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COVID-19: eine «ausserirdische» Krankheit?

International Journal of Infectious Diseases Volume 110, P155-159, September 01, 2021
Elisabeth Paul1*, Garrett W. Brown2, Mélanie Dechamps3, Andreas Kalk4, Pierre-François Laterre5, Bernard Rentier6, Valéry Ridde7, Martin Zizi8
11. November 2021

1 School of Public Health, Université Libre de Bruxelles, Brussels, Belgium
2 Global Health Theme, University of Leeds, Leeds, UK
3 Cardiovascular ICU, St-Luc University Hospital, Université Catholique de Louvain, Brussels, Belgium
4 Kinshasa Country Office, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, Kinshasa, Democratic Republic of the Congo
5 Department of Critical Care Medicine, St-Luc University Hospital, Université Catholique de Louvain, Brussels, Belgium
6 Rector Emeritus, Prof. Em. Virology & Viral Immunology, Université de Liège, Belgium
7 CEPED, Institute for Research on Sustainable Development (IRD), IRD-Université de Paris, ERL INSERM SAGESUD, Paris, France
8 CEO, Aerendir Mobile Inc., Mountain View, CA, USA; formerly Prof. at VUB (Brussels) and KULeuven, ex-CSO Belgian Ministry of Defense

© 2021 Der/die Autor(en). Veröffentlicht von Elsevier Ltd im Namen der Internationalen Gesellschaft für Infektionskrankheiten. Dies ist ein frei zugänglicher Artikel unter der CC BY-NC-ND-Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/)

* Corresponding author.
E-mail Adresse: Elisabeth.Paul@ulb.be (E. Paul).

Artikel-Info

Geschichte: Eingereicht am 17. Juni 2021. Überarbeitet am 20. Juli 2021. Angenommen am 22. Juli 2021.

Zusammenfassung

Hintergrund: Seit Beginn der Pandemie wird COVID-19 als eine aussergewöhnliche Krankheit angesehen. Die Bekämpfungsmassnahmen konzentrierten sich ausschliesslich auf «das Virus», während andere biologische und soziale Faktoren, die schwere Formen der Krankheit bestimmen, ausser Acht gelassen wurden.

Ziel: Wir argumentieren, dass, obwohl COVID-19 anfangs als eine neue Herausforderung angesehen wurde, die aussergewöhnliche Massnahmen rechtfertigte, sich diese Situation geändert hat   – und dass wir auch anders reagieren sollten.

Hauptargumente: Wir wissen jetzt, dass COVID-19 viele Merkmale gewöhnlicher infektiöser Atemwegserkrankungen aufweist, und wir können jetzt feststellen, dass SARS-CoV-2 nicht plötzlich neue Probleme aufgeworfen hat. Vielmehr hat es bestehende Probleme in den Gesundheitssystemen und im Gesundheitszustand der Bevölkerung aufgedeckt und verschlimmert. Bei COVID-19 handelt es sich offensichtlich nicht um eine «ausserirdische» Krankheit. Es handelt sich um eine komplexe Zoonose, und als solche muss sie nach den seit langem bewährten Grundsätzen der Medizin und der öffentlichen Gesundheit behandelt werden.

Schlussfolgerung: Eine komplexe Krankheit lässt sich nicht durch ein einfaches Wundermittel oder einen Wunder-Impfstoff bekämpfen. Die Heterogenität der Bevölkerungsprofile, die für die Entwicklung einer schweren Form von COVID-19 anfällig sind, legt nahe, dass unterschiedliche, gezielte Massnahmen ergriffen werden müssen, die den Risikoprofilen in angemessener Weise gerecht werden. Da Komorbiditäten [Vorerkrankungen, d. Übers.] für die Schwere der Erkrankung eine entscheidende Rolle spielen, müssen kurzfristige, auf das Virus ausgerichtete Massnahmen durch mittelfristige Strategien ergänzt werden, die darauf abzielen, die Belastung durch Komorbiditäten zu verringern und das Risiko des Übergangs von der Infektion zur Krankheit zu mindern. Zu den erforderlichen Strategien gehören eine frühzeitige Prävention, eine frühzeitige Behandlung und die Konsolidierung des Gesundheitssystems.

