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Das russische Fernsehen über die politische Woche in Deutschland: Navalny, Reichstagstreppe, Corona-Demo

Thomas Röper

publiziert: 07. September 2020
https://www.anti-spiegel.ru/
Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

Im russischen Fernsehen gab es am Sonntagabend in der Sendung „Nachrichten der Woche“ einen Beitrag über die politischen Ereignisse der vergangenen Woche in Deutschland. Der Blick „von außen“ war sehr interessant, zumal er sich diametral von dem unterscheidet, wie die deutschen Medien berichtet haben. Thomas Röper hat den Beitrag des russischen Fernsehens übersetzt.

Beginn der Übersetzung:

Das russische Außenministerium veröffentlichte einen Kommentar, in dem es berichtet, dass Experten aus Nato-Ländern viele Jahre an der Gruppe von Kampfstoffen, die gemeinhin als „Novitschok“ bezeichnet wird, geforscht haben. Mehr noch, in den Vereinigten Staaten von Amerika wurden mehr als 150 Patente für Kampfstoffe aus der „Novitschok“-Gruppe angemeldet. (Anm. d. Über.: Nachdem ein russischer Überläufer Anfang der 1990er Jahre die Formel für Novitschok preisgegeben hat, haben mindestens die Geheimdienste Deutschlands, der Tschechei, Großbritanniens und der USA an Novitschok geforscht. Das ist schon seit dem Fall Skripal bekannt)

Das Gift aus der Gruppe „Novitschok“ tauchte in den Aussagen der deutschen Regierung nun wieder auf, die behauptet, es sei „Novitschok“ gewesen, mit dem der Blogger Navalny vergiftet worden sein soll, den die Berliner Klinik „Charité“ seit zwei Wochen im Koma hält. Merkels Äußerung hat das politische Leben in Deutschland erwartungsgemäß aufgerüttelt. Und nicht nur in Deutschland.

Die deutsche Klinik mit dem französischen Namen „Charité“, die in Russland dank einer TV-Serie bekannt wurde, ist bei Politikern aus dem postsowjetischen Raum sehr beliebt: Hier wurden Michail Gorbatschow, Boris Jelzin, Eduard Schewardnadse und Julia Timoschenko behandelt. Im Jahr 2004 halfen Ärzte der Klinik Viktor Juschtschenko, die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine zu gewinnen, als sie ihm eine durch nichts bestätigte Diagnose einer Dioxinvergiftung ausstellte. Jetzt ist der Frontmann der russischen Opposition Alexej Navalny hier zur Untersuchung und Behandlung. Obwohl man korrekterweise sagen sollte, dass die „Charité“ der Ort ist, an dem sich Navalnys Spur verliert.

Der russische Oppositionelle wurde am 22. August mit einem Flugzeug nach Berlin geflogen. Als persönlicher Gast der Kanzlerin. Nach offiziellen Angaben war er zu dieser Zeit in einem ernsten, aber stabilen Zustand im künstlichen Koma.

Hier sehen Sie die Fahrzeugkolonne aus 13 Krankenwagen, Feuerwehrfahrzeugen, Kriminal- und Schutzpolizei, begleitet von einer Motorradeskorte, mit der Navalny in die Charité gebracht wurde. Das Krankenhaus wird streng bewacht. Am selben Tag berichtete der Pressedienst des Krankenhauses, dass bei Navalny ein Enzym, das für die Funktion des Nervensystems verantwortlich ist, unterdrückt sei, was auf eine Vergiftung hindeute. Und das war schon alles: In den nächsten 11 Tagen gab es keine Informationen darüber, was mit Navalny los ist.

Dann kam die entscheidende Nachricht: Die Proben wurden zur Untersuchung an das Labor für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr in Bayern geschickt, die Experten haben das britische Chemie- und Biologische Zentrum in Porton Down kontaktiert, das seit der Geschichte der mysteriösen Vergiftung der Skripals bekannt ist.

In den Zeitungen und im Internet geht Nowitschok nun wieder um. Am 2. September schließlich veröffentlichte das Bundeskanzleramt eine Pressemitteilung mit einer Erklärung der Kanzlerin und der wichtigsten Minister zum Fall Navalny. „Zweifelsfrei“   – diese Formulierung wird nun ständig wiederholt, wie früher das britische „highly likely“: Navalny wurde Opfer einer Vergiftung. Bald tauchte auch Merkel selbst auf.

