Bhadrakumar: Russlands Lektionen in Demokratie
Der russische Präsident Wladimir Putin (R) gratuliert dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Russlands, Gennadi Sjuganow, zu seinem 80. Geburtstag, als er den Titel Held der Arbeit erhält, Moskau, 26. Juni 2024
Vor kurzem wurden wir Zeuge des erbärmlichen Anblicks, dass selbst nach sieben Jahrzehnten [indischer] Unabhängigkeit und Erfahrung als Demokratie, in der sich Hunderte von Millionen Menschen wirklich mündig fühlen, die politische Elite sich während des Wahlzyklus auf infantile Weise verhalten kann.
Aber so war es früher nicht. Mein verstorbener Vater erinnerte sich daran, wie Pundit Nehru als Premierminister auf die kommunistischen Abgeordneten in der Central Hall zuging, um mit ihnen zu plaudern. Das war in den 1950er und 1960er Jahren, als mein Vater Mitglied der Lok Sabha war.
Diese Erinnerung kam in mir hoch, als ich in der russischen Presse las über die außergewöhnliche Geste von Präsident Wladimir Putin gegenüber dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Russlands, Gennadi Sjuganow, anlässlich seines 80. Geburtstages am 26. Juni.
Putin ehrte Sjuganow durch die Unterzeichnung eines Präsidialerlasses, mit dem dem ehrwürdigen kommunistischen Führer der Titel Held der Arbeit der Russischen Föderation verliehen wurde.
In dem Erlass heißt es, dass die Auszeichnung "für seinen herausragenden Beitrag zur Entwicklung des russischen Staates und der Zivilgesellschaft sowie für sein langjähriges fruchtbares Wirken" verliehen wird. Im Anschluss daran übermittelte Putin Sjuganow eine persönliche Glückwunschbotschaft, die teilweise wie folgt lautet:
"Sie sind als erfahrener Politiker und als ehrlicher und prinzipientreuer Mensch bekannt, der sich für die Interessen des Vaterlandes einsetzt.
Sie sind nach wie vor in das öffentliche Leben des Landes eingebunden und bemühen sich um die Wahrung der Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit, leisten einen wichtigen Beitrag zur Gesetzgebungsarbeit und zum russischen Parlamentarismus und befassen sich mit Fragen von nationaler Bedeutung. Insbesondere möchte ich Ihre Bemühungen um die Verbesserung des Wohlergehens der Menschen und die Stärkung der Souveränität und der internationalen Position unseres Landes würdigen. Diese vielseitigen und dringend notwendigen Aktivitäten verdienen großen Respekt.
Ich wünsche Ihnen gute Gesundheit, viel Erfolg bei der Umsetzung Ihrer Pläne und alles Gute.
Nehmen Sie noch einmal meine herzlichen Glückwünsche zur Verleihung des hohen Titels "Held der Arbeit der Russischen Föderation" entgegen."
Später empfing Putin Sjuganow im Kreml. Der Präsident dankte dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation für seine langjährigen Verdienste um das Vaterland und wies darauf hin, dass seine Partei stets für patriotische Positionen eingetreten sei. [Hervorhebung hinzugefügt von MKB]
Das waren sorgfältig gewählte Worte. In der Tat ist Sjuganow ein Mann mit starken Überzeugungen und hat nie gezögert, seine Positionen zu politischen Fragen in öffentlichen Äußerungen, in seinen Erklärungen im Präsidentschaftswahlkampf und in seinem Abstimmungsverhalten zu artikulieren. Seine Liebe zum Vaterland stand jedoch nie in Frage.
Oft genug war er mit Putin nicht einer Meinung. Doch dieser nahm es sich nie zu Herzen. In den 1980er Jahren kritisierte Sjuganow, der Mitglied der KPdSU war, sogar das Reformprogramm von Generalsekretär Michail Gorbatschow, "Glasnost" und "Perestroika".
Es mag paradox erscheinen, aber gute Kommunisten sind in Wirklichkeit große Nationalisten. Sjuganow lehnte das Engagement des Westens in Syrien ab und unterstützte Russlands spezielle Militäroperationen in der Ukraine, wobei er die NATO beschuldigte, "die Ukraine versklaven" zu wollen, um "eine kritische Bedrohung für die Sicherheit Russlands" zu schaffen. Er schloss sich Putins Forderung nach einer "Entmilitarisierung und Entnazifizierung" der Ukraine an.
Sjuganow schrieb einmal in einem Gastbeitrag in der New York Times: "Wir würden die Macht des russischen Staates und seinen Status in der Welt wiederherstellen. Das würde seine Politik unvergleichlich berechenbarer und verantwortungsvoller machen, als sie es heute ist." Nun könnte man sagen, das ist ungeschminkter "Putinismus". Sjuganow glaubt, dass Russland die "einzigartige Rolle als Dreh- und Angelpunkt" Eurasiens innehat.
Es überrascht nicht, dass sich Sjuganow gegen die Privatisierung der staatlichen Industrien aussprach und versprach, die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft wiederherzustellen. In einer erfrischenden Abkehr vom sowjetischen Dogma machte er jedoch auch die Landwirtschaft zu einem Hauptthema der kommunistischen Partei, insbesondere die fehlende staatliche Unterstützung für ländliche Regionen.
