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Der grosse Vorwand … für eine Anti-Utopie

Für alle, die sich den Kopf nicht durch einen angeblich coronabedingten «grossen Umbruch» à la WEF verdrehen lassen wollen
von Diana Johnstone*
05. Januar 2021
In ihrer vom Weltwirtschaftsforum (WEF) herausgegebenen Abhandlung «Covid-19: The Great Reset» [Covid-19: Der grosse Umbruch] bescheren uns die Ökonomen Klaus Schwab und Thierry Malleret die Stimme der Möchtegern-Global-Governance.

«Das WEF ist heute mächtig, weil es in einem Umfeld des Staatskapitalismus operiert, in welchem die Rolle des Staates (vor allem in den Vereinigten Staaten, weniger in Europa) weitgehend darauf reduziert wurde, positiv auf die Forderungen solcher Lobbys, insbesondere des Finanzsektors, zu reagieren.»

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Diana Johnstone (Bild Wikipedia)

Indem sie ihrer kürzlich veröffentlichten WEF-Abhandlung den Titel «Covid-19: The Great Reset» geben, verknüpfen die Autoren die Pandemie auf eine Art und Weise mit ihren futuristischen Vorschlägen, die einen Chor von «Aha!»-Rufen hervorrufen dürfte. In der gegenwärtigen Atmosphäre der Verwirrung und des Misstrauens lässt die Freude, mit der die Ökonomen Klaus Schwab und Thierry Malleret die Pandemie als Vorboten der von ihnen vorgeschlagenen sozioökonomischen Umwälzung begrüssen, vermuten, dass sie (wenn sie dazu in der Lage gewesen wären) Covid-19 geschaffen hätten, wäre es nicht zufällig aufgetaucht.

Tatsächlich hat Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, den «Great Reset» bereits energisch propagiert und dabei den Klimawandel als auslösende Krise genutzt, bevor ihm der jüngste Ausbruch des Corona-Virus einen noch unmittelbareren Vorwand lieferte, seine Pläne zur Neugestaltung der Welt anzupreisen.

Die Autoren fangen gleich an, indem sie verkünden: «Die Welt, wie wir sie in den ersten Monaten des Jahres 2020 kannten, gibt es nicht mehr», (dt. S. 12) dass radikale Veränderungen eine «neue Normalität» (dt. S. 12) formen werden. Wir selbst würden transformiert werden. «Viele unserer Überzeugungen und Annahmen, wie die Welt aussehen könnte oder sollte, werden sich dabei zerschlagen.» (dt. S. 13)

Das ganze Buch hindurch scheinen sich die Autoren über die angenommenen Auswirkungen der weit verbreiteten «Angst» vor dem Virus zu freuen, die die Menschen darauf konditionieren soll, die von ihnen angestrebten radikalen Veränderungen zu wünschen. Sie verwenden technokratisches Psychogeschwätz, um zu verkünden, dass die Pandemie die menschliche Mentalität bereits so verändert, dass sie sich der neuen Realität anpasst, die sie für unvermeidlich halten.

«Unsere unterschwellige und möglicherweise anhaltende Furcht davor, mit einem Virus (Covid-19 oder einem anderen) infiziert zu werden, wird somit den unerbittlichen Marsch der Automatisierung beschleunigen […].» (dt. S. 183) Wirklich?

«Auf Grund der Corona-bedingten höheren Angst, mit völlig Fremden in einem geschlossenen Raum zu sitzen, könnte es sein, dass viele Menschen beschliessen, sich den neuesten Film oder die Opernaufführung lieber zu Hause anzusehen, weil es am vernünftigsten ist.» (dt. S. 234)

«Es gibt andere erste Auswirkungen, die viel einfacher vorherzusehen sind. Sauberkeit ist eine davon. Die Pandemie wird unseren Fokus auf Hygiene sicherlich mehr in den Vordergrund rücken. Die neue Hygienebesessenheit wird insbesondere die Schaffung neuer Verpackungen nach sich ziehen. Wir werden angehalten, die Produkte, die wir kaufen wollen, nicht anzufassen. Einfache Freuden wie das Riechen an einer Melone oder das Betasten einer Frucht werden verpönt sein und vielleicht sogar der Vergangenheit angehören.» (dt. S. 234)

Dies ist die Stimme der Möchtegern-Global-Governance. Von oben herab entscheiden Experten, was die Massen wollen sollen, und verdrehen die angeblichen Wünsche des Volkes so, dass sie zu den Profitplänen passen, mit denen sie hausieren gehen. Ihre Pläne kreisen um digitale Innovation, massive Automatisierung unter Verwendung «künstlicher Intelligenz» und schliesslich sogar um die «Verbesserung» des Menschen, indem man ihn künstlich mit einigen Eigenschaften von Robotern ausstattet: zum Beispiel Problemlösung ohne ethische Ablenkungen.