Die Sensation hat nicht funktioniert. Obwohl Charité-Experten laut dem Magazin „Spiegel“ keine Spuren von Kampfstoffen in seinem Blut finden konnten und aus diesem Grund die Chemiker der Bundeswehr in den Fall eingeschaltet wurden, haben die deutsche Medien bei Navalny schon von einer „Vergiftung“ berichtet, bevor er nach Berlin gebracht worden war. Das heißt, das Publikum wurde im Vorwege auf diese Nachricht vorbereitet. Neben Außenminister Heiko Maas waren auch die Bundeswehrchefin und Vorsitzende der regierenden CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, an der Informationskampagne beteiligt. Genaugenommen war sie die erste, die noch vor Merkel, über die Ergebnisse des Labors der Behörde berichtet hat.

Deutschland und die ganze Welt erwarte von Moskau Erklärungen, Ermittlungen und die Bestrafung der Schuldigen, machte Maas deutlich. Und Berlin wird, ohne auf die Antworten zu warten, daran arbeiten, eine einheitliche Position zu Navalny in Europa und der NATO zu bilden. Stoltenberg, der Generalsekretär des Bündnisses, reagierte sofort.

Eigentlich passt das Wort Einigkeit jetzt nicht zur NATO. Stoltenberg darf nur angeblich gemeinsame Standpunkte zu nicht prinzipiellen Fragen äußern. Vor allem vor dem Hintergrund der realen Krisen, die dem Generalsekretär des Bündnisses den Job kosten können. Frankreich und Griechenland streiten sich im Mittelmeer mit der Türkei, sie stehen de facto am Rande eines Krieges. Und der US-Präsident will, wie die New York Times schreibt, wenn er die Wahlen im November gewinnt, die Vereinigten Staaten aus der NATO führen. Nicht öffentlich habe er wiederholt gesagt, dass er dies als eine seiner Aufgaben für die nächste Amtszeit ansieht. Was den Fall Navalny betrifft, so reagierte Trump diese Woche vorsichtig.

Es ist nicht bekannt, wer die Beweise gesehen hat und ob es sie überhaupt gibt. Bisher gibt es keine Reaktion auf das Rechtshilfegesuch der russischen Generalstaatsanwaltschaft an das deutsche Justizministerium. Und auf die Frage von RT Deutsch, ob Berlin bereit sei, in dieser Angelegenheit mit Moskau zusammenzuarbeiten, sagte Merkels Pressesprecher Seibert, es gehe nicht mehr um bilaterale Beziehungen   – alles Material werde von den Deutschen an Brüssel, an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen übergeben, und es sei Sache dieser Organisation, damit umzugehen.

Es ist ein aus Salisbury bekannter Algorithmus: ein Mann, der mit der russischen Regierung Meinungsverschiedenheiten hat oder hatte, ein plötzliches Koma, Vorwürfe einer Vergiftung, das Verschwinden des Opfers und der Nebel der OPCW. An der Oberfläche sieht man nur mediale Blasen und Sanktionen.

Die Reihen der Gegner der Nord-Stream-2-Gaspipeline sind in beispielloser Weise zum Leben erwacht. Die deutschen „Grünen“ fordern, das Projekt sofort zu stoppen. Merkels Parteigenosse und Chef im außenpolitischen Ausschuss des Parlaments, Norbert Röttgen, wies darauf hin, dass Deutschland endlich einen Grund habe, die Pipeline ohne Gesichtsverlust aufzugeben.

Navalny, „Novitschok“ und „Nord Stream 2“   – all das beherrschte die mediale Agenda. Eigentlich sollten die Deutschen in dieser Woche über andere Ereignisse diskutieren. „Angela, das Volk da!“   – skandierten die Demonstranten, die sich am 29. August mitten in Berlin versammelt hatten. Es ist schwer zu sagen, wie viele es waren   – die Stadtverwaltung zählte 38.000, aber die Organisatoren sprachen von einer Viertelmillion. Es war ein Protest gegen die exzessiven Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung des Coronavirus. Organisiert wurde er von den Jungs der zivilgesellschaftlichen Gruppe Querdenken. Einer ihrer Anführer, Stefan Bergman, kam barfuß zum Interview.

„Es bestehen nach wie vor schwerwiegende Einschränkungen. Zum Beispiel sind Massenveranstaltungen verboten, was der Branche große Probleme macht. In anderen Bereichen ist die Arbeit erschwert. Die Entschädigungen sind minimal, obwohl viel darüber geredet wird. Wenn Sie mit den Menschen sprechen, sind die tatsächlichen Zahlungen zu klein oder erreichen den Empfänger überhaupt nicht. Sportveranstaltungen werden ohne Zuschauer abgehalten, Sportveranstalter können ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen, Gottesdienste in Kirchen wurden verboten. Wir glauben nicht, dass das Virus so gefährlich ist“, sagte Stefan Bergman.

