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Tschingis Aitmatow: Die Klage des Zugvogels und der Krieg unter Menschen

15. September 2013

Die Klage des Zugvogels und der Krieg unter Menschen

Auszug aus dem Buch «Die Klage des Zugvogels» von Tschingis Aitmatow

Aitmatow Zugvogel

"Die Klage des Zugvogels"

[...] In jener Nacht, als schon der Morgen graute, entschlief vor den Augen seines jüngsten Sohnes Eleman der grosse Jurtenbaumeister Sengirbai.

Die letzten Worte, die der Vater sagte, röchelnd, nach Luft ringend, mit schwerer Zunge, waren kaum noch zu verstehen. Aber Eleman, der sich zitternd über ihn geneigt hatte und bei der flackernden Flamme des offenen Feuers in den Zuckungen seiner erstarrenden Lippen las, erriet, was er sagen wollte. Zwei Wörter hatte er erhascht: «Was ... Taltschu.»

Da konnte er die Tränen der Verzweiflung nicht länger zurückhalten, ob er sich auch auf die Lippen biss, und er rief, laut aufschluchzend: «Nein, Vater, noch gibt es keine Kunde. Ich will dich nicht betrügen. Nichts wissen wir. Ich bin hier allein. Hörst du? Ich habe Angst. Stirb nicht, Vater, stirb nicht. Bald kommt Mutter zurück ...»

Erreichten die Worte den sterbenden Vater? Wer weiss es! Er verschied im selben Moment mit offenen Augen. Und als das geschehen war, als der Schatten des Todes das Antlitz des Vaters blitzartig fremd und schrecklich gemacht hatte, stürzte der Knabe entsetzt aus der Jurte, rannte er besinnungslos, voller Furcht davon. Schreiend und schluchzend lief er, ohne zu wissen, wohin; hinterdrein sprang, den Schwanz erschrocken eingeklemmt, der Jagdhund Utschar. Erst am tosenden Gestade des Sees kam Eleman zur Besinnung. Erstarrt blieb er stehen. Der ­Issyk-Kul wütete in jener Nacht, wogte und brodelte unter schäumenden Brechern. Doch von oben drangen ganz andere Laute an Elemans Ohr   – ein unaufhörliches Stimmengewirr. Er hob den Kopf, da war der grauende Himmel, so weit er sehen konnte, voller Vögel. In weiten Kreisen stiegen sie hoch über den See, um die Bergrücken zu überwinden. Noch ein letzter Kreis, dann formierten sie sich zu einem riesigen Strom, schwangen sich höher und höher und nahmen schliess­lich Kurs auf die Boom-Schlucht, über den Pass hinweg, in Richtung des Taltschu. Eleman begriff, dass sie einen weiten Flug vor sich hatten und für lange Zeit wegzogen, dass auf ihrem Weg in unbekannte ferne Gegenden das Tal des Taltschu lag; er nahm alle Kraft zusammen und schrie, so laut er konnte: «Unser Vater ist tot! Sagt es meinem Bruder Koitschuman   – unser Vater ist tot, tooot!»

Wir flogen lange über Berge dahin. An einem Pass trieb heftiger Wind schiefergraue Wolkenballen auf uns zu. Erst gerieten wir in Regen, dann schlug uns eisiger Schnee entgegen, und unsere durchnässten Federn begannen zu erstarren, schwerer und schwerer fiel uns das Fliegen. Unser Schwarm kehrte um, die anderen folgten uns, erneut kreisten wir schreiend über dem See, gewannen dabei noch mehr an Höhe und begaben uns erneut auf die Reise, diesmal hoch über den Bergen und über den Wolken. Als uns die Strahlen der Morgensonne einholten, hatten wir den Pass bereits überwunden, und unter uns dehnte sich weithin das Tal des Taltschu. O segenspendendes Tal, tief reicht es hinein in die grossen Steppen; so weit wir blicken konnten, war es von Sonnenlicht übergossen, schon grünte das Land, und die Bäume standen voller Knospen   – prall wie die Leiber trächtiger Stuten.

Silberglänzend schlängelte sich der Fluss Taltschu durchs Tal, und ebendiesen Fluss entlang führte uns die Reise. Mit sehnsüchtigen Rufen grüssten wir das Tal, und allmählich näherten wir uns wieder der Erde, denn vor uns, den Taltschu abwärts, auf weitem, schilfbewachsenem Schwemmland, harrte unser die erste Rast auf dem langen, ewig gleichen Weg der Vogelkarawanen. Hier wollten wir ausruhen, wollten Futter suchen, um danach die Reise mit neuer Kraft fortzusetzen. Doch diesmal verwehrte uns das Schicksal den gewohnten Rastplatz.