Hintergrund

(3. November 2021) Obwohl die Gefahr einer Pandemie schon seit vielen Jahren bestand, löste COVID-19 weltweit hektische und unkoordinierte Reaktionen aus (Independent Panel for Pandemic Preparedness and Response, 2021; Paul et al., 2020b). Seit der Ausrufung des öffentlichen Gesundheitsnotstands im Januar 2020 wird COVID-19 als eine aussergewöhnliche Krankheit betrachtet, als käme sie aus dem Weltall.

Zum ersten Mal in der Geschichte wurden Milliarden von Menschen in den Lockdown versetzt, durften nicht zur Schule gehen, ihren Lebensunterhalt nicht verdienen und/oder ihre Angehörigen nicht besuchen, während ein beispielloser Wettlauf um die Entdeckung von Behandlungsmöglichkeiten und Impfstoffen in Gang gesetzt wurde. Die Kollateralschäden dieser Bekämpfungsmassnahmen wurden weitgehend ignoriert, auch wenn sie möglicherweise grösser waren als die positiven Auswirkungen der durchgeführten Massnahmen (Hrynick et al., 2021). Sie reichten von der wirtschaftlichen Rezession und dem Verlust von Bildung über die Zunahme von häuslicher Gewalt und psychischen Problemen bis hin zur Verschlimmerung chronischer Erkrankungen aufgrund des fehlenden Zugangs zur Behandlung (Bavli et al., 2020).

Die Auswirkungen lasteten besonders schwer auf jungen Menschen, trafen die Schwächsten unverhältnismässig stark und verschärften die Ungleichheiten (Chakrabarti et al., 2021). In vielen Ländern wurde den Angehörigen der medizinischen Grundversorgung das Recht verweigert, ihre Patienten zu behandeln. Ohne eine wirksame medizinische Grundversorgung wurde den Krankenhäusern die Aufgabe überlassen, schwere Fälle zu behandeln, auch wenn es kein spezifisches, empfohlenes Medikament gab. Dies führte zu einer weiteren Verschärfung der bestehenden Ungleichheiten in den Gesundheitssystemen und -diensten, insbesondere in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen (Baral, 2021).

Trotz der Tatsache, dass COVID-19 als «Syndemie» (Horton, 2020) eingestuft werden könnte   – eine Synergie von Epidemien, die «zeitlich und örtlich zusammen auftreten, miteinander interagieren, um komplexe Folgeerscheinungen hervorzurufen, und gemeinsame zugrunde liegende gesellschaftliche Triebkräfte aufweisen» (Swinburn et al., 2019)   –, konzentrierten sich die Kontrollmassnahmen ausschliesslich auf «das Virus» und Verzögerungstaktiken, während andere biologische und soziale Faktoren, die zur Entwicklung schwerer Formen der Krankheit beitragen, nicht berücksichtigt wurden (Paul et al., 2020a).

Nach mehreren nicht schlüssigen Ergebnissen wurde erst im Juli 2020 in einer der beiden grossen internationalen randomisierten kontrollierten Studien zur Prüfung der Wirksamkeit bestehender Behandlungen gegen COVID-19 ein vorläufiger Bericht veröffentlicht, aus dem hervorging, dass Dexamethason (ein Glukokortikoid [stark entzündungshemmendes Medikament]) im Durchschnitt zu einer geringeren Sterblichkeitsrate bei Patienten führte, die zusätzlichen Sauerstoff oder invasive mechanische Beatmung benötigten (The RECOVERY Collaborative Group, 2020).

Das Fehlen von Beweisen für wirksamere medizinische Behandlungen in Verbindung mit Prognosen, die von einer hohen Krankheitslast und Sterblichkeit ausgehen, führte zu der Auffassung, dass es sich um eine einmalige Krankheit handelt. Dies führte leider dazu, dass bewährte und traditionelle medizinische und gesundheitspolitische Praktiken weitgehend ignoriert wurden.

So wird beispielsweise das seit langem bestehende Konzept der «Herdenimmunität», das immer ein Ziel oder einen Erfolg darstellte, heute von vielen als eine «Strategie» betrachtet   – die nicht auf natürlichem Wege, sondern nur durch Impfung erworben werden kann (Weltgesundheitsorganisation, 2020).

Trotz aller potenziellen Risiken, Einschränkungen und beträchtlichen Unsicherheiten in Bezug auf langfristige Nebenwirkungen, die Dauer des Schutzes und die Wirksamkeit gegen virale Varianten wurde die Impfung schnell zur einzigen «Erlösungsoption», die von wichtigen Regierungen und internationalen Institutionen gefördert wurde.

