Skip to main content

Verantwortliches Denken und Handeln in der Demokratie


Verantwortliches Denken und Handeln in der Demokratie

Bürgermut stärken und ergreifen

von Dr. Anita Schächter

Der Begriff Bürgermut oder Zivilcourage stammt von Otto von Bismarck.

1864 wurde er im preussischen Landtag wegen eines kritischen Beitrags ausgepfiffen. Ein Verwandter, der dabei gewesen war, sagte anschliessend zu ihm: «Du hattest eigentlich recht. Aber so etwas sagt man doch nicht.» Woraufhin Bismarck sagte: «Wenn du meiner Meinung warst, hättest du mir beistehen sollen.» Und er fügte hinzu: «Aber man wird es nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Bürgern an Zivilcourage fehlt.»1

Ich möchte im folgenden den Begriff des Bürgermutes verwenden und umreissen:

Bürgermut meint den aufrechten Gang des Bürgers, der sich seiner Verantwortung in einem demokratischen Staat bewusst ist und der sich mit seiner Meinung, seinem Standpunkt einbringt, gerade auch, wenn dieser nicht mit dem medialen Meinungsstrom konform geht. Der Bürger mit Bürgermut ist sich bewusst, dass Demokratie sich nicht im Gang zur Wahlurne erschöpft und nur so lange funktioniert, wie er sich für dieses Funktionieren mit verantwortlich fühlt. Sie fängt in der gemeinsamen Bewältigung der alltäglichen Fragen an und sucht sich Foren des Austauschs und der Einflussnahme, wo es um grössere Fragen in der Gemeinde (wie z.B. die PPP, PublicPrivatePartnership), des Landes oder Bundes (wie z.B. den ESM) geht.

Bürgermut kann gelebt werden, wenn wir zwei Elementen Rechnung tragen: Der Meinungsbildung und der Suche nach geeigneten Formen der Umsetzung und Einflussnahme, wenn der Bürger es für erforderlich hält.

Zur Meinungsbildung

Meinungsbildung ist ein Prozess. Ihr voraus geht, dass der Bürger von einer Sache Kenntnis erhält und merkt, dass z.B. etwas daran nicht richtig sein kann, wie es von Politikern gewollt oder gefordert wird. Oder er bemerkt, dass er sich noch zuwenig in einer Sachlage kundig fühlt. Meinungsbildung vollzieht sich nicht allein durch das Lesen von Zeitungsartikeln, nicht allein durch Beiträge im Fernsehen, nicht allein durch das Lesen eines Buches oder Internet-Recherchen. Es braucht all das, aber es braucht auch, dass der Bürger das, was er liest oder hört, zu verstehen beginnt. Das demokratische Prinzip geht vom gemeinsamen Überlegen aus. Dies vollzieht sich in der Beziehung zu interessierten Mitmenschen. In gemeinsamen Gesprächen wird eine Position nach allen Seiten ausgelotet. In gemeinsamen Gesprächen geht es auch darum, andere Mitmenschen, Mitbürger einzuladen, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, diese zu vertiefen, zu diskutieren. Erst im Austausch mit anderen Menschen wird dem Bürger deutlich, ob ihm selbst der Sachverhalt schon klar ist und ob es ihm gelingt, ihn schlüssig darzulegen. Es zeichnet sich ab, wo noch Lücken im eigenen Wissensstand bestehen, welche Aspekte noch nicht oder zuwenig bedacht sind, wo er möglicherweise gedanklich in die Irre gelaufen ist. Er sieht, wie es ihm gelingt, die eigene Meinung im Gespräch mit dem Mitmenschen darzulegen, wo er überzeugen konnte, wo er eine Erkenntnis gewonnen hat, die für den anderen wertvoll im Verständnis der Vorgänge ist.