Der 1938 in Ravensburg geborene Ingenieur und Wirtschaftswissenschaftler Klaus Schwab gründete 1971 sein Weltwirtschaftsforum, das von internationalen Konzernen massiv gesponsert wird. Es tagt einmal im Jahr in Davos in der Schweiz   – das letzte Mal im Januar 2020 und nächstes Jahr im Mai, verschoben auf Grund von Covid-19.

Eine mächtige Lobby

Was ist es genau? Ich würde das WEF als eine Kombination von kapitalistischer Beratungsfirma und gigantischer Lobby beschreiben. Die futuristischen Vorhersagen sind darauf angelegt, Investoren in profitable Bereiche der, wie Schwab es nennt, «Vierten Industriellen Revolution (4IR)» zu führen und dann, wenn die Bereiche definiert sind, Druck auf Regierungen auszuüben, um solche Investitionen durch Subventionen, Steuererleichterungen, Beschaffungen, Vorschriften und Gesetze zu unterstützen. Kurz gesagt, das WEF ist die Lobby für neue Technologien, alles Digitale, künstliche Intelligenz, Transhumanismus.

Es ist heute mächtig, weil es in einem Umfeld des Staatskapitalismus operiert, in welchem die Rolle des Staates (vor allem in den Vereinigten Staaten, weniger in Europa) weitgehend darauf reduziert wurde, positiv auf die Forderungen solcher Lobbys, insbesondere des Finanzsektors, zu reagieren. Da sie durch Wahlkampfspenden gegen die obskuren Wünsche der einfachen Leute immunisiert sind, brauchen die meisten der heutigen Politiker praktisch die Führung von Lobbys wie dem WEF, die ihnen sagen, was sie tun sollen.

Im 20. Jahrhundert, insbesondere während des New Deal, stand die Regierung unter dem Druck widersprüchlicher Interessen. Der wirtschaftliche Erfolg der Rüstungsindustrie während des Zweiten Weltkriegs liess einen Militärisch-Industriellen Komplex (MIC) entstehen, der zu einem dauerhaften Strukturfaktor in der US-Wirtschaft geworden ist.

Es ist die dominante Rolle des MIC und der daraus resultierenden Lobbys, die die Nation endgültig in einen Staatskapitalismus anstelle einer Republik verwandelt haben.

Der Beweis für diese Transformation ist die Einstimmigkeit, mit der der Kongress nie davor zurückschreckt, grotesk aufgeblähte Militärbudgets zu genehmigen. Der MIC hat Medien und Think tanks hervorgebracht, welche die Öffentlichkeit ununterbrochen damit indoktrinieren, es sei existenziell notwendig, den Reichtum der Nation weiterhin in Kriegswaffen zu investieren. Sofern die Wähler nicht zustimmen, können sie keine Mittel des politischen Ausdrucks finden angesichts von Wahlen, die von zwei Pro-MIC-Parteien monopolisiert werden.

Das WEF kann als analog zum MIC gesehen werden. Es beabsichtigt, Regierungen und Meinungsmacher für die Förderung einer «4IR» zu gewinnen, welche die zivile Wirtschaft und das zivile Leben selbst dominieren wird.

Die Pandemie ist ein vorübergehender Vorwand; die Notwendigkeit, «die Umwelt zu schützen», wird der nachhaltigere Vorwand sein. Genauso wie der MIC als absolut notwendig dargestellt wird, um «unsere Freiheiten zu schützen», wird die 4IR als absolut notwendig angepriesen werden, um «die Umwelt zu retten»   – und in beiden Fällen werden viele der verfochtenen Massnahmen den gegenteiligen Effekt haben.

Bisher hat die Techno-Tyrannei von Schwabs 4IR ihren Platz im US-Staatskapitalismus noch nicht ganz erobert. Aber ihre Aussichten sehen gut aus. Das Silicon Valley trug massiv zur Kampagne von Joe Biden bei, und Biden hat sich beeilt, die Mogule in sein Übergangsteam zu berufen.

