«Die Blockfreiheit kehrt zurück»
Patrick Lawrence* (Bild zvg)
Der Ukraine-Konflikt als Katalysator: Ich frage mich, wie viele aufmerksame Menschen vor einem Jahr erkannt haben, dass die Intervention Russlands und die extravagante Unterstützung des Westens für das Regime in Kiew zu grundlegenden Veränderungen in der globalen Ordnung führen würden, so dass die Welt nun ein ganz anderer Ort ist und das 21. Jahrhundert ein ganz neues Aussehen hat. Das ist mir entgangen, muss ich sagen. Im vergangenen Februar konnte ich nicht ahnen, dass die Staatengemeinschaft so schnell in eine neue Ära eintreten würde, oder dass die Grundsätze dieser neuen Ära so klar definiert sein würden.
Ich habe sicherlich nicht damit gerechnet, dass die gute alte, viel vermisste Bewegung der Blockfreien Staaten [Non Aligned Movement – NAM] nach den vielen Jahren, die sie in der Wildnis der Geopolitik nach dem Kalten Krieg verbracht hat, wieder auferstehen würde. Nein, nicht mit einer Erklärung wie der, die die NAM zuerst in Bandung machte, dem indonesischen Bergort, wo Sukarno 1955 ihre Mitglieder empfing, oder in Titos Belgrad sechs Jahre später, als die Bewegung sich offiziell als Organisation konstituierte, aber im Geiste, in der Gesinnung, die die nichtwestlichen Staaten jetzt für sich in Anspruch nehmen.
Lassen Sie uns zusehen. Meiner Einschätzung nach werden die zahlreichen nicht-westlichen Nationen, die sich zur Unterstützung der Prinzipien und Forderungen versammeln, die zuerst von der verschwundenen, aber nicht vergessenen NAM artikuliert wurden, in den kommenden Jahren die bedeutendste und entscheidendste Wende in der Weltpolitik einläuten, die wir in diesem Jahrhundert wahrscheinlich erleben werden.
Neuausrichtungen
Es gibt viele Möglichkeiten, die weitreichenden Folgen des Ukraine-Konflikts zu bemessen. Da ist zum einen die erstaunliche Kapitulation Europas und seiner eigenen Interessen gegenüber einer unersättlichen Zwangsregierung, die Amerika in seine spätimperiale Phase führt. In diesem Zusammenhang sind auch die bedauerlichen Treueschwüre zu sehen, die Finnland, Schweden und Deutschland geleistet haben – drei Länder, deren ehrenvolle, jetzt aufgegebene Rolle darin bestand, als Brücke zwischen West und Ost zu dienen.
Es handelt sich um Neuausrichtungen, die jeweils eine Reaktion auf die Entscheidung des Biden-Regimes sind, die Ukraine zum Schmelztiegel für die Verteidigung einer schwindenden Hegemonie zu machen.
Diese radikale neue Unterwerfung unter Washington hat ihre eigenen Konsequenzen. Sie entspringt der Unsicherheit und einem tiefgreifenden Mangel an Weitblick und Vorstellungskraft und ist eine sehr schlechte Entscheidung für Amerikas «Verbündete und Partner», die sie im neuen Jahrhundert erheblich benachteiligen wird. Merken sie nicht, wie sich das Rad der Geschichte dreht?
Aber die gemeinsame Sache, die die nicht-westlichen Staaten im vergangenen Jahr untereinander entdeckt haben, ist weitaus bedeutender. Für sie hat sich die Ukraine als Katalysator im Sinne des Begriffs aus dem Chemielabor erwiesen: Sie hat die Lösung, sagen wir, geklärt. Die Russen, die Chinesen, die Inder, die Iraner, die Türken, die Mexikaner, die Argentinier und viele andere: Sie denken jetzt anders und klarer.
Auch das ist eine Neuausrichtung.
Wiedererwachen der Blockfreiheit
Wir können diese Neuausrichtung als das Wiedererwachen der Blockfreiheit zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten betrachten. Um genau zu sein, überlebt die NAM mit ihren 120 Mitgliedern und ihrem Hauptsitz bei der Uno in New York. Aber ihre Präsenz, wenn auch nicht ihre Gründungsideale, hat mit dem Ableben ihrer Gründergeneration und seit dem Ende des Kalten Krieges, das die Welt über die Ost-West-Gegensätze der vorangegangenen rund 40 Jahre hinausgeführt hat, stark abgenommen.
