsidenten warten muss. Von den Ungarn ist noch niemand da. Nach einer Viertelstunde kommen die Ersten. Aber es dauert noch einmal gut zwanzig Minuten, bis die beiden Hauptdarsteller erscheinen. Sie kommen nicht von hinten in den Saal, sondern diskret von der Seite. Der Durchgang ist eher schmal. Am Eingangsschlitz, auf den beide gleichzeitig zustreben, droht ein Zweipersonenstau. Putin bleibt stehen, macht einen Schritt zurück und lässt seinem Gast den Vortritt. Beide nehmen Aufstellung vor den jeweiligen Fahnenstangen.
Putin, peinlich berührt, zuckt zusammen
Putin beginnt. Er ist kein raumfüllender Charismatiker, kein Showman. Seine Show liegt in der Ruhe. Er redet mit extrem leiser Stimme. Dadurch unterstreicht er die Monumentalität der Säulenhalle noch. Man muss sich anstrengen, sein Flüstern, trotz Mikrofon, akustisch aufzunehmen. Nach rund neunzig Sekunden erschüttert plötzlich eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher die gespannte Stille. Es ist die Dolmetscherin. Putin hatte sie vergessen. Freundlich, aber fordernd ruft sie sich in Erinnerung. Putin, peinlich berührt, zuckt zusammen und fasst sich mit der Hand unterhalb des Halsansatzes an die Brust. Er wirkt erschrocken. Meine Mutter behalf sich mit ähnlichen Gesten, wenn sie etwas überwältigte, eine erstaunlich feminine Bewegung für einen Mann, der 6500 Atomsprengköpfe kommandiert. Putin lächelt und entschuldigt sich, gibt der Übersetzerin das Wort. Sie dolmetscht, schickt dann aber, wie mir mein Nachbar erklärt, noch die Bitte an den Präsidenten, er möge lauter sprechen, sie höre sonst nichts. Brav gehorcht auch hier der Autokrat.
Bis Orbán seinen Vortrag beendet, läuft alles reibungslos. Die beiden wollen schon gehen, Fragen sind keine vorgesehen, da hält es einen russischen Journalisten mit strubbligem Haar und wildem Bart nicht mehr länger auf dem Stuhl. Auf einmal brüllt er, halb im Stehen, etwas in den Saal. Ich verstehe nur das Wort «Selenskyj». Das Publikum lacht gequält. Wird er gleich verhaftet? Kommen Uniformierte aus der Kulisse, um den Aufrührer abzuschleppen? Nichts dergleichen. Putin hält inne, verwundert, und sagt mit ausgesucht höflicher Stimme, wie man mir übersetzt, es seien keine Fragen geplant, er möge sich bitte direkt an Kiew wenden. Der Wilde lässt sich nicht besänftigen und doppelt nach. Putin geht ein paar Schritte zurück ans Mikrofon, bedankt sich, noch höflicher, jetzt mit einem väterlichen Lächeln. Dann führt er Orbán nach draussen. Zügig leert sich die Bühne dieses grossen Theaters der Macht.
Orbáns Kunst der Diplomatie
Sportlich bewegen wir uns zu den Limousinen. Wieder muss es ganz schnell gehen. Über Moskau braut sich ein Unwetter zusammen, Tropensturm. Seit Wochen sei es, Klimawandel, über 30 Grad gewesen. Mit übersetzter Geschwindigkeit über die leergefegte Autobahn erreichen wir rechtzeitig die Maschine. Ohne Turbulenzen gewinnen wir an Höhe. Geschafft, das Gewitter liegt hinter uns. An Bord wirken die Ungarn erleichtert. Orbán rollt seine Krawatte zusammen, die Ärmel krempelt er hoch. Auch durch seine entwaffnende Unkompliziertheit nimmt der Premier die Leute für sich ein. Mit dem Stabschef entwirft er den Bericht zuhanden der EU.
Man hat natürlich mitbekommen, dass sie in Brüssel schäumen. Das Imperium schlägt zurück. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell: «Orbán vertritt die Union nicht nach aussen.» Kaja Kallas, Premierministerin Estlands: «Orbán nutzt die EU-Präsidentschaft, um Verwirrung zu stiften. Petteri Orpo, Premierminister, Finnland: «Beunruhigende Nachrichten [. . .]. Sein Besuch ist eine Missachtung der Pflichten [. . .] und untergräbt die Interessen der Europäischen Union.» Ursula von der Leyen, Präsidentin, EU-Kommission: «Appeasement wird Putin nicht aufhalten.» Mette Frederiksen, Premierministerin Dänemarks: «Es gibt nichts zu besprechen.» Gitanas Nauseda, Präsident, Litauen: «Wenn man wirklich Frieden will, gibt man einem blutigen Diktator nicht die Hand.»