Foren, in denen wir uns eine Meinung bilden, finden wir zum Teil in institutionalisierter Form vor. Sie werden aber heute oft unzureichend ausgestaltet. Wenn, um nur ein Beispiel zu nennen, im Wissen, dass es noch krassere Sendungen gibt, bei Maybritt Illner 5 Personen aus Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit in einer emotionalisierten und verkürzten Form über einen komplexen Sachverhalt, wie z.B. den ESM, reden. Sozialpsychologisch betrachtet, hat der Zuschauer das Gefühl, hier habe er an einem Austausch teilgehabt, und er hat das Gefühl, dass hier bereits alles gesagt worden ist und er dem wenig hinzuzufügen habe. Tatsächlich war dies kein Austausch, sondern eine von den Medien inszenierte, oft nicht ausgewogene Diskussion. Durch die Auswahl, die Art der Fragen und die Entscheidung, an wen welche Frage gerichtet wird und wieviel Zeit ihm gegeben wird, den Sachverhalt dazulegen, findet eine Begrenzung und oft auch Manipulation statt, die uns im Moment der Darbietung oft gar nicht bewusst wird. Der Zuschauer hat keine Gelegenheit, sich hier in Ruhe   – mit der wirklich erforderlichen Ruhe   – ein fundiertes Meinungsbild zu machen. Er erhält Fragmente, erlebt, dass seine Gefühle mit Musik und Rhetorik künstlich angeheizt werden. Er merkt oft nicht, dass dies eine unzureichende Form der politischen Meinungsbildung ist. Sie kann Bestandteil sein, sehr wohl. Doch die politische Meinungsbildung, die unbedingt der Teilhabe an der Demokratie vorausgehen muss, muss sich anders gestalten, wenn das Ziel ist, wirklich sattelfest zu werden, um rhetorische Finessen und Winkelzüge zu durchschauen und diesen eine eigene Position entgegenzusetzen.

Von der Meinungsbildung zur Handlung

In dem fliessenden Prozess der Meinungsbildung und des darin inbegriffenen Austauschs des eigenen Meinungsstandes mit dem Mitbürger zeichnet sich oft ein Handlungsbedarf ab, der zu Beginn meist noch vage Formen hat. Es ist das Gefühl: Etwas sollte getan werden, die Erkenntnis, dass die Ausgestaltung der öffentlichen Angelegenheit nicht den Repräsentanten allein überlassen werden darf. Es zeichnet sich ab, dass es die eigene Artikulation braucht, die den Mitbürgern und den Repräsentanten übermittelt gehört.

Ich denke, dass dies gerade heute so ist, dass viele genau an diesem Punkt stehen. Die Menschen spüren innerlich, dass mit der riesigen Staatsverschuldung etwas nicht stimmt. Dass etwas nicht stimmt mit dem Ausweg, den die Politiker anbieten. Sie merken, dass viele Politiker nicht ehrlich agieren. Sie nehmen wahr, dass nicht Griechenland gerettet, sondern die Banken bedient werden sollen. Das Geld der Steuerzahler wurde den Banken und dem Finanzsektor in noch nie dagewesenem Ausmass zugeschoben. Das erkennen derzeit viele. Sie sehen oft noch nicht, was sie mit dieser Wahrnehmung tun können. Doch die Geschichte hat immer wieder gezeigt, wenn die Bürger zur klaren Meinung kommen, dass sie das, was gerade läuft, nicht wollen, der ganze Wahnsinn gestoppt werden konnte.

Jeder trägt Verantwortung für das Ganze

Der Bundespräsident sprach anlässlich der Eröffnung der 4. Tagung der Wirtschafts-nobelpreisträger in Lindau klare Worte: «Auf dem Deutschen Bankentag hatte ich den Finanzsektor bereits gewarnt. Wir haben weder die Ursachen der Krise beseitigt, noch können wir heute sagen: Gefahr erkannt   – Gefahr gebannt ... Erst haben einzelne Banken andere Banken gerettet, dann haben Staaten vor allem ihre Banken gerettet, jetzt rettet die Staatengemeinschaft einzelne Staaten. Wer rettet aber am Ende die Retter? Wann werden aufgelaufene Defizite auf wen verteilt bzw. von wem getragen?» Er spricht weiter davon, dass jeder Bürger, der Gelegenheit hatte, sich Fachwissen und Sachkenntnis anzueignen, «[...] Verantwortung trägt. Er darf sich eben auch nicht in eine eigene abgehobene Parallelwelt verabschieden. Sondern jede, jeder hat Verantwortung für das Ganze und für den Zusammenhalt in einem Land.»