Ich schreibe hier nicht von einem Sekretariat oder einer Bürokratie oder von Brigaden von Diplomaten. Ich meine damit, dass die Prinzipien, für die die NAM stand, wieder in den Vordergrund gerückt sind. Sind wir überrascht, dass diese Prinzipien in dem Moment, in dem die USA versuchen, den Planeten erneut zu spalten, wieder in den Vordergrund rücken? Ich bin eher sehr erfreut darüber, dass eine neue Generation von Führungspersönlichkeiten die Ideale wiederbelebt, die erstmals in der «Ära der Unabhängigkeit» nach dem Krieg formuliert wurden.
Ich habe diese Prinzipien schon früher erwähnt. Sie basieren auf den Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz, die Zhou Enlai in den frühen 1950er Jahren formulierte und dann nach Bandung mitnahm. Dabei handelt es sich, vereinfacht gesagt, um die gegenseitige Achtung der Souveränität und der territorialen Integrität, den Verzicht auf Aggression, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer, die Gleichberechtigung unter den Staaten und – das ist der Kern bei den anderen vier – die friedliche Koexistenz.
Viele nichtwestliche Staaten haben in den letzten Jahren immer deutlicher gemacht, dass sie diese Prinzipien als Grundlage einer Weltordnung des 21. Jahrhunderts betrachten. Ich möchte noch einmal auf die chinesisch-russische Gemeinsame Erklärung über den Eintritt der internationalen Beziehungen in eine neue Ära hinweisen, die – der Zeitpunkt ist wichtig – am Vorabend der russischen Intervention in der Ukraine veröffentlicht wurde. Wenn Sie eine Erklärung im Sinne von Bandung oder Belgrad wollen, dann kommt diese Erklärung dem sehr nahe. Die Grundsätze der NAM ziehen sich durch die gesamte Erklärung. Sie sind leicht zu erkennen, denn das Dokument besteht darauf, dass das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen die Grundlage für die im Titel genannte neue Ära sein müssen.
G 20 in Bangalore:
westliche Vorstellungen realitätsfern
Haben Sie Ende Februar und in den ersten Märztagen das Treffen der G 20 in Bangalore verfolgt? Das ist ein weiteres gutes Beispiel dafür. Die westlichen Medien haben nicht viel darüber berichtet, weil es sich um eine chaotische Konfrontation zwischen westlichen und nichtwestlichen Mitgliedern handelte. Die ersteren schienen völlig hinter der Zeit zurückzubleiben, verloren in einer Vorstellung von ihrem Platz in der Weltordnung, die wenig mit den aufkommenden Realitäten zu tun hat. Diese sind für jeden offensichtlich, der bereit ist, die Welt so zu sehen, wie sie im Jahr 2023 ist.
Die G 20 trat zum ersten Mal am Ende des letzten und zu Beginn des neuen Jahrhunderts zusammen. Sie wurde als Weiterentwicklung der Gruppe der 7 [G 7] konzipiert und brachte Finanzminister und Zentralbankpräsidenten aus 20 westlichen und nichtwestlichen Ländern zusammen, um der wachsenden Bedeutung von Mächten mit mittlerem Volkseinkommen wie China, Indien, Brasilien, Argentinien, Mexiko und Südafrika Rechnung zu tragen. Das Thema jedes Treffens sind gemeinsame Interessen: Finanzstabilität, internationaler Handel, Klima, Hilfe für die ärmsten Länder und so weiter.
Keine Unterstützung für die Isolierung
Überlassen wir es den Amerikanern: Angeführt von Janet Yellen, Finanzministerin und eine wortgewandte Vertreterin der neoliberalen Ideologie, hielten es westliche Amtsträger für eine gute Idee, die Gelegenheit zu nutzen, um andere G-20-Mitglieder gegen Russland und dessen Intervention in der Ukraine auf eine Linie zu bringen. Also verbrachten sie ihre Zeit damit, die anderen Anwesenden – so ziemlich alle anderen G-20-Mitglieder, die nicht der Gruppe der 7 angehören – zu überreden, ein Kommuniqué zu unterzeichnen, in dem sie Moskau verurteilen und ihre einheitliche Unterstützung für Kiew erklären.
Das Treffen der G-20-Aussenminister am vergangenen Donnerstag verlief nicht anders. In den amerikanischen Medien wurde viel über das erste Treffen von Antony Blinken mit dem russischen Aussenminister Sergej Lawrow seit Beginn der russischen Intervention vor einem Jahr berichtet. Vielleicht wurde mehr gesagt, als der Aussenminister verlauten liess, aber ich bezweifle es. So weit berichtet wurde, hat Blinken seinen Landsleuten zu Hause eine weitere Show geboten: Ich habe ihm gesagt, dass dies ein Angriffskrieg Russlands ist, ich habe ihm gesagt, dass wir die Ukraine so lange unterstützen werden, wie es nötig ist, und so weiter. Nichts Neues.