Aber die wirkliche Gefahr dabei, dass alle Macht an den Reset geht, liegt nicht in dem, was da ist, sondern darin, was nicht da ist: irgendeine ernsthafte politische Opposition.

Kann die Demokratie wiederhergestellt werden?

Dem Great Reset steht eine breite Strasse offen, aus dem einfachen Grund, dass ihm nichts im Wege steht. Kein weit verbreitetes Bewusstsein für die Probleme, keine effektive politische Organisation des Volkes, nichts. Schwabs Dystopie (Anti-Utopie) ist allein aus diesem Grund beängstigend.

Die Präsidentschaftswahlen 2020 haben gerade die fast vollständige Entpolitisierung des amerikanischen Volkes veranschaulicht. Das mag seltsam klingen angesichts der heftigen parteipolitischen Emotionen. Aber es war alles viel Lärm um nichts.

Es wurden keine wirklichen Themen debattiert, keine ernsthaften politischen Fragen aufgeworfen, weder zu Krieg noch zu den Richtungen der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung. Bei den bösartigen Auseinandersetzungen ging es um Personen, nicht um -Politik. Der stümperhafte Trump wurde beschuldigt, «Hitler» zu sein, und die von der Wall Street gekauften demokratischen Kriegstreiber wurden von Trumpisten als «Sozialisten» bezeichnet. Lügen, Beleidigungen und Verwirrung hatten überhandgenommen.

Eine Wiederbelebung der Demokratie könnte sich aus einer organisierten, konzentrierten Beschäftigung mit den von den Davoser Planern aufgeworfenen Fragen ergeben, aus der eine informierte öffentliche Meinung hervorgeht, die beurteilt, welche technischen Innovationen sozialverträglich sind und welche nicht.

Alarmrufe von den Rändern werden das intellektuelle Kräfteverhältnis nicht beeinflussen. Was wir brauchen, ist, dass sich die Menschen überall zusammenfinden, um die Probleme zu studieren und eine fundierte Meinung über Ziele und Methoden der zukünftigen Entwicklung zu erarbeiten.

Solange sie nicht mit sachkundiger und präziser Kritik konfrontiert werden, werden das Silicon Valley und seine unternehmerischen und finanziellen Verbündeten einfach damit weiterfahren, zu tun, was immer sie sich vorstellen, tun zu können, ungeachtet der sozialen Auswirkungen.

Eine seriöse Bewertung sollte zwischen potentiell nützlichen und unerwünschten Innovationen unterscheiden, um zu verhindern, dass populäre Vorstellungen dazu benutzt werden, Akzeptanz für jeden noch so verhängnisvollen «technologischen Fortschritt» zu gewinnen.

Fragen neu definieren

Die politischen Unterscheidungen zwischen links und rechts, zwischen Republikanern und Demokraten, haben an Schärfe zugenommen, während sie sich gerade selbst als inkohärent, verzerrt und irrelevant entpuppen und mehr auf ideologischen Voreingenommenheiten als auf Fakten basieren. Neue und fruchtbarere politische Orientierungen könnten durch die Konfrontation mit spezifischen, konkreten Themen aufgebaut werden.

Wir könnten die Vorschläge des Great Reset einen nach dem anderen aufgreifen und sie sowohl in pragmatischer als auch in ethischer Hinsicht überprüfen.