Der Bundespräsident spricht hier an, dass jeder in der Lage ist, sich ein fundiertes Wissen zu erarbeiten. Dieses Wissen mahnt und verpflichtet zur Verantwortung. In einer Demokratie geht die Macht vom Volk aus. Es stellt sich die Frage, wie jeder Bürger dieser Verantwortung gerecht werden und die Gesellschaft mitgestalten kann   – sich also nicht in eine «Parallelwelt» verabschiedet. Parallelwelt meint, dass die innere Energie sich nicht auf die Lösung eines Problems richtet, sondern dass statt dessen Computer-Konsum, Spassgesellschaft, übermässiges Privatisieren, Sexkonsum oder andere Bereiche   – Parallelwelten   – in das Zentrum des inneren Strebens gerückt werden.

Kurt Singer, der sich der Frage der politischen Teilhabe des Bürgers annahm, sie als Pädagogikprofessor untersuchte, spricht hier von einer «gesellschaftlichen Lernstörung».2 Er meint uns, und zwar dann, wenn wir wegschauen anstatt unsere Intelligenz dazu zu nutzen, um die Probleme zu lösen.

Jeder, jede hat das nötige Rüstzeug, um etwas in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation zu tun.

Personales Menschenbild und politische Teilhabe in der Demokratie

Was zunächst abstrakt klingt, ist gut verstehbar: Die Personale Psychologie sieht den Menschen nicht mechanistisch. Sie sieht den Menschen nicht als ein Gefüge aus Trieben und versteht sein Tun nicht als reine Reaktion auf seine gesellschaftlichen Verhältnisse. Der personale Ansatz sieht den Menschen als Person, als Individuum, der sich im sozialen Bezug zu seinen Eltern, Geschwistern, zu allen wichtigen Bezugspersonen, auch zu seinen Lehrern, einzigartig entwickelt. Der personale Ansatz sieht den Menschen als fähig zu Vernunft, Ethik und vor allem Mitgefühl.

Aus dem Bereich der Bindungstheorie (Ainsworth, Bowlby u.a.) liegen Langzeitstudien zur Entwicklung vom Neugeborenen bis zum reifen Erwachsenen vor. Hieraus leitet sich ab, dass der Mensch über die Beziehung, über die Verbundenheit, die Einfühlung und eine Weisheit des Gefühls, seine emotionale Intelligenz entwickelt. Aus der Art des Wechselspiels mit seinen Nächsten entstehen Moralität und Ethik beim Menschen. Die Bindungstheorie beobachtete, wie das Kind den sozialen Bezug zum Mitmenschen in sich formt und hierbei ein Wahrnehmungsschema herausbildet, welches eine kreative Antwort des Kindes aus dem Wechselspiel mit seinen Nächsten darstellt.

Die gesamte Entwicklung des Menschen nimmt in der Familie den Ausgangspunkt. Dies stellt die Frage nach förderlichen und schwächenden Erziehungsverhaltensweisen. Dem Kind empathisch zu begegnen heisst nicht, alles zu akzeptieren, was es tut, nicht alles zuzulassen. Es erfordert auch Korrektur von Fehlverhalten, damit das Kind lernen kann, sich in den Beziehungen zu anderen Menschen positiv und konstruktiv einzubringen.

Die Bindung, der Rückhalt, den das Kind erhält, und seine Bedeutung als Mitmensch, derer es sich langsam und zunehmend bewusst wird, haben für das ganze Leben tragende Bedeutung. Die Beziehung zum Mitmenschen, zum Du, ist beim Neugeborenen angelegt und verliert zeitlebens nicht an Gewicht. Sie ist Dreh- und Angelpunkt des Selbstwertempfindens und des Gefühls für die eigene Wichtigkeit in der Gemeinschaft.