Das westliche Kontingent kam in Bangalore nicht weiter. Die nichtwestlichen Mitglieder wehrten sich energisch gegen diesen Versuch, sie zu zwingen, die von den USA geführte Kampagne zur Isolierung Russlands zu unterstützen und sich hinter die Unterstützung für die Ukraine zu stellen. Am Ende gab es kein Kommuniqué, sondern nur ein «Summary and Outcome Document», in dem mit vielen Worten eingeräumt wird, dass die Sitzung ein Reinfall war.
Was auch immer Sie von Yellen gehalten haben mögen, als sie sich als Vorsitzende der Federal Reserve mit Zinssätzen herumschlug, in Staatsangelegenheiten ist sie eine unsensible Fehlbesetzung, die die weltpolitischen Entwicklungen einfach nicht verstehen kann. Haben Sie schon viel von ihrer Ölpreis-Obergrenze gehört, die die Welt mit ins Boot holen sollte, als die USA versuchten, eine Obergrenze für den Preis festzusetzen, den Russland für ein Barrel Rohöl verlangen kann? Nein, das dachte ich mir schon. Warum war sie die Ansprechperson der Regierung Biden bei dieser G-20-Sitzung? Ich nehme an, wenn Blinken die Alternative war, gibt es eine Logik für diese Wahl.
In Bangalore schienen sie beide davon auszugehen, dass das Geschwafel, das die USA routinemässig einsetzen, um ihre Absichten zu verschleiern, die Oberhand behalten würde. «Die Ukraine kämpft nicht nur für ihr eigenes Land, sondern auch für die Erhaltung der Demokratie und friedlicher Verhältnisse in Europa», erklärte Yellen. Über die russische Intervention sagte sie: «Es ist ein Angriff auf die Demokratie und die territoriale Integrität, der uns alle beunruhigen sollte.»
Das ist die Standardroutine der Biden-Regierung. Man macht aus Ereignissen ideologische und emotionale Angelegenheiten und tut so, als ob Politik und Geschichte keine Rolle spielen würden. So hohl und abgedroschen. So wenig ernsthaft.
Nuancen
Yellens Rhetorik hat weder den Sieg noch irgend etwas anderes davongetragen, ganz zu schweigen von der Rhetorik Blinkens. Die Präsentationen der beiden könnten als der Anfang vom Ende der G 20 in die Geschichte eingehen. Dies wäre ein weiteres Opfer des neuen kalten Krieges, in den die Regierung Biden uns alle hineinziehen will, eine weitere Veränderung im Erscheinungsbild des 21. Jahrhunderts.
Die anwesenden nichtwestlichen Staaten hatten ihren Standpunkt schon lange vor Bangalore deutlich gemacht. Es ist wichtig, die Nuancen zu beachten. Nein, wir billigen den Krieg in der Ukraine nicht. Nein, wir werden die russische Intervention nicht verurteilen. Ja, wir verstehen, dass der Westen für die Provokation dieses Konflikts mitverantwortlich ist. Ja, es tut uns leid, aber die Beurteilung, ob Russland gegen eines der Fünf Prinzipien verstossen hat, wird durch das Verhalten der westlichen Mächte im Vorfeld dieses Krieges erheblich erschwert. Ja, die westlichen Mächte hätten ihn mit diplomatischen Mitteln verhindern können und sollen, bevor er begonnen hat. Ja, wir wollen, dass der Konflikt jetzt auf dem Verhandlungswege beigelegt wird.
Das ist die Essenz der Prinzipien der NAM im 21. Jahrhundert, in angewandter Form. Plaudereien wie der G-20-Gipfel sind nur von begrenztem Interesse, das ist mir klar, aber das, was im hübschen, wohlgepflegten Bangalore passiert ist, hat uns etwas Wichtiges zu sagen. Drei Dinge, um genau zu sein.
Erstens zeigt sich darin die absolute Unfähigkeit Washingtons, die Welt mit anderen als manichäischen Begriffen zu sehen. Viele Demokraten hielten Bushs II «Entweder sind Sie für uns oder für die Terroristen» nach den Anschlägen vom 11. September für eine plumpe Formulierung. Unsinn. Dies war genau der Tenor von Yellens Standpunkt im Zusammenhang mit der Ukraine, der bei den Demokraten auf breite Zustimmung stiess. Das ist die Art und Weise, wie diejenigen, die vorgeben, Amerika zu führen, darauf bestehen, die Welt zu ordnen; und zu sagen, dass dies diese Nation im 21. Jahrhundert nirgendwohin bringen wird, ist noch zu milde ausgedrückt.