Ganz anders fallen die Reaktionen auf meine zwei aus Moskau gesendeten Weltwoche dailys aus. Manche Feedbacks treffen in meiner Mailbox ein. Das Interesse ist gross, das allgemeine Echo euphorisch. Viele sind begeistert, dass Orbán in seiner neuen Funktion nicht einfach in Brüssel herumsitzt, sondern etwas macht, mit allen Kriegsparteien redet. «Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als für eine Minute schiessen.» Das Bonmot von Bundeskanzler Helmut Schmidt findet sich in zahlreichen Kommentaren. In den Internet-Foren und, wie ich später lese, auch auf den digitalen Leserbriefseiten grosser Zeitungen zeigt die Mehrheit wenig Verständnis für das Gemecker aus Brüssel. Die Schweizer Medien übernehmen es fast eins zu eins in Tonfall und Substanz. Noch vor wenigen Wochen hatten die gleichen Journalisten unisono den Bundesrat kritisiert, weil der nur mit den Ukrainern rede, nicht auch mit den Russen. Wenn nun aber Orbán macht, was die Medien von unserem Bundesrat verlangen, hämmern sie trotzdem auf ihn ein. Man schaut auf die Person, nicht auf die Sache.
Eine Frage des Herzens
Orbán schmunzelt vergnügt, er hatte es geahnt: «Frieden führen Sie nicht auf dem bürokratischen Weg herbei. Die Bürokraten sind nötig, aber erst nachher. Frieden ist eine Frage des Willens, eine Frage des Herzens. Ich glaube nicht, dass sich dieser Krieg militärisch lösen lässt. Es braucht Verhandlungen.» Wie nahe ist ein Waffenstillstand? «Putin und Selenskji zweifeln noch. Beide meinen, eine Waffenruhe helfe nur dem andern.» Was ist der Grund für die Kritik aus Brüssel? «Fermentierung. Sie spüren, das Thema Frieden werden sie jetzt nicht mehr los. Alle sind für den Frieden. Angeblich. Was meinen sie damit? Die Menschen in der Europäischen Union fordern Antworten. Wir Ungarn wollen diesen Krieg isolieren und minimalisieren. Das sagten wir von Anfang an. Andere reden von Frieden, aber eskalieren den Krieg. Jetzt müssen sie die Karten auf den Tisch legen.»
Unsere Maschine fliegt nach Bergkarabach im Kaukasus. Dort findet am Tag darauf eine grosse Konferenz der türkischen Nationen statt. Ungarn pflegt hervorragende Beziehungen zu Aserbaidschan. Die Regierung in Baku hat sich grosse Mühe gegeben, innerhalb von nur neun Monaten die Trümmer des Kriegs wegzuräumen, nach der Rückeroberung des durch Armenien einst völkerrechtswidrig besetzten Gebiets. Ich frage Viktor Orbán, ob dies für ihn eine historische Woche gewesen sei. So hoch möchte er es nicht hängen. Es gehe auch nicht um ihn. Immerhin sei es gelungen, in den letzten Tagen die Kommunikation in Gang zu bringen, die Gesprächskanäle zu öffnen. «Ist das nicht das Wesen jeder Diplomatie?» Zurück auf meinem Platz, entdecke ich auf meinem Handy eine SMS-Nachricht von Tucker Carlson: «Klingt wie eine unglaubliche Reise. Gratuliere. Orbán ist ein Held.»
Unter uns kommen aus der Weite die Lichter von Schuscha in den Blick, Karabach, eine uralte Kampfzone der Zivilisationen auch hier. Seit über tausend Jahren stehen sich Christen und Muslime gegenüber. Manchmal lebten sie friedlich miteinander, dann wieder ermordeten sie sich gegenseitig in grauenvollen Massakern. Wer ist im Unrecht? Wer im Recht? Frieden setzt voraus, dass die Feinde miteinander reden. Dafür braucht es einen neutralen, für beide Seiten glaubwürdigen Ermöglicher, einen Brückenbauer. Wenn man aufhört, miteinander zu reden, wenn man die Gesprächskanäle kappt, gibt man auch die Hoffnung auf den Frieden auf. Das ist Orbáns Überlegung. Damit schreckt er in der EU einige Politiker auf. Was viel aussagt über unsere Zeit, über die EU und über unsere Politiker. Den Wichtigtuern in Brüssel, die seit über zwei Jahren an einer verfehlten Sanktionspolitik festhalten, selber nichts unternehmen und Orbán nun vorwerfen, er sende die falschen Signale aus, könnte man entgegenhalten: Sind Frieden und Friedensbemühen in Zeiten des Krieges das falsche Signal? Die EU und die Nato begannen als Friedensprojekt. Was sind sie heute? Das ist die Frage, denen Orbáns Gegner nach dieser Woche so leicht nicht mehr ausweichen können.
Epilog
Als ich diesen Text beende, steht Orbán mit der nächsten Reise schon wieder in den Schlagzeilen. Am Montag landete er in China, um mit Xi Jinping zu reden, über einen Frieden für die Ukraine. Wieder sind die Kommentare giftig. In Kiew fallen Raketen auf ein Kinderspital. Die Ukrainer beschuldigen die Russen. Die Russen weisen alle Anschuldigungen zurück. Unvermindert geht das Sterben weiter. Ich wünsche Viktor Orbán, diesem Robin Hood der Europäischen Union, alles Glück dieser Welt. Mögen seine Friedensmissionen fruchten.
Quelle: https://weltwoche.ch/story/orban-ist-ein-held/
Mit freundlicher Genehmigung von Weltwoche.ch
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