In Reaktion auf den Ukraine-Krieg hat der letztjährige Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis, zusammen mit den drei Frauen im Bundesrat, die tradierte schweizerische Neutralität versenkt. Diese war allerdings seit längerem bedroht und zwar aus vielschichtigen Gründen   – hier nur einige davon:

• Kritik an der Neutralität gab’s seit dem Zweiten Weltkrieg: Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Achsenmächten brachten den Verdacht auf, die Schweiz sei eine Kriegsgewinnlerin.

• Seit 1945 hat die Schweiz sich stark verändert: Das grenzenlose Weltwirtschaften hat unserem Land neue Abhängigkeiten und ein Übermass an Komplexität gebracht. Ein Tohuwabohu, das nicht nur die Parteien und die Stimmbürgerschaft, sondern manchmal auch den Staat oft überfordert.

• Die Bevölkerung hat sich durch die Einwanderung nahezu verdoppelt: Multikulturalisiert und globalisiert nimmt der Anteil an Neuschweizerinnen und Neuschweizern in der Stimmbürgerschaft rasch zu. Viele sind heute   – direkt oder indirekt   – mit dem Ausland verbunden und haben inzwischen zwei oder sogar noch mehr Pässe.

• Die Parteien sind zersplittert. Alt- und Neulinke verstehen sich nicht: Erstere sind systemkritisch, letztere, je nachdem, an individuenzentrierter Sensibilität oder Empfindlichkeit orientiert. Grüne und Grünliberale stehen in Konkurrenz, wollen aber genauso weiterwachsen wie die SVP, die Alt- und Neoliberalen   – erstere nationalterritorial verortet, letztere an der Hyperglobalisierung interessiert.

• Zu unguter Letzt: Früher waren politische Ämter an Strukturen und damit verantwortungsethisch an- und eingebunden, heute werden sie oft als persönliche Rolle interpretiert ….und dann entsprechend gesinnungsethisch eingefärbt oder publikumswirksam zelebriert.

I Was tun in solch vertrackter Situation?   – ein paar Vorüberlegungen

11. Zuerst, was wir ganz und gar nicht brauchen können, ist „Groupthink“ (1) 

Gruppendenken hat sich bereits in der Corona-Krise angekündigt: Es kommt auf, wenn Menschen Angst haben oder verunsichert sind. Dann nehmen Schwarz-Weiss-Malerei und Lagerdenken überhand, die Eigengruppe wird idealisiert, Andersdenkende und Fremde werden dämonisiert; es gilt nur noch das Entweder-Oder   – das sind Erlebens- und Verhaltensmuster, die mit Realitätsverzerrungen verbunden sind und die zu gravierenden Fehlentscheidungen führen.

12. Was wir stattdessen dringend brauchen ist ein Grundkonsens 

Ein Grundkonsens über die zentralen staatspolitischen Institutionen   – und dazu gehören in der Schweiz beide: Die Neutralität und die Direkte Demokratie.

• Die Direkte Demokratie gibt den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern die Möglichkeit, über wichtige Gesetze und Sachgeschäfte direkt und eigenständig zu entscheiden. Beides setzt Sachkenntnisse und Sachverstand voraus, aber auch ein besonderes Verhältnis der Bürger und Bürgerinnen zu ihrem Staat und zu ihren Mitbürgern.

Denn lebendig bleibt die Direkte Demokratie nur auf der Basis von „Politischer Fairness“. 

Diese schliesst ein:          
• die Pflicht zu einer sachbezogenen Auseinandersetzung,
• den Mut, parteienübergreifend und kontrovers miteinander zu debattieren,           
 • den Respekt, der allen zukommt   – auch dem politischen Gegner.

Das ist der Boden, auf dem die Direkte Demokratie auch künftig funktionieren und unser Land in einer Welt voller Widersprüche und Ambivalenzen langfristig bestehen kann.

In diesem Sinn will ich im Folgenden über die schweizerische Neutralität nachdenken. Nicht ihre staatspolitischen Regeln und Implikationen werde ich fokussieren, sondern jenen Aspekt der Neutralität ins Zentrum stellen, der unserem Land Besonnenheit bringt.

II Zur Neutralitäts-Initiative 

„Neutralität“   – eine unparteiische Haltung in internationalen Konflikten   – beinhaltet das Verhältnis der Schweiz zu sich selbst und zur übrigen Welt: Nicht nur zu Europa und zum Westen, sondern zu jener weit grösseren „Restwelt“, deren Bedeutung und numerisches Gewicht rasch zunimmt. 

Weil derzeit die tradierte Neutralität der Schweiz von innen und von aussen bedroht ist, hat Altbundesrat Blocher eine Initiative angestossen. Konzipiert aber wurde die Neutralitäts-Initiative von einer  parteien-übergrei-fenden Gruppe und zwar so, dass Herr Blocher w e i t   – sogar sehr weit!   – über seinen eigenen Schatten springen musste. Zu diesem Wagnis sei ihm herzlich gratuliert.

Nur ganz kurz zu dem, was von der tradierten Neutralität erwahrt werden soll. Wie bisher hat die Schweiz eine bewaffnete Neutralität mit einer Armee zur Selbstverteidigung. Sie beteiligt sich weder an Kriegen noch an nicht-militärischen Zwangsmassnahmen und sie tritt auch keinen Militärbündnissen bei. Aber ganz und gar UNO-konform trägt sie jene Sanktionen mit, welche die UNO verhängt.

21. Doch jetzt zum Neuen an der Initiative 

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