Obwohl es verständlich ist, dass COVID-19 Anfang 2020 als eine aussergewöhnliche Krankheit angesehen wurde, die aussergewöhnliche Reaktionsmassnahmen rechtfertigte   – zumal SARS-CoV-2 eine Vielzahl von Symptomen auslösen kann, von denen einige äusserst schwerwiegend sind (Hu et al., 2020; Wiersinga et al., 2020)   –, hat sich die Situation geändert. Ändern sollte sich auch unsere Reaktion (Paul et al., 2020a).

In diesem Artikel vertreten wir, dass wir jetzt, da wir die komplexe Funktionsweise von COVID-19 viel besser verstehen, unsere Reaktionsstrategie so anpassen sollten, dass sie der Heterogenität der Krankheit gerecht wird und bewährte und traditionelle medizinische und gesundheitspolitische Praktiken einbezieht.

Analytischer Ansatz

Um die Komplexität einer Antwort auf COVID-19 anzugehen, sind verschiedene Fachgebiete von Bedeutung. Dieser Artikel basiert auf einer Zusammenarbeit von Klinikern, Forschern und Experten für öffentliche Gesundheitspolitik aus drei Kontinenten (Amerika, Afrika und Europa), die besorgt sind über die COVID-19-Antwortstrategien in ihren jeweiligen Ländern   – Belgien, Demokratische Republik Kongo, Frankreich, Deutschland, Vereinigtes Königreich, USA   – und auf globaler Ebene.

Gemeinsam verfügen sie über Fachwissen in den Bereichen Intensivmedizin, Biophysik, öffentliche Gesundheit, Virologie sowie Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme. In diesem Beitrag wird ein reflexiver Analyseansatz gewählt   – wobei Reflexivität definiert werden kann als «eine absichtliche intellektuelle Aktivität, bei der Individuen eine Situation, ein Problem oder ein bestimmtes Objekt auf der Grundlage ihrer früheren Erfahrungen erforschen oder untersuchen, um neue Erkenntnisse zu entwickeln, die letztlich ihr Handeln beeinflussen» (Tremblay et al., 2014)   –, um die COVID-19-Antwortstrategie auf globaler Ebene aus einem multidisziplinären Blickwinkel kritisch zu analysieren.

COVID-19 legte bestehende Probleme offen

Wir wissen heute, dass COVID-19 in Bezug auf den Übertragungsprozess viele Merkmale der üblichen Infektionskrankheiten der Atemwege aufweist   – es wird durch ein Coronavirus verursacht, dessen Übertragung über die Luft erfolgt (Greenhalgh et al., 2021). Ihre Immunpathologie ist besser verstanden (Cao, 2020) und kann zu Störungen des Gefäss- und Immunsystems führen, die einen Zytokinsturm auslösen können (Garvin et al., 2020; Varga et al., 2020).

Der Schweregrad und die Sterblichkeit hängen weitgehend vom Alter, von sozialen Faktoren und Komorbiditäten [Vorerkrankungen] ab (Williamson et al., 2020), während die Sterblichkeitsrate bei jungen Menschen mit durchschnittlich 0,2  –0,3% extrem niedrig ist (Ioannidis, 2020; O'Driscoll et al., 2020).

Insgesamt hat SARS-CoV2 nicht aus heiterem Himmel neue Probleme geschaffen, sondern vielmehr bestehende Probleme in seinem Kontext, offengelegt und verschärft. In den USA beispielsweise hat COVID-19 den schlechten Gesundheitszustand eines grossen Teils der Bevölkerung offenbart, wobei zwei Drittel der COVID-19-Krankenhausaufenthalte auf vier wichtige kardiometabolische [Herz und Stoffwechsel betreffende] Erkrankungen (O'Hearn et al., 2021), die kritische Rolle der sozialen Determinanten der Gesundheit (Karmakar et al., 2021) sowie «tiefgreifende Probleme im Gesundheitssystem» (Blumenthal et al., 2020). zurückzuführen sind.

In Europa hat die Pandemie die Tatsache der älter werdenden Bevölkerung, den Personalmangel im Gesundheitswesen und die unzureichende Qualität der medizinischen Grundversorgung deutlich gemacht (OECD/Europäische Union, 2020).