Die Art der Wahrnehmung bildet sich besonders in den ersten sechs Lebensjahren heraus. Doch wir wissen heute, dass auch die Jugendzeit ein äusserst sensibles Zeitfenster darstellt, in dem die Weichen nochmals neu gestellt werden können. Selbst im Erwachsenenalter finden sich deutliche Einflüsse. Dies gilt im Positiven wie im Negativen. Diese Kenntnis nimmt jeden in die Pflicht, seinen Beitrag dazu zu geben, dass er sich in seiner Persönlichkeitsentwicklung beständig nach vorne bewegt, innerlich wächst. So entwickelt oder erhält er das Empfinden des eigenen Wertes und bringt die innere Elastizität auf, um in die Gemeinschaft hineinzuwirken.

Bürgermut wächst aus positiven Erfahrungen im Lebenslauf

Wenn das Kind erlebt, dass es Resonanz auf sein Tun erfährt, dass sein Beitrag gebraucht wird, dass es zum Mitdenken angeleitet wird, entsteht die Fähigkeit zur Kooperation auch in bezug auf die grosse Gemeinschaft, auf die Gesellschaft. Dann ist der Wille zum Beitrag an die Gemeinschaft nicht Ausdruck von Machtstreben und Streben nach Überlegenheit, sondern er ist Ausdruck seines Verantwortungsgefühls als Mitmensch und Mitbürger. Die Schweizer Psychologin Annemarie Buchholz schreibt hierzu: «Aus der Erfahrung einer sicheren menschlichen Beziehung erwächst dem Kind aber auch der Mut, sich selbst treu zu sein, sich gegen etwas angemessen zur Wehr setzen zu können und später auch ohne falsche Rücksicht auf gesellschaftliche Folgen seinen eigenen Überzeugungen und Wertvorstellungen gemäss handeln zu können. Auch wenn dies einmal eine Konfrontation bedeuten sollte.»3

Zu dem Erfahren einer Fürsorglichkeit in Familie und Schule gehört die Vermittlung von Tugenden wie Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Frieden, Freiheit, Wahrhaftigkeit. Dies eröffnet dem Kind ein Lernfeld, führt zur Ausformung eines Leitmotivs, an dem entlang es sein Handeln ausrichten kann. Gemeint ist ein Erziehungsklima, in dem Mitgefühl der Ausgangspunkt der Wertebildung ist, in dem eignes Denken und selbständiges Handeln möglich ist. Hierin wächst ein Mensch heran, der bereit ist, Verantwortung für das Gelingen des Ganzen in der Gesellschaft zu übernehmen.

Der kürzlich verstorbenen Pädagogikprofessor Kurt Singer fand in seiner Untersuchung zu entwicklungsfördernden Voraussetzungen von Bürgermut, dass bei allen mutigen Bürgern Werte eine herausragende Rolle spielten. «Es gab Ziele und Tugenden, die für alle etwas bedeuteten, zum Beispiel Nächstenliebe, Mitleid, Liebe zur Natur, Fürsorge für andere, Ehrlichkeit. Dabei ging es nicht um Verhaltensregeln wie etwa: ‹Man lügt nicht!›   – Vielmehr setzte sich die Familie bewusst damit auseinander, was Wahrhaftigkeit für die eigene Person und in der Beziehung zu anderen bedeutet.» (Singer, 1992, S. 26)

Unter den zahlreichen biographisch aufgeschlüsselten Beispielen, die Singer in seinem Buch festhält, ist auch das einer Frankfurter Bürgerin (Hannelore Kraus), die in Frankfurt als Nachbarin verhinderte, dass der höchste Wolkenkratzer Europas gebaut wurde. Selbst als man ihr drei, später acht Millionen bot, verweigerte sie ihre Zustimmung. Ihr war es wichtiger, dass ein altes Frankfurter Stadtquartier erhalten bleiben konnte. Singer erfragte ihre Lebensgeschichte und erfuhr, dass ihr Grossvater als Werkmeister eine Begutachtung vorzunehmen hatte, die seine Firma von einem Fehler, den ein Kunde gerichtlich eingeklagt hatte, entlasten sollte. Dieser fand hingegen heraus, dass der Kunde zu Recht klagte. Der Arbeitgeber bedrängte ihn, das Ergebnis seiner Nachforschungen nicht aufzudecken, sondern zu schweigen. Das jedoch tat er nicht. Auch nicht, als man ihm mit Entlassung drohte, was für seine neunköpfige Familie eine existentielle Gefährdung darstellte. Dieser Grossvater liess sich nicht davon abbringen, zur Wahrheit zu stehen. In der Familie war man stolz auf ihn. Diese Frau hatte noch mehrere solche Erfahrungen gemacht, und es stärkte sie in ihrem eigenen wertgerichteten Handeln. Das war es, was es ihr ermöglichte, auch nicht durch das Acht-Millionen-Angebot gegen ihre eigenen Überzeugungen zu handeln.

