Zweifel an Sinn und Methodik der Kapitalismus-Studie der BBC: Manipulation und Kontrolle als Untersuchungszwecke?
von Volker Bräutigam
„Nur elf Prozent pro Kapitalismus“ schrieben die einen. Die anderen titelten „Immer mehr Menschen lehnen den Kapitalismus ab“.
Oder ähnlich. Halbinformation lieferten sie zumeist: Zeitungen und Zeitschriften gingen mit dem Thema genauso leichtgläubig wie leichtfertig um wie einige elektronische Massenmedien. Keiner riskierte mehr als gerade mal einen oberflächlichen Kurzbericht über die global angelegte, nach Volkes Urteil über das kapitalistische Gesellschaftssystem forschende Studie der britischen BBC. Kaum einer der Berichterstatter merkte, dass er auf ganz dünnem Glatteis spazierte.
Oberflächlicher Journalismus wie dieser zeigt, wie problematisch demoskopische Umfragen generell sind. Sie nehmen inzwischen überhand und werden zu unterschiedlichsten Zwecken veranstaltet. Nicht immer, jedoch hauptsächlich zur sozialen Ausforschung. Oft zur Entwicklung von Pseudo-Argumenten, inszeniert als Alibis, als sogenannte Entscheidungshilfen, sogar zur Verschleierung tatsächlicher Absichten, zur Verführung, Agitation und damit fast immer zur Desinformation. Meist sind sie von zweifelhafter Wissenschaftlichkeit und nähren die Befürchtung, Teil einer mächtigen, raffinierten, infamen Desinformationsmaschinerie unserer Geld- und Machteliten zu sein. Die Medien werden darin nicht nur als Transportmittel verwendet, sondern mal in Komplizenschaft aktiv, mal selbst Manipulationsopfer.
Bezogen auf den vorliegenden Fall, die BBC-Studie: Das journalistische Elend in der Berichterstattung darüber begann schon bei der Suche nach möglichst knalligen Schlagzeilen. „Studie offenbart weltweite Unzufriedenheit mit Kapitalismus“ meldete beispielsweise der SPIEGEL. Tatsächlich hatte die BBC aber zwei Studien veröffentlicht, allerdings in einem gemeinsamen Rahmen.
Die eine, vorgenommen vom Londoner GlobeScan (Global Public Opinion and Stakeholder Research)1, trägt den Titel „Verbreitete Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus – 20 Jahre nach dem Fall der Mauer“ (orig.: Wide Dissatisfaction with Capitalism — Twenty Years after Fall of Berlin Wall)2. Die andere ist mit „Weltweite Umfrage zeigt Zustimmung zu höheren Staatsausgaben und mehr Marktkontrolle“ überschrieben (orig.: Global Poll Shows Support for Increased Government Spending and Regulation)3.
Die beiden Studien geben unterschiedliche Erhebungsdaten an. Einmal (GlobeScan) als aus 27 Industriestaaten und sog. Schwellenländern stammend und von 29 033 Befragten. Im anderen Fall in 20 Ländern von 22 158 Personen abgefragt. Voneinander abweichende Grunddaten, verschiedene Betitelung, andere Akzentuierungen: Der zweite Demoskop heißt PIPA (Program on International Policy Attitudes)4 und ist ein US-amerikanisches Forum.
Die BBC legt viele Rahmendaten offen, einschließlich der Fragestellungen und der Angaben zur Methodologie.5 Insoweit bleibt nur zu kritisieren, dass dieses Material in den aktuell berichtenden deutschen Massenmedien kaum Berücksichtigung fand, dass nicht eingehend darüber berichtet wurde.
Ein wesentlicheres Defizit liegt anderswo: In allen mir zugänglichen Berichten, die zu der Studie bisher veröffentlicht wurden, fehlen folgende Angaben – weil die Studie selbst darüber nichts darlegt:
Im Rahmen einer Langzeitbeobachtung lassen sich Datenerhebungen wie die hier besprochene ausgezeichnet nach Indikatoren für soziale Unruheherde – sprich: Gefahrenpotenziale –auswerten. Getarnt als sozialwissenschaftliche Studien von öffentlichem Interesse könnte das eine Dauerüberwachung bedeuten. Ein Kontrollsystem, dazu geeignet, der internationalen Plutokratie Hinweise auf regionale Brennpunkte zu liefern, die dann z.B. einer NATO-konkreten Aufmerksamkeit anheimgestellt würden. Nicht nur der Aufmerksamkeit des Militärs, sondern natürlich auch der jeweiligen Polizeibehörden und Geheimdienste, die einerseits global aktiv sind (CIA, BND usw.) bzw. international oder z. B. europäisch miteinander vernetzt (u.a. BKA, Stichwort: Terrorismusbekämpfung).
Erstens ist das hehre, rein wissenschaftliche Interesse solcher Medienkonzerne wie der BBC zu bezweifeln (die ihre öffentlich-rechtliche "Unschuld" längst verloren hat; darin ist sie den deutschen Sendern von ARD über DLF und DW bis ZDF vergleichbar).
Zweitens fehlen in der Studie einige wichtige Indikatoren für eine rein zivilwissenschaftlich orientierte Untersuchung. Beispiel: Sie enthält keine Abgleichsverfahren zur Berücksichtigung der unterschiedlichen Bildungsstandards der Befragten, nicht einmal umfassende Differenzierungsprozesse nach sozialen Standards. Die Darstellung der Methodologie bei der Umfrage gibt darüber keine schlüssige Auskunft und nennt auch keinen akzeptablen Grund für das Defizit.