In Brasilien haben die bestehenden sozioökonomischen Ungleichheiten die Folgen der Epidemie stärker beeinflusst als jeder andere Risikofaktor (Rocha et al., 2021). COVID-19 hat vor allem die mangelnde Vorbereitung des Gesundheitssystems auf Pandemien offenbart, mit einer untauglichen globalen Politik, nicht vorhandenen und veralteten nationalen Plänen, mangelnder Anpassungsfähigkeit des Gesundheitssystems, Ausrüstungsmangel, unzuverlässiger Verfügbarkeit von Arzneimitteln, unzureichenden Kommunikationsstrategien, fragmentierten diagnostischen Fähigkeiten und mangelhaften politischen Strukturen (Baral, 2021; Paul et al., 2020b).

Auswirkungen auf die Politik

COVID-19 ist keine ausserirdische Krankheit, die aus dem Nichts aufgetaucht ist. Es handelt sich um eine komplexe Zoonose, die als solche behandelt werden muss (Wernli et al., 2021), und zwar nach altbewährten Grundsätzen der Medizin und der öffentlichen Gesundheit. Eine komplexe Krankheit lässt sich nicht durch ein einfaches Wundermittel oder einen Wunder-Impfstoff heilen.

Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich bei dem Infektionserreger um ein über die Luft übertragenes Virus handelt, das nicht nur ein, sondern viele tierische Reservoire hat, da es sich um eine bekannte Zoonose handelt, die bei zahlreichen Arten in der Umgebung des menschlichen Lebensraums vorkommt (Shi et al., 2020; Ye et al., 2020; Wardeh et al., 2021; He et al., 2021).

Folglich sind Forderungen nach einer Ausrottung der Krankheit naiv. Einige Wissenschaftler weisen sogar darauf hin, dass eine «vollständige» Herdenimmunität zur Beendigung dieser Pandemie wahrscheinlich unmöglich ist, da neue Varianten auftreten, Zweifel daran bestehen, ob die Impfstoffe die Übertragung verhindern können, es Anzeichen für eine nachlassende Immunität gibt und die Impfstoffe weltweit ungleich verteilt sind (Aschwanden, 2021).

Diese einfache Tatsache macht auch die Politik der Virusbekämpfung durch den verstärkten Einsatz von Lockdowns nicht nachhaltiger. Nach 50 Jahren Coronavirus-Forschung und den gesammelten Erkenntnissen über Virusinfektionen der Atemwege ist davon auszugehen, dass im Herbst und Winter, insbesondere auf der Nordhalbkugel, häufiger neue Wellen des Virus oder einer Variante auftreten werden (Estola, 1970; Moriyama et al., 2020).

Dies erfordert eine Verlagerung der Politik von einer «Null-Risiko»-Strategie, die von oben nach unten durch «Command-and-Control»-Lockdowns auferlegt wird, zu einer Strategie der «Risikominderung» und der «Schadensminderung» durch Aufklärung und Stärkung der Menschen, insbesondere der Verletzlichsten (Arnold, 2021; Loewenson et al., 2021, 2020).

Die Heterogenität der Bevölkerungsprofile, die für die Entwicklung einer schweren Form von COVID-19 anfällig sind, erfordert die Annahme unterschiedlicher, gezielter Massnahmen, mit denen Risikogruppen in geeigneter Weise erreicht werden können. Die kritische Rolle von Komorbiditäten für den Schweregrad der Erkrankung macht es erforderlich, kurzfristige, auf das Virus ausgerichtete Massnahmen   – einschliesslich einer frühzeitigen Prophylaxe in Umgebungen mit hohem Übertragungsrisiko (Seet et al., 2021)   – durch mittelfristige Verfahren zu ergänzen, die darauf abzielen, die Belastung durch Komorbiditäten sowie das Risiko des Übergangs von einer SARS-CoV-2-Infektion zu einer COVID-19-Erkrankung frühzeitig zu verringern.

Die Verschiedenartigkeit der COVID-19-Symptome legt nahe, dass wir nicht einfach auf ein spezifisches Heilmittel warten sollten, das in einem späten Krankheitsstadium «im Durchschnitt» gegen SARS-CoV-2 wirkt. Bei einer derartigen Verschiedenartigkeit liegen die Krankheitsverläufe der meisten Menschen weit vom Durchschnitt entfernt. Darüber hinaus folgen Virusinfektionen einem wohlbekannten Weg von ihrem Eintrittspunkt bis zu der endgültigen Ausprägung, was eine Anpassung der Behandlung an das jeweilige Infektionsstadium des Patienten erfordert.

