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Gemeinwohl oder Staatsraison?

Gedanken zum Frieden im Globalzeitalter
von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Köchler*

Hans Koechler
Hans Köchler (Bild hanskoechler.com)

Tarnung von Machtpolitik unter dem Deckmantel von «Gemeinwohl»

Für die Zwecke unserer Analyse verweise ich auf zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit: Reden, die zwei Präsidenten der Vereinigten Staaten   – Vater und Sohn   – vor drei bzw. zwei Jahrzehnten gehalten haben. Im Golf-Krieg 1991 verkündete Präsident Bush senior mit grossem Pathos eine «Neue Weltordnung», in der sich unterschiedliche Staaten und Völker im gemeinsamen Anliegen («common cause») zusammenfinden sollten, das allumfassende Streben der Menschheit nach Frieden, Sicherheit und Freiheit auf Dauer zu verwirklichen (State of the Union Message vom 29. Januar 1991). Ein Jahrzehnt später sprach Präsident Bush junior vom Kampf der ganzen Welt   – der «Zivilisation» schlechthin   – um Fortschritt, Pluralismus, Toleranz und Freiheit (Address to the Nation vom 20. September 2001).

Beide Proklamationen   – von Vater und Sohn   – stellten das auf diese Reden folgende bewaffnete Vorgehen, das sie ankündigten, in den idealistischen und universalistischen Kontext des Gemeinwohls der Menschheit. Die ernüchternde historische Wahrheit ist jedoch, dass die Welt drei Jahrzehnte hindurch (von der ersten Rede 1991 an gerechnet) Zeuge und Opfer eines Ringens um die globale Vorherrschaft war, für das ganze Regionen und deren Völker mit Krieg überzogen wurden; man braucht nur nach Afghanistan, in den Irak, nach Libyen, nach Syrien oder in den Jemen zu blicken.

Die mit eschatologischem Pathos verkündete «Neue Weltordnung» mündete letztlich in einen «Krieg der Welten», dessen Ende noch immer nicht in Sicht ist   – auch nicht nach den Ereignissen vom 31. August dieses Jahres und dem offenkundigen Verzicht des in Afghanistan gescheiterten Hegemons auf eine Fortsetzung der Politik des «nation building». Das Fazit, das man aus diesem (bis jetzt) dreissigjährigen Krieg ziehen muss, ist, dass das Gemeinwohl stets dann herhalten muss, wenn die Machtpolitik einer Tarnung bedarf.

Gemeinschaftliches Handeln ist das Wesen menschlicher Gattung

Zur Klärung der Sachlage bedarf es einer philosophischen Besinnung auf die Grundzüge der Politik, d. h. der Herausarbeitung der Tiefendimension politischen Handelns. Die aristotelische Charakterisierung des Menschen als ζῷον πολιτικόν [zóon politikón] bedeutet, dass gemeinschaftliches Handeln das Wesen unserer Gattung ausmacht. Ziel jeder Polis   – in welcher Form sie auch immer organisiert sein mag   – ist die Sicherung des Überlebens sowie die Steigerung der Lebensmöglichkeiten jedes ihr Angehörenden durch gesellschaftliche Arbeitsteilung.

Dies bedeutet gleichsam ex definitione eine Orientierung am Wohl aller. Darin besteht eben das Ziel der res publica (der Republik als der «gemeinsamen Sache»): Das Individuum erhebt sich über seine Vereinzelung und entscheidet, jeder für sich, nicht nur seinen Partikularinteressen zu folgen, sondern seine Ziele im Rahmen einer Organisationsform anzustreben, die der Sache des Volkes (res publica/Republik) dient. Man kann hier auch eine Analogie herstellen zu dem von Rousseau beschriebenen Schritt von der volonté particulière hin zur volonté générale, welch letztere nicht als uniformer Gemeinwille, sondern als der auf das Gemeinsame gerichtete Wille jedes Einzelnen zu sehen ist.

Einziges Ziel und Legimitation politischen Handelns ist das Gemeinwohl

Es versteht sich von selbst, dass die «natürliche» Organisationsform eines solchen Republikanismus die Demokratie ist   – im Sinne der direkten Beteiligung aller an den gemeinschaftlichen Angelegenheiten. (Demokratie ist ihrer Natur nach Herrschaft des Volkes [direkt], nicht Herrschaft über das Volk [repräsentativ].) Jeder Amtsträger einer demokratisch verfassten Republik verpflichtet sich feierlich, den Interessen dieses seines Gemeinwesens   – und nicht lediglich seinen Partikularinteressen   – zu dienen. Dies ist auch der Inhalt eines jeden Amtseides. Ziel und Legitimation des politischen Handelns ist einzig das Gemeinwohl im ganz prosaischen Sinn: als Wohlstand und Gedeihen aller Bürger im jeweiligen Staat.

… gebunden an Gerechtigkeit und Menschenrechte

Allerdings gilt ebenso, dass die Mittel zur Erreichung dieses Zieles nicht beliebig sind. Politisches Handeln ist auch und gerade, wenn es die «nationalen Interessen» (d. h. das Wohl des Gesamtstaates) artikuliert, nicht nur an die jeweilige Verfassung und die innerstaatliche Rechtslage, sondern auch an die allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit und der Menschenrechte gebunden.