Bürgermut wächst als Reaktion auf negative Erfahrung im Leben

Singer beschreibt aber auch, dass Menschen, die in den Eltern wenig Vorbild und Anregung hatten, dennoch Wertvorstellungen entwickelten, die sie zu aufrechten und mutigen Bürgern werden liessen. Dies war der Fall, wenn sie sich z.B. durch das Lesen von Biographien «Mütter» oder «Väter» schafften, mit denen sie sich identifizieren konnten und die ihnen zum Leitmotiv in der Ausgestaltung ihrer demokratischen Teilhabe, ihres Bürgermutes, wurden.

Singer konnte herausfinden, dass in biographischen Verläufen mutiger Bürger auch das genaue Gegenteil zutraf: Negative Erfahrungen können das Motiv bilden, sich für andere oder für Werte einzusetzen, weil man nicht vergessen kann, dass man darunter einmal leiden musste. Dadurch dass Menschen, die z.B. unter Unfreiheit litten, sich für die Freiheit anderer einsetzen, beginnen sie sich von ihrem eigenen schmerzlichen Gefühl freizuschwimmen. Der Mensch kann sich dafür entscheiden, nicht zu vergessen, worunter er selbst leiden, was er selbst entbehren musste, und ist dadurch in der Lage, eine Situation richtig einzuschätzen und sein Handeln danach auszurichten.

Immer ist es der jeweilige Mensch, der etwas aus seinen Lebensumständen macht. Dies belegt auch die Resilienzforschung eindrucksvoll. Ihre Kernaussage lautet: Nicht die Lebensumstände prägen den Menschen. Vielmehr interpretiert der Mensch die Lebensumstände. Er setzt sich mit diesen auseinander und findet eine gefühlsmässige und eine lebenspraktische Antwort hierauf. Zahlreiche Langzeitstudien, die ganze Lebensverläufe dokumentieren, konnten zeigen, dass Kinder aus äusserst schwierigen und belastenden Lebensumständen sehr zugewandte und lebenstüchtige Erwachsene wurden. Dies war dann möglich, wenn sie eine vertrauensvolle Beziehung zu einem Erwachsenen hatten und wenn eine Anzahl von kleineren, positiven Lebensumständen sich addierte wie das Ausführen eines Hobbys, eine gute Schüler-Lehrer-Beziehung, das Gestalten von freundschaftlichen Beziehungen, Hilfsbereitschaft und andere mehr.

Langzeitstudien aus der Bindungs-, Entwicklungs-, Sozialpsychologie, klinische Studien und die praktische psychologische Erfahrung, selbst bildgebende Verfahren, die die Belege heute nachliefern, untermauern die Erkenntnis, dass die Verbundenheit mit dem Mitmenschen, das vertrauensvolle und kooperative Mittun und der Wunsch nach sozialer Akzeptanz zu einer Gemeinschaft eine zentrale menschliche Kraft darstellen.

Menschen streben nach Kompetenz und Wissenszuwachs. Das Gefühl der Ohnmacht schwächt jeden, der darin verharrt. Beginnt der Mensch, seinen Beitrag zu geben, löst sich das Gefühl der Ohnmacht, dadurch dass er beiträgt und dort etwas sagt, wo er etwas zu sagen hat. Der demokratische Bürger ist in der Lage, das Gemeinwesen aktiv mitzugestalten. Es entspricht dem Wesen des Menschen, dies im Sinne des Gemeinwohls zu tun. Jeder von uns ist in der Lage, Verantwortung auch gegen den Willen anderer zu übernehmen, da wo er von der Notwendigkeit seines Handelns überzeugt ist.

