von Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie
Die Schweiz hat dank ihrer direkten Demokratie ein Sicherheitssystem entwickelt, das seit der Gründung des Bundesstaates 1848 im jeweiligen historischen Kontext kontinuierlich angepasst und verbessert wurde. Ob bezüglich des Sicherheitssystems Veränderungen nötig waren, musste in der Regel mit dem Souverän, also den Stimmberechtigten, diskutiert und von ihm bestimmt werden. Im Grundsatz entstand so für den Bundesstaat ein System, das wie in keinem anderen Land von Freiheit, Ordnung und Sicherheit geprägt ist.
Wie labil eine demokratische Ordnung ist, besonders wenn sie bloss eine repräsentative, also indirekte Demokratie ist, zeigt die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Krise im Euro-Raum. Das Volk als Souverän hat in vielen europäischen Ländern in der Regel keine Möglichkeiten, korrigierend über Abstimmungen den Kurs der Regierung resp. des Parlamentes anzupassen oder zu verändern. Lediglich über Wahlen ist eine Kursänderung möglich, aber auch diesbezüglich sind die Möglichkeiten beschränkt.
Der Bevölkerung bleiben somit oft nur die Strasse und öffentliche Plätze, um ihren Unmut auszudrücken. Solche Zustände können rasch ausarten in soziale Unruhen und politische Extremismen. Dies kann mit der Zeit eine demokratische Gesellschaft zerrütten. Lediglich die Polizeikräfte aufzurüsten oder gar eine EU-Eingreiftruppe zu planen, lösen im Kern die Demokratiedefizite nicht.
Zum ersten Mal in der Geschichte bestand damals die grosse Mehrzahl der europäischen Länder aus demokratischen Staaten. Die sozial und wirtschaftlich desolate Lage führte in der Zwischenkriegszeit allerdings dazu, dass die Mehrheit dieser Länder sich zu Diktaturen wandelte. Die Weltwirtschaftskrise 1929, die wie die jetzige Krise von den USA ausging, bahnte zusätzlich den Weg in den Totalitarismus, der im Zweiten Weltkrieg seinen traurigen und barbarischen Höhepunkt fand. Die Schweiz wurde von diesen Ereignissen auch betroffen, doch konnte sie ihr demokratisches System bewahren und sogar kontinuierlich ausbauen. Ein Blick in die Geschichte der direkten Demokratie lohnt sich.
Die direkte Demokratie entstand in der Schweiz im Laufe des 19. Jahrhunderts während eines mühsamen und schwierigen politischen Prozesses. Wichtige Grundlagen, die teilweise bis ins Mittelalter zurückverweisen, waren das Genossenschaftsprinzip, das christliche und moderne Naturrecht sowie die Idee der Volkssouveränität.1 Ausgehend von diesen Grundlagen formten politische Bewegungen einen Staat, der als Sonderfall bezeichnet werden muss. Dazu nachfolgend drei Aspekte, die auch aufzeigen sollen, wie der Aspekt Sicherheit immer wieder Thema war:
Der Basler Historiker Adolf Gasser (1903 –1985) wies im Zusammenhang mit seinen Forschungen zur «Gemeindefreiheit» insbesondere auf den Aspekt hin, dass die direkte Demokratie ein Friedensmodell sei. Die direkte Demokratie gewährt als politisches System den grössten Freiraum, und das bricht der Machtpolitik sozusagen die Spitze. Der einzelne Mensch muss in einem direktdemokratischen System durch Erziehung und Bildung das Bewusstsein erlangen, sein Leben in gewissen Grenzen nach seinen eigenen Idealen frei gestalten zu können: «Ist das der Fall, so wird sein Interesse für kollektive Machtentfaltung von selbst abgeschwächt.»2 Allerdings bleibt es für Gasser dringend nötig, das freie Individuum durch ethische Bindungen in der Gemeinschaft zu verankern:
«Je stärker eine Gemeinschaft von überparteilicher Vertrauensbereitschaft, von einem ‹ethischen Kollektivismus› beseelt ist, je wirksamer sie infolgedessen Freiheit und Ordnung zu verbinden und ein Höchstmass an sozialer Gerechtigkeit durchzusetzen vermag, desto sicherer wird der einzelne politisch zufrieden sein und die ersehnte Geborgenheit finden.»3
Gasser schliesst daraus, dass sich die Menschen in einer solchen Gemeinschaft konstruktiv in den politischen Prozess eingeben. Eine solche Gesellschaft sei folglich geprägt durch eine friedliche Grundordnung. Nach Gasser gibt es nur eine einzige politische Form, um Freiheit und Ordnung zu einer geradezu organischen Verbindung zu bringen.