Diese sind gewissermassen das jus cogens staatlichen Handelns. Wenn das Gemeinwohl der Bevölkerung eines Staates mit beliebigen Mitteln realisiert werden soll   – «koste es, was es wolle»   –, notfalls auch jenseits der Regeln des Rechts und der Moral, dann degeneriert es zur blossen Staatsraison, deren einzige Maxime die Selbstbehauptung des bestehenden politischen Gefüges ist. Eine derartige Strategie erinnert an Machiavellis Überlegungen zu den Methoden einer Politik, deren es bedarf, um «mantenere lo stato» (den Staat aufrechtzuerhalten).1

Wie bei allen sich auf das gesellschaftliche Handeln beziehenden Prinzipien ist es auch beim Prinzip des Gemeinwohls so, dass es, wenn es auf die Mittel seiner Verwirklichung reduziert, also isoliert und verabsolutiert gesehen wird, sich in sein Gegenteil verkehrt: nämlich in einen puren Etatismus, der die Selbsterhaltung des Staates   – losgelöst von der Lebenssituation des Staatsvolkes, das er repräsentiert und das allein seine Existenz rechtfertigt   – als Selbstzweck statuiert.

Nach dieser Logik wäre dann allerdings auch der Einsatz von Atomwaffen zur Sicherung des Überlebens des Staates möglicherweise rechtskonform, wie der Internationale Gerichtshof in einem nicht unumstrittenen Teil seines Gutachtens (Advisory Opinion) zur Rechtmässigkeit der Drohung mit oder des Einsatzes von Atomwaffen feststellte.2

Etatismus in diesem abstrakten Sinn   – als Staatsraison der jeweiligen Machthaber (der herrschenden Elite), bestimmt von deren Streben nach Erhalt und Mehrung der Macht   – scheint auch die treibende Kraft hinter der Abfolge von Kriegen um die Vorherrschaft in der nunmehr seit 30 Jahren imaginierten «Neuen Weltordnung» zu sein   – der Zeitspanne, auf die ich mich eingangs bezogen habe. Worauf es jetzt   – in der prekären Situation eines nicht enden wollenden Krieges, dessen Sinn- und Aussichtslosigkeit (Stichwort «global war on terror») uns in diesen Tagen wieder besonders vor Augen tritt   – ankommt, ist eine Rückbesinnung auf das Prinzip des Gemeinwohls als inhaltliche, nicht bloss formale Existenz- und Legitimationsgrundlage des Staates.

Rückbesinnung auf das Gemeinwohl als Grundlage des Staates

Mehr als in früheren Epochen gilt das Gesetz der Interdependenz. Im globalen Zeitalter ist jedes Gemeinwesen jederzeit mit allen anderen verbunden. Eine Autarkie   – «splendid isolation»   – gibt es für die meisten Staaten nur unter Verzicht auf wesentliche Errungenschaften der technischen Zivilisation, d. h. letztlich, unter Minderung der Lebensqualität.

Wenn also Autarkie keine realistische Option mehr ist, muss die jeweilige Polis zur Kenntnis nehmen, dass das Wohl ihrer Bürger untrennbar mit dem Wohl der Bürger aller anderen Gemeinwesen verknüpft ist. Dies wird insbesondere auch in der Umwelt- als der zentralen Überlebensfrage der Menschheit deutlich. Das Gemeinwohl kann und darf also nicht mehr exklusiv, lediglich bezogen auf den eigenen Staat, alle anderen ausschliessend, definiert werden. Ansonsten wird es, wie angedeutet, zur blossen (abstrakten) Staatsraison als Grundlage der Machtpolitik, d. h. der machtpolitischen Interessendurchsetzung gegenüber allen anderen Staaten.

Voraussetzungen für eine echte Friedenspolitik

Gemeinwohl muss vielmehr auch inklusiv   – mit Bezug auf die gesamte Staatengemeinschaft   – definiert werden. Es gibt also zwei kategoriale Ebenen: (1) Gemeinwohl auf der Ebene der Individuen (Bürger) des Staates (innerstaatlich) und (2) Gemeinwohl auf der Ebene der Staaten als kollektiver Organisationsformen bzw. Subjekte des Völkerrechts (zwischenstaatlich). Nur wenn ein Staat «lernt», seine nationalen Interessen   – Inbegriff des Gemeinwohls auf innerstaatlicher Ebene!   – gemeinschaftlich mit allen anderen Staaten zu artikulieren, kann er eine glaubwürdige und konsistente Friedenspolitik entwickeln.

So wie der Staat erst entsteht, wenn der Einzelne lernt, seine Partikularinteressen im Rahmen des allgemeinen Interesses zu positionieren, d. h. sich nicht als isoliert Handelnden, sondern als Mitglied einer Gemeinschaft, als Bürger, versteht, so kann es eine zwischenstaatliche (letztlich globale) Friedensordnung nur geben, wenn jeder Staat sich über den Zustand der «souveränen Vereinzelung» erhebt und als gleichberechtigtes Mitglied der weltweiten Staatengemeinschaft agiert. Darin besteht das Wesen der von der UNO als zentrales Prinzip proklamierten «souveränen Gleichheit der Staaten».