Im Alltag braucht es eine bewusste Entscheidung, wohin der Bürger sich bewegen will: Bleibt er auf dem Zuschauerrang oder beginnt er aktiv zu gestalten? Die Frage, die jeder an sich richten kann, ist die, ob es der beste, der stärkste Teil in uns ist, der hier handelt, oder ob sich in uns ein noch besserer Anteil findet, zu dem wir uns hinwenden, den wir ausfüllen wollen.

Wie wächst Bürgermut?

Bürgermut wächst da, wo der Mensch sich eine Meinung bildet, wo er beginnt, sich mit dem Mitmenschen auszutauschen und etwas zu tun. Gegebenenfalls auch gegen den Strom.

Wie führt Bürgermut zu innerem Wachstum?

Jeder trägt den Wunsch in sich, einen positiven Beitrag zum Gelingen des Ganzen geben zu wollen. Das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, das Gefühl, für den Mitmenschen nicht von Bedeutung zu sein, kommt dem Empfinden von körperlichem Schmerz nahe.4

Beginnt der Mensch, sich einzumischen, spürt er, dass er als Mitmensch Bedeutung hat, und erlebt sich als wertvoll für andere. Mehr noch: er besteht vor sich selbst. Wer im Einklang mit dem Verantwortungsbewusstsein lebt, muss sich nicht fragen, warum er nichts gegen problematische Zustände in der Gesellschaft zu tun bereit war. Bürgermut räumt auf mit Kleinheitsgefühlen, eigenen Unsicherheiten oder Ängsten, die bei den meisten noch als Restbestand aus alten Zeiten im Gefühl motten.

Wer beginnt, mit seiner ganzen Person für das einzutreten, was er für richtig befindet, und sich gemäss der eigenen Einschätzung verhält, erfährt ein Wachstum in seiner Persönlichkeit. Dann lässt er sich nicht entmutigen vom Pessimismus mancher Mitbürger. Es ist möglich, die Haltung auszuloten, in einem Meinungsstreit in Beziehung zu bleiben, das heisst, innerlich die Beziehung zum anderen nicht abzubrechen, auch, wenn er etwas in der eigenen Sicht Unhaltbares vertritt. Das gibt einem selbst die Sicherheit, dass dies auch umgekehrt gilt, wenn jemand in einem Meinungsstreit persönliche Abwertungen lanciert.

Bürgermut hilft die eigene Identität zu festigen, er stärkt das Selbstwertgefühl und festigt das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Bedeutung für den Mitmenschen.

Zusammenfassend gilt:

Bürgermut, das Handeln in der Demokratie, setzt den Prozess der Meinungsbildung voraus. Diese vollzieht sich in der Erarbeitung von Sachkenntnis und im Gespräch mit den Mitbürgern. Sachkenntnis ist die Voraussetzung für öffentliche Mitsprache. Die erforderlichen Informationen muss der Mensch sich zugänglich machen.

In der Folge kann die Erkenntnis wachsen, dass etwas getan werden sollte, und das Entwickeln und das Diskutieren der Ideen stehen im Zentrum. Auf der Basis der Information wächst oft der Wunsch, tätig zu werden.

Das Handeln in der Demokratie, das Ergreifen von Bürgermut befindet sich in Übereinstimmung mit dem personalen Menschenbild. Bürgermut fragt nicht nach dem Erfolg, er entspringt dem Bedürfnis des Menschen, mitgestalten zu wollen, verantwortlich handeln zu wollen.

Der Mensch gewinnt in seiner Persönlichkeit, er reift und entfaltet sich. Er entwickelt mehr Lebenszufriedenheit, wenn er etwas für die Gemeinschaft tut und seiner Verantwortung für die nachfolgende Generation gerecht wird.

So ist aus psychologischer Sicht vorhersagbar, dass jeder, der die demokratische Teilhabe ausfüllt, ein persönliches Wachstum erfährt, das ihn mit Zufriedenheit erfüllt.

Quelle: Genossenschaft Zeit-Fragen Nr. 40 v. 03. 10. 2011
www.zeit-fragen.ch


Weitere Beiträge in dieser Kategorie