Es ist besser, mit der Behandlung zu beginnen, bevor die Entzündung einsetzt, und die Behandlungen im Rahmen einer primären und patientenzentrierten Versorgung an die individuellen Bedürfnisse anzupassen.

Obwohl beispielsweise seit der ersten Welle bekannt ist, dass COVID-19 Blutgerinnsel verursacht, hat eine Studie erst vor kurzem bestätigt, dass eine prophylaktische Antikoagulation [Blutverdünnung] wahrscheinlich die «optimale Therapie» für COVID-19-Patienten ist (Vaughn et al., 2021). Ebenso sollten wir eine empirische antimikrobielle Therapie bei Verdacht auf eine Koinfektion nicht aufschieben, bis sich der klinische Zustand verschlechtert hat; der potenzielle Nutzen einer vorbeugenden antimikrobiellen Therapie zum Zeitpunkt des Auftretens von COVID-19-Symptomen muss angemessen untersucht werden (Contou et al., 2020; Intra et al., 2020; Rawson et al., 2020; Verroken et al., 2020).

Dieser Punkt wurde bereits von Dr. Anthony Fauci als Schlussfolgerung aus den Grippepandemien von 2008  –2009 propagiert (Morens et al., 2008). Inzwischen gibt es Hinweise auf die potenzielle Wirksamkeit von wiederverwendeten Medikamenten wie Ivermectin (Hill et al., 2021), Amantadin (Cortés-Borra und Aranda-Abreu, 2021) und Cofloctol (Belouzard et al., 2021) sowie von Nahrungsergänzungsmitteln (Alzaabi et al., 2021; Margolin et al., 2021) und neuen Molekülen wie Plitidepsin (Varona et al., 2021) in frühen Krankheitsstadien. Auf dieser Ebene ist weitere Forschung erforderlich.

Darüber hinaus wäre es bei Patienten mit bekannten Komorbiditäten medizinisch sinnvoll und therapeutisch hilfreich, eine Typisierung des Humanen Leukozyten Antigens (HLA; [ein Gewebemerkmal]) auf Anfälligkeit vorzunehmen, um diejenigen zu identifizieren, die wirklich eine schnellere und intensivere Behandlung benötigen (de Sousa et al., 2020; Langton et al., 2021).

Impfstoffe sind ein wichtiger Teil der Bekämpfungsstrategie, aber nur, wenn sie nach dem Vorsorgeprinzip eingesetzt werden und das Nutzen-Risiko-Verhältnis ständig überprüft wird. Dies ist notwendig, um das Vertrauen in Impfstoffe aufrechtzuerhalten und unerwünschte Wirkungen zu vermeiden   – wie bei den Impfstoffen gegen Dengue und die Influenza-H1N1-Pandemie (Forcades i Vila, 2015; The Lancet Infectious Diseases, 2018)   –, die das Zögern der Menschen, die sie am dringendsten benötigen, verstärken könnten.

Mit Impfstoffen allein lässt sich die COVID-19-Pandemie jedoch nicht lösen (SARS-CoV-2-Varianten: dringender Handlungsbedarf im Bereich der öffentlichen Gesundheit über Impfstoffe hinaus, 2021). Daher sind zusätzliche ergänzende Strategien erforderlich, darunter Prävention, frühzeitige Behandlung und die Konsolidierung des Gesundheitssystems (Paul et al., 2021).

Auch wenn sie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht als «Strategie» empfohlen wird, muss die angeborene und bereits natürlich erworbene Immunität, einschliesslich der T-Zell-Immunität (Braun et al., 2020), bei der Festlegung der am besten geeigneten Massnahmen berücksichtigt werden, einschliesslich der Einschätzung des hypothetischen Schwellenwerts für die Herdenimmunität, der von vielen Regierungen als Vorbedingung für die Aufhebung nicht-pharmazeutischer Interventionen angeführt wird.

In der Tat gibt es inzwischen immer mehr Belege dafür, dass eine SARS-CoV-2-Infektion unabhängig vom Schweregrad der Erkrankung robuste Immunreaktionen auslöst (Nielsen et al., 2021) und dass die erworbene natürliche Immunität dauerhaft ist (Hall et al., 2021; Turner et al., 2021). Dies deutet darauf hin, dass Personen, die zuvor mit SARS-CoV-2 infiziert waren, wahrscheinlich nicht von einer COVID-19-Impfung profitieren werden, so dass Impfstoffe sicher vorrangig für Personen eingesetzt werden können, die zuvor nicht infiziert waren (Shrestha et al., 2021).