Abschliessend ist festzuhalten: Sobald es mehr als einen Staat gibt und die Staaten untereinander in Beziehung treten (Autarkie à la Robinson ist in der technischen Zivilisation nur noch eine abstrakte Idee), ist das Gemeinwohl jedes einzelnen (souveränen) Staates immer auch eine Funktion des globalen Gemeinwohls. Dies bedeutet, dass die nationalen Interessen, wenn der Friede gewahrt werden soll, nur auf der Basis der Gegenseitigkeit geltend gemacht werden können. Alles andere würde die Welt in die «Souveränitätsanarchie» früherer Jahrhunderte zurückfallen lassen. Unter den Bedingungen der globalen Koexistenz der Staaten und Völker widerspricht der Begriff «Gemeinwohl» sich selbst, wenn er sich nur auf ein einziges Gemeinwesen bezieht.

Auch wenn für die mächtigsten Akteure das Insistieren auf der Staatsraison im Sinne des Absolutismus bis zum heutigen Tage eine Versuchung geblieben ist   – an deren Weiterbestehen die Charta der Vereinten Nationen einen nicht unbeträchtlichen Anteil hat   –, darf die Perpetuierung dieser machtpolitischen Praxis nicht einfach hingenommen werden. Im Globalzeitalter signalisiert eine solche -Politik statt des kantischen «ewigen Friedens» eine «immerwährende Konfrontation»   – mit all den verheerenden Folgen für die Völker an den Bruchlinien des globalen Machtringens, wie wir sie in den schon apostrophierten Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Krieges beobachten mussten.

Das «Ausverhandeln» eines neuen, diesmal wohl multipolaren, Machtgleichgewichtes wird nur dann ohne andauernden Krieg vonstatten gehen, wenn alle Verantwortlichen   – unabhängig von der politischen, wirtschaftlichen oder militärischen Stellung ihrer Staaten im globalen Wettbewerb   – das in der Präambel zur UNO-Charta im Namen der Völker abgegebene feierliche Versprechen, Toleranz zu üben und miteinander in guter Nachbarschaft zu leben, beherzigen: «to live together in peace with one another as good neighbours», wie es die Gründer der Weltorganisation poetisch formulierten.

Der Umstand, dass gerade die UNO-Charta, aus der Katstrophe des Zweiten Weltkrieges geboren, die mächtigsten Staaten von der Geltung der aus dieser Proklamation resultierenden Verpflichtungen effektiv ausnimmt, kann uns jedoch nicht optimistisch stimmen. Die Hüter des Friedens   – im Sinne des von der Charta intendierten globalen Gemeinwohls   – müssten endlich dazu gebracht werden, sich selbst den Regeln, die für alle anderen gelten, zu unterwerfen.3 Erst wenn dies geschieht   – d. h. wenn sie auf die in der UNO-Charta verbrieften Privilegien verzichten   –, wird der Weltfriede keine blosse Illusion sein, und erst dann wird das Gemeinwohl mehr sein als die Staatsraison der Mächtigsten.  •

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1 Der Begriff «Staatsraison» als solcher wurde erst nach Machiavelli geprägt, und zwar von Giovanni Botero Benese in dem bemerkenswerterweise dem Fürsterzbischof von Salzburg, Wolf Dietrich, gewidmeten Werk Della Ragion di Stato: Libri Dieci Con Tre Libri delle Cause della Grandezza, e Magnificenza delle Città. Venedig: I Gioliti, 1589.
2 International Court of Justice, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons. Advisory Opinion of 8 July 1996, § 97 («legality or illegality of the use of nuclear weapons by a State in an extreme case of self-defence, in which its very survival would be at stake»). Es ist wichtig festzuhalten, dass die Haltung des Gerichtes zu dieser Frage unentschieden geblieben wäre (7:7), wenn nicht die Stimme des Präsidenten den Ausschlag gegeben hätte.
3 Auf Grund der Beschlussfassungsregeln von Artikel 27 der UNO-Charta kann das zwischenstaatliche Gewaltverbot ausgerechnet gegenüber den fünf ständigen Mitgliedern, denen dessen Durchsetzung in besonderem Masse obliegt, nicht durchgesetzt werden. Sollte eines dieser Länder einen Akt der Aggression begehen, so kann es durch sein Veto ein Einschreiten des Sicherheitsrates verhindern.

* Einleitendes Statement zur Jahreskonferenz «Mut zur Ethik»: «Das Bonum commune in den Beziehungen zwischen Menschen, Völkern und Staaten. Probleme und Konflikte würdig lösen   – miteinander statt gegeneinander» vom 3.  –5. September 2021 in Sirnach (TG)

Quelle : https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2021/nr-21-21-september-2021/gemeinwohl-oder-staatsraison.html


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