  1. Dank der Pandemie hat die Nutzung von Telefonkonferenzen über Skype, Zoom oder andere neue Plattformen stark zugenommen. Das WEF begrüsst dies als einen Trend. Ist es deswegen schlecht? Fairerweise muss man sagen, dass diese Innovation positiv ist, da sie es vielen Menschen ermöglicht, an Konferenzen teilzunehmen, ohne die Kosten, den Ärger und die Umweltkosten von Flugreisen. Die negative Seite ist, dass sie den direkten menschlichen Kontakt verhindert. Dies ist ein einfaches Problem, bei dem die positiven Punkte zu überwiegen scheinen.
  2. Sollte die Hochschulbildung online gehen, wobei die Professoren Kurse für Studenten über das Internet geben? Dies ist eine weitaus kompliziertere Frage, die von den Bildungseinrichtungen selbst und den Gemeinschaften, denen sie dienen, gründlich diskutiert werden sollte, wobei das Für und Wider abzuwägen ist und man sich vor Augen halten sollte, dass diejenigen, die die Technologie bereitstellen, sie verkaufen wollen und sich wenig um den Wert des menschlichen Kontakts in der Bildung kümmern   – nicht nur des menschlichen Kontakts zwischen Student und Professor, sondern auch der oft lebensbestimmenden Kontakte zwischen den Studenten selbst. Online-Kurse mögen für geografisch isolierte Studenten von Vorteil sein, aber die Auflösung der Bildungsgemeinschaft wäre ein grosser Schritt zur Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft insgesamt.
  3. Gesundheit und «Wellness». Hier sollte die Diskussion deutlich hitziger werden: «In der Zeit nach der Pandemie», so Schwab und Malleret, «werden (insgesamt) drei Branchen florieren: Big Tech, Gesundheit und Wellness.» (dt. S. 241) Für die Davoser Planer verbinden sich die drei.

Diejenigen, die glauben, dass Wohlbefinden weitgehend selbst erzeugt wird und von Einstellungen, Aktivitäten und Lebensstilentscheidungen abhängt, übersehen das Wesentliche. «Die Kombination von KI [künstliche Intelligenz], Internet der Dinge, Sensoren und tragbarer Technologie wird neue Einblicke in das gesundheitliche Wohlbefinden der Menschen ermöglichen. Diese Systeme werden überwachen, wie es uns geht und wie wir uns fühlen, […] werden präzise Informationen über unseren CO2-Fussabdruck, unsere Auswirkungen auf die Biodiversität, die Toxizität aller Inhaltsstoffe, die wir konsumieren, und die Umgebungen oder räumlichen Kontexte, in denen wir uns bewegen, bedeutende Fortschritte unseres Bewusstseins für das kollektive und individuelle Wohlbefinden bewirken.» (dt. S. 243f.)

Frage: Wollen oder brauchen wir diesen ganzen kybernetischen Narzissmus wirklich? Können wir das Leben nicht einfach geniessen, indem wir einem Freund helfen, eine Katze streicheln, ein Buch lesen, Bach hören oder einen Sonnenuntergang beobachten? Es wäre besser, wir entschliessen uns, bevor sie unsere Gedanken umarbeiten.

4. Essen. Um mir den gesunden Appetit nicht zu verderben, werde ich das überspringen. Die Tech-Zauberer möchten die Bauern mit all ihren schmutzigen Böden und Tieren abschaffen und in schönen, sauberen Labors kreierte, verbesserte, künstliche Lebensmittel industriell herstellen   – aus was genau?

Das zentrale Thema: Homo faber

5. Was ist mit der menschlichen Arbeit?

«Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die durch die Pandemie ausgelöste Rezession einen starken Anstieg der Arbeitssubstitution auslösen, das heisst körperliche Arbeit wird durch Roboter und ‹intelligente› Maschinen ersetzt, was wiederum dauerhafte und strukturelle Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt hervorrufen wird.» (dt. S. 61f.)

Diese Ablösung ist bereits seit Jahrzehnten im Gange. Zusammen mit Outsourcing und Zuwanderung hat sie die kollektive Macht der Arbeit ohnehin schon geschwächt. Aber zweifellos sind die Tech-Industrien bereit, viel, viel weiter und schneller zu gehen, um Menschen aus der Arbeit zu verdrängen.

«Die Covid-19-Krise und die damit einhergehenden Massnahmen zur räumlichen Distanzierung haben diesen Prozess der Innovation und des technologischen Wandels nun plötzlich beschleunigt. Chatbots, die sich oft auf die gleiche Spracherkennungstechnologie wie Alexa von Amazon stützen, und andere Software, die Aufgaben anstelle von menschlichem Personal ausführen kann, setzen sich rasch durch. Diese, auf Notwendigkeit (wie z. B. Hygienemassnahmen) beruhenden Innovationen werden bald Hunderttausende und möglicherweise Millionen von Arbeitsplätzen kosten.» (dt. S. 62)

Die Senkung der Arbeitskosten ist seit langem das Leitmotiv dieser Innovationen, nebst der internen Dynamik der Technologieindustrie, «alles zu tun, was sie tun kann». Zur Rechtfertigung werden dann sozial nützliche Vorwände erfunden. Etwa so:

«Da die Verbraucher in nächster Zeit wahrscheinlich automatisierte Dienste einem persönlichen Kontakt vorziehen, wird das, was derzeit im Callcenter-Sektor geschieht, unweigerlich auch in anderen Bereichen auftreten.» (dt. S. 62)

«Da die Verbraucher wahrscheinlich vorziehen …»! Jeder, den ich kenne, klagt über die Verzweiflung, wenn er versucht, die Bank oder die Versicherungsgesellschaft zu erreichen, um einen Notfall zu erklären, und statt dessen mit einer toten Stimme und einer Auswahl an irrelevanten Nummern zum Anklicken konfrontiert wird. Vielleicht unterschätze ich den Grad der Feindseligkeit gegenüber unseren Mitmenschen, der heute die Gesellschaft durchdringt, aber mein Eindruck ist, dass es eine grosse, unausgesprochene öffentliche Nachfrage nach weniger automatisierten Diensten und mehr Kontakt mit realen Menschen gibt, die ausserhalb des Algorithmus denken und das Problem tatsächlich verstehen können, anstatt einfach vorprogrammierte Fehlerkorrekturen auszuspucken.

Es gibt eine potentielle Bewegung da draussen. Aber wir hören nichts davon, weil uns unsere Medien einreden, das -grösste Problem im täglichen Leben der Menschen bestehe darin, dass jemand seine Verwirrung zeige angesichts des verwirrten Gender-Geschlechts eines anderen.

Dabei, so behaupte ich, würde sich die Nachfrage der Verbraucher mit dem verzweifelten Bedürfnis der fähigen Menschen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zusammenfügen. Die Technokraten verdienen ansehnliches Geld, indem sie anderen Menschen die Möglichkeit nehmen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Hier ist eine ihrer grossartigen Ideen:

«So gibt es in so unterschiedlichen Städten wie Hangzhou, Washington DC und Tel Aviv Bemühungen, von Pilotprogrammen zu gross angelegten Aktionen überzugehen, die in der Lage sind, eine Armee von Lieferrobotern auf die Strasse und in die Luft zu bringen.» (dt. S. 185)

Was für eine tolle Alternative zur Bezahlung eines existenzsichernden Lohns an menschliche Lieferanten!

Und nebenbei bemerkt: Ein Mann, der ein Lieferfahrrad fährt, nutzt erneuerbare Energie. Aber all diese Roboter und Drohnen? Batterien, Batterien und noch mehr Batterien! Hergestellt aus welchen Materialien, die woher kommen und wie produziert werden? Von noch mehr Robotern? Woher kommt die Energie, die nicht nur fossile Brennstoffe, sondern auch die menschliche körperliche Anstrengung ersetzen soll?

Auf dem letzten Treffen in Davos äusserte der israelische Intellektuelle Yuval Harari eine eindringliche Warnung:

«Während die Menschen in der Vergangenheit gegen die Ausbeutung kämpfen mussten, wird im 21. Jahrhundert der wirklich grosse Kampf der gegen die Bedeutungslosigkeit sein. […] Diejenigen, die im Kampf gegen die Bedeutungslosigkeit scheitern, werden eine neue ‹nutzlose Klasse› bilden   – nicht aus der Sicht ihrer Freunde und ihrer Familie, sondern nutzlos aus der Sicht des wirtschaftlichen und politischen Systems. Und diese nutzlose Klasse wird durch eine immer grösser werdende Kluft von der immer mächtiger werdenden Elite getrennt sein.»1

Und das Militär. Unsere kapitalistischen Untergangspropheten prophezeien den Teil-Kollaps der zivilen Luftfahrt und der Luftfahrtindustrie, da die Menschen alle beschliessen, zu Hause zu bleiben und an ihren Bildschirmen zu kleben. Aber keine Sorge!