«Diese Einrichtung ist die Gemeindefreiheit, der dezentralisierte Verwaltungsaufbau – oder in einem weiteren Sinne des Wortes verstanden: der Föderalismus.»4
Treffender lässt sich kaum die politische Kultur beschreiben, in der die direkte Demokratie – ausgehend von der Gemeindefreiheit – lebendig, friedlich und in einem sicheren Umfeld umgesetzt werden kann. Eine solche Gemeinschaft von Menschen wird nicht zulassen, dass der eigene Staat zum Mittel des Krieges greift, um wirtschaftliche und politische Interessen durchzusetzen:
«Alle kommunal-föderativen, von unten her aufgebauten Demokratien der Gegenwart sind durch eine nichtmilitaristische Volksgesinnung gekennzeichnet. […] Die allgemeine Tendenz zum Pazifismus, wie sie der Welt der Gemeindefreiheit und des lebendigen Selbstverwaltungswillens heutzutage eigen ist, ist gleichsam in der Natur der Sache begründet.»5
Wo immer die Bevölkerung,«durch überparteiliche Gewissenskräfte, durch den kollektiven Geist der Gesetzestreue, des Vertrauens, der Verträglichkeit zusammengehalten werden, da stellen sie eben feste sittliche Einheiten dar und haben es nicht nötig, den Gemeinschaftssinn durch Reibungen an der Aussenwelt zu stärken. Unter solchen innenpolitischen Voraussetzungen konnte hier das Christentum wirksamer als anderswo mithelfen, den militärischen Angriffs- und Eroberungswillen zurückzudrängen.»6
Mit seinem Blickwinkel entwirft Gasser Grundlinien einer ethischen Geschichtsauffassung, die gerade Aspekten wie Demokratie und Sicherheit neue Dimensionen verleihen.
Es wäre dringend nötig, in der Schweiz die Entstehung und Entwicklung der direkten Demokratie und des Föderalismus weiter zu erforschen und die Frage vertieft zu untersuchen, was diese politische Form an «Sicherheitsaspekten» bietet. Die direkte Demokratie sorgt für gut abgestützte politische Lösungen, die von einer politischen Mehrheit getragen sind. Die Minderheit akzeptiert in der Regel diesen Entscheid im Wissen darum, dass ihr die öffentliche Diskussion während eines Abstimmungskampfes mannigfaltige Möglichkeiten bot, ihren Standpunkt konstruktiv einzubringen.
Oft führt diese politische Kultur des Dialoges dazu, dass die Anliegen der Minderheit mit in die Lösung des Problems einbezogen werden. Die Anliegen der Minderheit werden so ernst genommen und unnötige Frustration oder zukünftige Stimmabstinenz werden vermieden. Zudem hat die Minderheit das Recht, nach einer gewissen Zeit das Anliegen erneut mit den Instrumenten der direkten Demokratie in die politische Diskussion einzubringen. Solche Prozesse brauchen viel Zeit, sie führen aber zu sicheren politischen Abläufen. Auch die öffentliche Sicherheit wird so allgemein erhöht.
Sicherheitspolitisch gesprochen, bauen die direkte Demokratie und der Föderalismus damit ein Bollwerk gegen Krieg und Militarismus auf. Kein Zufall also, dass sich die Milizarmee der neutralen Schweiz einzig und allein auf die Sicherung der Landesverteidigung beschränkt, denn, so Gasser:
«Nichtmilitaristische Nationen [wie die Schweiz], die den Soldaten als bewaffneten Zivilisten und nicht als ein höheres Wesen betrachten, lassen sich schwerlich für Angriffs- oder Präventivkriege grossen Stils missbrauchen.»7
Auf jeder staatlichen Ebene können sich die Bürgerinnen und Bürger direkt und nachhaltig am politischen Prozess beteiligen. Das führt beim Einzelnen zu einer echten inneren Abwehr gegen Krieg und Gewalt und in der staatlichen Entwicklung zu einer politischen Kontinuität und Stabilität, die gegen innen und aussen von Frieden geprägt ist. Die Schweiz ist mit ihrem demokratischen System ein Vorbild und trägt eine hohe Verantwortung für Europa und die Welt.
Erstveröffentlichung: Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift (ASMZ), Nr. 12, Dezember 2013, S. 22f.
Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1674
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