Trotz der Fortschritte bei den Impfungen werden in vielen Ländern nach wie vor nicht-pharmazeutische Massnahmen durchgeführt   – bis hin zu strikten Verboten (z. B. in Australien)   –, obwohl es keine Beweise für ihre Gesamteffizienz gibt (McCartney, 2020). So gibt es zum Beispiel fast anderthalb Jahre nach Beginn der Pandemie immer noch wenig Belege für die Wirksamkeit des Tragens von Gesichtsmasken im öffentlichen Bereich (Chou et al., 2021). Während einige Studien zeigen, dass die Massnahmen zum Verbleib zu Hause die Virusübertragung verringert haben, zeigen andere, dass sie keinen Einfluss auf die Gesamtsterblichkeit hatten (Agrawal et al., 2021).

In jedem Fall müssen nicht-pharmazeutische Massnahmen in einem angemessenen Verhältnis zu den allgemeinen Gesundheitsbedürfnissen stehen und so ausgewählt werden, dass sie den Besonderheiten des lokalen Kontexts und den vorhandenen Alternativen Rechnung tragen, während sie gleichzeitig darauf abzielen, den erwarteten Nutzen für die allgemeine Gesundheit zu maximieren und die Kollateralschäden zu minimieren.

Unter diesem Gesichtspunkt gehören zu den wirksamsten Massnahmen wahrscheinlich die Begrenzung von Massenansammlungen, die Förderung von Aktivitäten im Freien, wo die Übertragung sehr gering ist (Bulfone et al., 2021), die Umsetzung von «Sentinel-Überwachung» [aktives, auf freiwilliger Mitarbeit der beteiligten Akteure aufbauendes Werkzeug der Überwachung] und intelligenten Testverfahren (Flandre et al., 2021) sowie die Belüftung öffentlicher Innenräume (Bazant und Bush, 2021).

Was den politischen Bereich betrifft, so müssen gesundheitspolitische Massnahmen auf transparente Weise und in Zusammenarbeit mit allen relevanten Disziplinen und Interessengruppen, einschliesslich der Bevölkerung und der Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen, beschlossen und konzipiert und regelmässig bewertet werden, um eine kontinuierliche Anpassung und Verbesserung zu gewährleisten (Paul et al., 2020a).

Darüber hinaus muss ein normativer Wandel in der Art und Weise stattfinden, wie wir über Prävention und Vorsorge denken, insbesondere hin zu einer Denkweise, die eine langfristige präventive Gesundheitsversorgung als Investition und nicht als Kostenfaktor begreift.

Schliesslich ist es von entscheidender Bedeutung, über unser derzeitiges Verständnis von Gesundheitssicherheit hinauszugehen, das traditionell Überwachung, Exzeptionalismus, «Gegenmassnahmen» und ein übermässiges Vertrauen in die Entdeckung von Impfstoffen begünstigt, was häufig auf Kosten der Routinegesundheit geht. Als Alternative dazu muss die Verbindung zwischen der Stärkung der Gesundheitssysteme und der Gesundheitssicherheit deutlicher zum Ausdruck gebracht werden, und zwar mit besseren Mehrebenen-Governance-Mechanismen zur Koordinierung der Bemühungen unter Einbezug der kommunalen, nationalen, regionalen und globalen Ebene (Weltgesundheitsorganisation, 2021). Andernfalls werden die politischen Lehren aus COVID-19 ignoriert, und wir werden der nächsten Pandemie wieder so gegenüberstehen, als wäre sie eine unerwartete und aussergewöhnliche Krankheit.

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

Danksagung

Die Autoren danken Wim Van Damme für seinen Kommentar zu einer früheren Version dieses Papiers.
Erklärung zu den Interessen: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Ethische Genehmigung: Diese war für dieses Perspektivpapier nicht erforderlich.
Finanzierung: Es wurden keine spezifischen Fördermittel in Anspruch genommen. Alle Autoren sind unabhängig von Geldgebern.

Literaturangaben

Die im Text in Klammern aufgeführten Literaturangaben sind im Originalartikel aufrufbar: COVID-19: an ‘extraterrestrial’ disease?
https://www.ijidonline.com/article/S1201-9712(21)00609-3/fulltext#relatedArticles

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Quelle: https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-gesellchaft/covid-19-eine-ausserirdische-krankheit.html

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