«Eine Ausnahme stellt der Luft- und Raumfahrtsektor im Verteidigungsbereich dar, der relativ sicher zu sein scheint.» (dt. S. 231)

Für Kapitalinvestitionen zumindest. Anstatt auf Ferien an sonnigen Stränden können wir uns auf Weltraumkriege freuen. Das könnte eher früher als später passieren, denn, wie die Brookings Institution in einem Bericht von 2018 darüber, «How artificial intelligence is transforming the world» («Wie künstliche Intelligenz [KI] die Welt verändert»), feststellt, geht alles schneller, auch der Krieg:

«Die mit KI verbundene Big-Data-Analytik wird die nachrichtendienstliche Analyse tiefgreifend beeinflussen, da riesige Datenmengen nahezu in Echtzeit gesichtet werden […] und damit Kommandeuren und ihren Stäben ein bisher nicht gekanntes Mass an nachrichtendienstlicher Analyse und Produktivität liefern. Die Befehls- und Kontrollfunktionen werden in ähnlicher Weise betroffen sein, da menschliche Befehlshaber bestimmte Routine-, und unter besonderen Umständen Schlüsselentscheidungen an KI-Plattformen delegieren, wodurch sich die Zeit drastisch verkürzt, die Entscheidung und anschliessende Aktion verknüpft.»2 

Es besteht also keine Gefahr, dass irgendein weichherziger Offizier aus sentimentaler Verbundenheit mit der Menschheit zögert, den dritten Weltkrieg zu beginnen. Wenn die KI-Plattform eine Gelegenheit sieht, dann nichts wie los!

«Letztendlich ist Kriegsführung ein Wettbewerbsprozess um die Zeit, bei dem die Seite, die am schnellsten entscheiden und am schnellsten zur Ausführung übergehen kann, in der Regel die Oberhand behält. In der Tat können künstlich intelligente Informationssysteme, verbunden mit KI-gestützten Kommando- und Kontrollsystemen, die Entscheidungsunterstützung und Entscheidungsfindung auf eine Geschwindigkeit bringen, die der Geschwindigkeit der traditionellen Mittel der Kriegsführung weit überlegen ist. Dieser Prozess wird so schnell sein, insbesondere wenn er mit automatischen Entscheidungen zum Einsatz künstlich intelligenter autonomer Waffensysteme mit tödlicher Wirkung gekoppelt ist, dass ein neuer Begriff geprägt wurde, um die Geschwindigkeit der Kriegsführung zu beschreiben: Hyperwar».3

Die Amerikaner haben die Wahl. Entweder sie streiten sich weiter über Belanglosigkeiten oder sie wachen auf   – wachen wirklich auf, erkennen die geplante Realität und tun etwas dagegen.

Die Zukunft wird durch Investitionsentscheidungen gestaltet. Nicht durch unanständige Reden, nicht einmal durch Wahlen, sondern durch Investitionsentscheidungen. Damit das Volk seine Macht zurückgewinnt, muss es seine Herrschaft darüber, wie und für welche Zwecke Kapital investiert wird, wieder geltend machen.

Und wenn privates Kapital sich dagegen sperrt, muss es sozialisiert werden. Das ist die einzige Revolution   – und es ist auch der einzige Konservatismus, der einzige Weg, um anständiges menschliches Leben zu erhalten. Darum geht es in der Realpolitik.  •


https://www.weforum.org/agenda/2020/01/yuval-hararis-warning-davos-speech-future-predications/
https://www.brookings.edu/research/how-artificial-intelligence-is-transforming-the-world/
3 a.a.O.

*Diana Johnstone lebt in Paris. Ihr neuestes Buch ist «Circle in the Darkness: Memoirs of a World Watcher » (Memoiren einer Weltbeobachterin). Atlanta 2020. ISBN 978-1-949762-13-6. Ausserdem erschien «Fools’ Crusade: Yugoslavia, NATO and Western Delusions.» 2002.(ISBN 978-1-58367-084-2), «Queen of Chaos: the Misadventures of Hillary Clinton. » Deutsch: Die Chaos Königin. Frankfurt 2016 (ISBN 978-3-866489-135-9). Sie schrieb ausserdem ein Vorwort und einen Kommentar zu den Memoiren ihres Vaters, Paul H. Johnstone   – ehemaliger leitender Analytiker der Strategic Weapons Evaluation Group (WSEG) im Pentagon   –, die unter dem Titel «From MAD to Madness. Inside Pentagon Nuclear Planning» 2017 erschienen. Sie kann unter diana.johnstone@wanadoo.fr erreicht werden.

Quelle: https://consortiumnews.com/2020/11/24/diana-johnstone-the-great-pretext-for-dystopia/; Abdruck mit der freundlichen Genehmigung der Autorin. (Übersetzung Zeit-Fragen)

Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2020/nr-30-29-dezember-2020/der-grosse-vorwand-fuer-eine-anti-utopie.html

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