Die bundesweite Kundgebung zog eine Vielzahl von Menschen an, von denen einige sofort mit der Polizei zusammenstießen, was in Deutschland immer schlecht endet. Und zwar nicht für die Polizei. Das Netz ist voll mit Videos von brutalen Festnahmen, obwohl es fast keine gewalttätigen Aktionen gegen Polizeibeamte gab.

Besonders auffällig waren die Szenen, die sich zwischen der Polizei und Menschen abspielten, die unter schwarz-weiß-roten Fahnen des Kaisers aufgetreten sind. Das waren unangenehme Bilder. Tatsache ist, dass diese Symbolik in den 90er Jahren von ausgemachten Neonazis zur Identifikation genutzt wurde. Und jetzt wurde sie von den sogenannten Reichsbürgern übernommen, einem Phänomen der deutschen Gesellschaft. Ihr Einfluss ist marginal. Tatsache ist, dass die Reichsbürger Deutschland nicht als juristisch gegründeten Staat betrachten. Sie glauben, dass das Land immer noch unter der Besetzung der Alliierten steht und fordern, dass Russland und die Vereinigten Staaten die Deutschen durch die Unterzeichnung eines Friedensvertrags freilassen sollen. Die Menschen glauben aufrichtig an ihre paradoxen Überzeugungen und im Ergebnis sind sie leicht erregbar.

„Wir müssen jetzt beweisen, dass wir alle hier sind. Wir gehen da rauf und holen uns heute, hier und jetzt unser Hausrecht.“ Für diese Worte droht der Expertin für nicht-traditionelle Medizin Tamara Kirschbaum eine Gefängnisstrafe, denn das Haus, von dem sie sprach, war der Reichstag und die Menge, die bei der Kundgebung aufgeheizt wurde, rannte wirklich die Treppe hinauf, wo nur drei Polizisten an den Glastüren des Parlaments im Einsatz waren. Die erhalten nun den persönlichen Dank der Kanzlerin und Tamara drohen bis zu drei Jahren Gefängnis.

Atilla Hildmann ist ethnischer Türke, Autor kulinarischer Bestseller und einer der Ideologen der Reichsbürger-Bewegung. 29 von ihnen wurden vor der russischen Botschaft festgenommen, wohin er einige seiner Unterstützer gebracht hat. Der Ort war nicht als Kundgebung angemeldet, so dass die Polizei Herrn Hildmann nicht ausreden ließ   – die Spezialkräfte drehten ihm die Hände auf den Rücken und führten ihn im Schwitzkasten zum Polizeiwagen, wonach mit anderen Teilnehmern der Veranstaltung ähnlich verfahren wurde. Wir treffen Atilla am Tatort. Bei dem Interview forderte er wieder Freiheit für Deutschland, aber im Fall Navalny hatte er keine tiefgehenden Fragen.

„Wir sind nicht dumm, die Deutschen sind sehr aufmerksam und vernünftig. Wir sehen, wie feindselig viele Russland gegenüber sind. Der Fall Navalny wird gezielt eingesetzt, um die Aggression der NATO zu legitimieren. Die Deutschen unterstützen Putin, die Deutschen wollen Frieden“, sagte Hildmann.

Kommentatoren, die Merkels Rede zum Fall Navalny bewertet haben, stellten fest, dass sie wie ein Ultimatum klang. Am 1. September, als Merkel in ihrem eigenen Wahlkreis in Vorpommern war, der, wie das ganze Bundesland, Einnahmen aus dem Betrieb von „Nord Stream 1“ erhält und in Zukunft von „Nord Stream 2“ erhalten wird, sagte sie, dass dieses Projekt abgeschlossen werden müsse. Doch am nächsten Tag gab der scharfe Wechsel der Tonart gegenüber Russland den Gegnern der Pipeline Grund zur Freude und den Befürwortern Grund zur Sorge. Zu letzteren gehört auch der deutsche Wirtschafts- und Energieminister Peter Altmaier   – er war übrigens nicht bei dem Treffen mit Merkel dabei.

Auch der schwedische Ministerpräsident Stefan Leven äußerte sich in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen irritiert über Spekulationen um die Pipeline. Es ist klar, dass ein Ende des Projekts für die deutsche Regierung ganz sicher finanziellen und einen Gesichtsverlust mit sich bringen wird. Darüber hinaus würde es die russisch-deutsche Beziehungen in eine Eiszeit stürzen, obwohl der Gedanke daran manch einem vielleicht das Herz wärmen dürfte.

Ende der Übersetzung


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