Es ist Putins Verdienst, dass er keine Skrupel hatte, Anleihen bei Sjuganows Programm zu machen, und dass er sich mit ihm berät und seinen Rat annimmt, während er Russland ungeniert in Richtung eines kapitalistischen Landes steuert, das mit dem Sozialismus fertig ist.
Interessanterweise spricht sich Sjuganow auch dafür aus, dass Russland von Chinas erfolgreichem Beispiel lernen und den russischen Sozialismus aufbauen sollte. Er ermutigte einst Parteimitglieder, die ausgewählten Werke von Deng Xiaoping zu lesen. Und er gibt zu Protokoll, dass sich die Sowjetunion nicht aufgelöst hätte, wenn sein Land nur früher vom Erfolg Chinas gelernt hätte.
Rückblickend betrachtet war Sjuganows Sternstunde Mitte der 1990er Jahre, als die russische Bevölkerung, erschöpft und desillusioniert von Boris Jelzins "shock and awe" bei dem Weg zum freien Markt und dem Kapitalismus, der das Leben großer Teile der an ein behütetes und berechenbares Leben gewöhnten Gesellschaft zerstörte, bei den Präsidentschaftswahlen 1996 in Scharen zur kommunistischen Partei strömte.
Tatsächlich wuchs Sjuganows politisches Gewicht so stark an, dass es fast so aussah, als würde Russland den Sozialismus zurückerobern. Zu diesem Zeitpunkt reiste Bill Clinton mit seinem "Man Friday"*, Strobe Albott, nach Moskau. Beunruhigt von dem, was sie sahen, kehrte Clinton nach Washington zurück und genehmigte einen Fahrplan, der einen Sieg Jelzins sicherstellen sollte, wobei er sogar den IWF einschaltete. Clinton setzte amerikanische Experten als Jelzins Wahlkampfmanager ein, die sich mit dem Zen demokratischer Wahlen auskannten. Der Rest ist Geschichte.
Doch Sjuganow zeigte nie Groll oder Bitterkeit. Eigentlich hatte er nie ein öffentliches Amt inne. Aber er kann mit Genugtuung darauf zurückblicken, dass er mit seinen 80 Jahren als die graue Eminenz der russischen Politik gilt, während Jelzins Ruf stark ramponiert ist.
Die große Frage ist: Was bedeutet Demokratie? Geht es darum, regelmäßig Wahlen abzuhalten? Ich war gerade eine Woche lang als Teil einer Beobachtergruppe im Iran, um die vorgezogene Wahl am Freitag zu beobachten. Was mich am meisten faszinierte, war die Liste der sechs Kandidaten, die vom Wächterrat sorgfältig auf der Grundlage des Engagements eines potenziellen Kandidaten für die nationale Ideologie und das Regierungssystem, das der Iran in seiner Weisheit nach der turbulenten islamischen Revolution von 1979 gewählt hat, erstellt wurde.
Das subtile Verfahren spiegelt vielleicht den "persisch-schiitischen Islam" wider, aber sobald die sechs Kandidaten (darunter ein Geistlicher) bekannt gegeben wurden, herrschten gleiche Bedingungen für alle. Etwa ein halbes Dutzend Fernsehdebatten wurden durchgeführt, um sicherzustellen, dass die Menschen die Kandidaten kennenlernen. Es ist eine Verdrehung der Wahrheit, dass bei den Wahlen im Iran angeblich nur Konformisten antreten dürften.
Es ist so gut wie unmöglich, maßgeschneiderte Präsidenten aufzustellen. Die Erfahrung zeigt, dass einige von ihnen, sobald sie in ein hohes Amt gewählt worden sind, dazu neigen, sich wie Thomas Becket zu verhalten, der, nachdem er Erzbischof von Canterbury geworden war, seine Aufgabe zu ernst nahm, als dass es König Heinrich II. gefallen hätte. Natürlich nehmen solche epischen Kämpfe nie ein glückliches Ende.
Das andere Extrem ist die bizarre Variante, die in den USA als "politischer Pluralismus" durchgeht. Der eine Kandidat ist 81 Jahre alt, der andere 78, und beide sind davon besessen, sich gegenseitig zu verleumden. Trumps bester Tipp ist, dass Biden "krumm und senil" aussieht, während letzterer behauptet, sein Gegner sei von Geburt an unehrlich.
Ein dritter Kandidat, Robert Kennedy Jr., ist zwar ein Mann der Ideen und des frischen Denkens – und wird gerade deshalb mit dem fadenscheinigen Argument, er sei ein "unabhängiger Kandidat", als unwürdig erachtet, an der nationalen Debatte teilzunehmen!
Das Ergebnis ist eine Reality-Show über den Bankrott des politischen Systems der USA. Ob Zufall oder nicht, Putin verlieh Sjuganow die nationale Auszeichnung am selben Tag, an dem sich Trump und Biden im Namen des demokratischen Pluralismus einen Schlagabtausch lieferten.
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* Ein "Man Friday" auf Deutsch ist ein "Freitag". Dieser Begriff stammt aus Daniel Defoes Roman "Robinson Crusoe", in dem Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel auf einen Eingeborenen trifft, den er "Freitag" nennt, weil er ihn an einem Freitag fand. Der Begriff wird im übertragenen Sinne für eine loyale, zuverlässige rechte Hand oder einen Assistenten verwendet, der vielfältige Aufgaben übernimmt.
Quelle: https://www.indianpunchline.com/russia-has-some-lessons-in-democracy/
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus
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