Zweitens ist Bangalore ein Gradmesser für die Entschlossenheit, mit der sich die nichtwestlichen Staaten gegen Washingtons Fortführung des zweiten kalten Krieges wehren. Es ist zwar traurig zu sehen, wie sich die Welt erneut spaltet, so wie es während des ersten Kalten Krieges der Fall war, aber Konflikte und Konfrontationen sind unvermeidlich, solange die westlichen Mächte durch solche stumpfen Instrumente wie Janet Yellen und Antony Blinken vertreten werden.
Drittens: Die USA und der Rest des Westens werden die informelle Wiederkehr der NAM überhaupt nicht gutheissen, weil die nichtwestlichen Staaten ihre Prinzipien vertreten. Erinnern Sie sich daran, dass während des ersten Kalten Krieges diejenigen, die sich zur Blockfreiheit zwischen dem westlichen und dem östlichen Block bekannten, zu Kryptokommunisten, Werkzeugen Moskaus oder törichten Streunern erklärt wurden.
Wir sehen wieder das Gleiche, und wir sollten nicht überrascht sein: Wir haben seit vielen Jahren begriffen, dass unter den vielen Dingen, die der neoliberale Westen nicht tolerieren kann, jene Länder an erster Stelle stehen, die im Interesse ihres eigenen Volkes selbständig denken.
Vielleicht haben Sie die Berichte zur Kenntnis genommen, dass Südafrika und Russland – und ich glaube, auch China ist daran beteiligt – Anfang dieses Monats gemeinsame Marineübungen vor der südafrikanischen Küste begonnen haben. Dies spiegelt das Wachsen der Beziehungen zwischen Moskau und Pretoria wider und ist keine Überraschung: Die Sowjets haben den Afrikanischen Nationalkongress, die heutige Regierungspartei, in ihrem Kampf gegen die Apartheid unterstützt, während der Westen auf der anderen Seite gestanden ist. Lawrow war einen Monat zuvor zu Gesprächen mit seiner Amtskollegin Naledi Pandor in Südafrika. Wie ich es verstanden habe, bedeutet «bündnisfrei» «nicht verbündet», nicht mit der einen Seite, nicht mit der anderen. Nicht so für die Amerikaner. Washington und die europäischen Hauptstädte sind entsetzt über die Marineübungen und die insgesamt enger werdenden Beziehungen zwischen Südafrika und der Russischen Föderation – die natürlich ausschliesslich die Angelegenheit von Pretoria und Moskau sind und nichts mit einer «Parteinahme» zu tun haben. Die Südafrikaner «entfernen sich immer weiter von einer bündnisfreien Position», so ein Sprecher der EU gegenüber der «New York Times».
Es war Neusprech während des ersten Kalten Krieges und es ist auch diesmal Neusprech. Sie können sich als bündnisfrei bezeichnen, solange Sie sich mit dem Westen verbünden. Andernfalls sind Sie auf der Seite der «sie» in unserer «sie oder wir»-Formulierung. Das ist die allgemein vorherrschende westliche Meinung.
Bangalore wird sich wiederholen
Die Szene in Bangalore wird sich in den kommenden Jahren noch viele Male wiederholen. Wir müssen diese Ereignisse beobachten und verstehen, was sie sind und was sie nicht sind. Sie spiegeln einen der wichtigsten Konflikte unserer Zeit wider. Die ursprüngliche NAM hat es nicht geschafft, Washingtons Neuordnung der Welt in feindliche Blöcke zu verhindern; der Westen unterdrückte, aber er löschte die Bestrebungen der NAM nicht aus. Die nicht-westlichen Länder, die jetzt stärker sind, während die USA und der Westen schwächer werden, haben dieses Mal eine weitaus bessere Chance auf Erfolg. Ob sie den Westmächten gegenüber feindlich gesinnt sind, müssen die Westmächte entscheiden. •
Quelle: Scheerpost vom 2.3.2023, leicht gekürzt
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein letztes Buch ist «Time No Longer: Americans After the American Century», Yale, 2013. In Kürze erscheint sein neues Buch «The Journalists and Their Shadows» bei Clarity Press. Auf Twitter fand man ihn bei @thefloutist, bis er ohne Begründung zensiert wurde. Seine Webseite lautet patricklawrence.us. Unterstützen Sie seine Arbeit über patreon.com/thefloutist.
Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-5-7-maerz-2023/die-blockfreiheit-kehrt-zurueck
Mit freundlicher Genehmigung von zeit-fragen.ch
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