Für eine zivile, rein wissenschaftlich angelegte Studie wäre wesentlich, die Aussagekraft der Interviewantworten zu prüfen und darzulegen. Wobei, nur ein grobes Beispiel, danach zu unterscheiden wäre, ob ein intellektueller Wohlstandsbürger in einem entwickelten Industriestaat zur Akzeptanz kapitalistischen Wirtschaftens befragt wird, ein armer Prolet aus einem sogenannten Schwellenland – oder ein Mensch, der sich auf dem Bildungsniveau des durchschnittlichen US-Bürgers bewegt (ergo sein politisches Wissen aus TV-Seifenopern schöpft, nicht aber aus Zeitungen und Büchern).
Dass für die Befragung überhaupt soziale Auswahlkriterien bedacht wurden, zeigen lediglich zwei dürftige Bemerkungen im Kapitel Methodologie: Befragt wurden ausschließlich Erwachsene. In sieben Ländern wurden nur Großstadtbewohner interviewt, teils persönlich, teils telefonisch.
Zugegeben, wissenschaftlich und empirisch vertretbare Abgleich-Verfahren nach Bildungsstandards und nach sozialen Kriterien für eine Befragung von 29 000 Personen aus 27 Nationen wären hochkomplex und hätten beträchtlichen Aufwand erfordert. Wären in der Studie aber wenigstens Ansätze davon erkennbar, so könnten sie als Indikatoren einer „zivilen“ Interessenlage der Auftraggeber gelten – und die Studie erschiene weniger beunruhigend.
Aber solche Indikatoren fehlen, leider. Das lässt Raum für Spekulationen. Die Veröffentlichung könnte ja auch erfolgt sein, weil die Umfrageergebnisse nahelegen, der Kapitalismus werde sich bei nur noch elf Prozent Zustimmung bald von selbst erledigt haben, es bedürfe folglich keiner weitergehenden Anstrengungen zu seiner Beseitigung mehr: Proletarier aller Länder, beruhigt euch! Eine fatale Fehlorientierung für alle linken politischen Kräfte, für die ganze Menschheit, von Nutzen nur der Plutokratie und deren Lenkungsstab, der Bilderberg-Konferenz.6
Man sollte sich füglich der Frage widmen, wer da wohl einen globalen „Pulsfühler“ angelegt hat und möglicherweise wissen will: „Wann und wohin schicken wir die 4. Flotte? Oder: Wo noch, nach Jugoslawien und außer in Afghanistan, könnte die NATO demnächst ein wenig Wiederaufbauhilfe leisten? In Guinea vielleicht?
Selbstdarstellung (frei übersetzt): Gegründet 1992 zum Zweck, der öffentlichen Meinung größeres Gewicht in den internationalen Beziehungen zu verleihen. PIPA führt Tiefenstudien zur öffentlichen Meinung durch, die Umfragen, Fokusgruppen und Interviews umfassen. Seine Befunde verbindet es mit denjenigen anderer Organisationen. Bei Entwicklung der Umfragen sucht PIPA aktiv die Beteiligung von Angehörigen der Politik-Gemeinschaft, um so eine unmittelbare Relevanz für die Bedürfnisse der Politikgestalter zu erreichen. PIPA ist ein Gemeinschaftsprogramm des Zentrums für Politikanschauungen (COPA) und des Zentrums für Internationale Sicherheitsstudien (der staatlichen Universität) in Maryland.7
Was ist das, die „öffentliche Meinung“? Wer ermittelt, repräsentiert, wer reflektiert sie? Etwa die Presse? Wer interpretiert und wer beeinflusst sie? Was besagt sie, welche Rückschlüsse erlaubt sie?8
Wer weitergehenden Informationsbedarf hat, möge mit Bordmitteln recherchieren – wozu gibt es Suchmaschinen im Internet – und Fragen stellen wie:
Teilantwort: CISSM (genau so „unabhängig“ wie viele derartige Institute an US-bundesstaatlichen Universitäten, hier aber besonders fragwürdig wegen enger Verflechtungen mit der politischen Elite im nahegelegenen Washington) forscht zu Sicherheitsfragen im Rahmen der Globalisierung. Frei übersetzt: „Es ... entwickelt Strategien (gegen) ... vermehrte Militarisierung des Weltraums, lokale Dynamik des Zivilkonflikts und die Wechselbezüge zwischen Erderwärmung, Atomenergie und Nuklearwaffen. CISSM hat auch Forschungsprojekte über Geheimdienstpolitik ...“9
Ach so, na fein. Nun muss aber jemand erklären, warum und inwieweit Informationen solcher illustren akademisch-geheimdienstlichen Chimären qualifizierter seien als z.B. die schäbigen „Expertisen“, die Prof. Raffelhüschen, Kostgeldempfänger von Versicherungskonzernen, über Deutschlands gesetzliche Renteversicherung verbreitet. Der hierzulande praktizierte journalistische Umgang mit der BBC-Studie erscheint nämlich ebenso fahrlässig und gemeingefährlich wie die medialen Inthronisationsfeiern für deutsche Professoren aus der Lobbyszene (Hans-Werner Sinn, Bert Rürup etc. pp.) als Wirtschafts-Päpste.
Volker Bräutigam schreibt regelmässig für die Zeitschrift Ossietzky, Nachfolgerin der «Weltbühne», die dem deutschen Journalismus zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zur Ehre gereichte. Ossietzky orientiert sich strikt an diesem Vorbild.
Im Oktober 2009 erschien sein Buch "Die Falschmünzer-Republik" Von Politblendern und Medienstrichern.