Mit Flügeln und Schwanzfedern den Flug drosselnd, näherten sich unsere Schwärme der vertrauten Flussniederung, da erblickten wir unter uns jäh ein menschliches Schlachtfeld. Es war ein schreckliches Schauspiel. Zahllose Menschen, Tausende und Abertausende, beritten und zu Fuss, waren hier, auf unserem Schwemmland, aneinandergeraten. Die Luft war erfüllt von Getöse und Gebrüll, von Winseln und Stöhnen, von Wiehern und Schnauben. So weit wir sehen konnten, vernichteten die Menschen einander in blutiger Schlacht. Bald stürmten sie in grossen Scharen, unter furchterregenden Schreien und mit gefällten Lanzen aufeinander los, stiessen sich gegenseitig zu Boden, zerstampften die Gestürzten mit den Hufen der Pferde, bald wieder liefen sie auseinander; und wo die einen flohen, setzten ihnen die anderen nach. Manche kämpften im Schilf mit Messern und Säbeln, schnitten einander die Kehlen durch, schlitzten Bäuche auf. Menschen- und Pferdeleichen türmten sich, viele Erschlagene lagen im Wasser, auf überschwemmtem Grund, behinderten die Strömung, und das Wasser, bedeckt mit Blasen und von dunklem Blutschleim durchzogen, rann nach allen Seiten, wurde unter den Hufen der Pferde zu blutigem Brei.

Unsere Schwärme stockten ratlos, ein Höllenlärm erhob sich in den Lüften, unsere Reihen gerieten durcheinander, und so kreisten wir nun am Himmel   – eine brodelnde Wolke verschreckter Vögel. Lange konnten wir uns nicht fassen, lange flogen wir über den unglücklichen Menschen, die einander töteten, lange sammelten wir unsere Scharen, lange fanden wir keine Ruhe. Es gelang uns nicht, dort Rast zu machen, wir mussten diesen verfluchten Ort verlassen und weiterfliegen.
Verzeiht, ihr Zugvögel! Verzeiht, was war, verzeiht, was noch kommen wird. Ich kann euch nicht erklären, und ihr werdet nie verstehen, warum das menschliche Leben so eingerichtet ist, warum auf Erden so viele getötet wurden und weiterhin getötet werden. Verzeiht um Gottes Willen, verzeiht, ihr Vögel am Himmel, die ihr in klarer Weite eure Bahn zieht […] Nach der Schlacht prassten dort die Aasgeier, schlugen sich die Wänste voll bis zum Erbrechen, bis sie keinen Flügel mehr bewegen konnten. Schakale frassen bis zum Umfallen, bis sie kaum noch kriechen konnten. Fliegt, fliegt weit weg von dieser grausigen Gegend!

So ist es seit Urbeginn: Sobald ihre Zeit gekommen ist, nicht früher und nicht später, begeben sich die Vögel auf die weite Reise. Sie fliegen unbedingt, unwandelbar, auf immer denselben Wegen, die nur sie kennen, fliegen vom einen bis ans andere Ende der Welt. Sie fliegen durch Gewitter und Sturm, bei Tag und bei Nacht, unermüdlich schlagen sie mit den Flügeln, sie schlafen sogar im Flug. So will es die Natur. Nach dem Norden, zu den grossen Strömen fliegt die gefiederte Schar, um auf angestammten Nistplätzen die nächste Brut aufzuziehen. Im Herbst aber brechen sie samt ihrer inzwischen gekräftigten Nachkommenschaft gen Süden auf, und so geht es ohne Ende.

Nun fliegen wir schon viele, viele Tage. In dieser unirdischen, eisigen Höhe tost der Wind gleich einem endlosen Strom, oder ist es die Zeit selbst, die im unermesslichen All unsichtbar dahinströmt, wer weiss, wohin?

Unsere Hälse gleichen Pfeilen, unsere Körper aber gleichen Herzen, angestrengten und unermüdlichen Herzen. Noch lange müssen wir fliegen   – Flügelschlag um Flügelschlag.

Wir fliegen, schwingen uns höher und höher. So hoch, dass die Berge flach werden, dann gänzlich verschwinden und die Erde, immer weiter entfernt, ihre Umrisse verliert: Wo ist da noch Asien, wo Europa? Wo sind die Ozeane, wo die Kontinente? Öde und leer ist alles ringsum   – nur unsere Erdkugel wiegt sich sacht, zieht durchs endlose All wie ein Kameljunges, das sich in der Steppe verirrt hat und die Mutter sucht. Wo aber ist sie, die Kamelmutter   – wo ist die Mutter der Erde? Kein Laut! Nur der Höhenwind tost, und die Erde, nicht grösser als eine Faust, wiegt sich und zieht durchs All. Wie der Kopf eines verwaisten Kindes wiegt sie sich   – so schutzlos, so verletzlich. Findet auf ihr wirklich so viel Gutes Platz, werden auf ihr wirklich so viele Übeltaten verziehn? Nein, ihr dürft nicht verzeihn, ich bitte euch, tut es nicht   – ihr, die ihr dem Feuer gebietet, die ihr die Welt erkennt, die ihr des Schicksals Lauf lenkt.

Nur ein Vogel bin ich in diesem fliegenden Schwarm. Ich fliege mit den Kranichen und bin selbst ein Kranich. Auch ich orientiere mich nachts nach den Sternen, tags nach den Fluren und Städten. Und ich mache mir meine Gedanken.

Ich fliege und weine,
fliege und weine,
fliege und weine.
Ich beschwöre Menschen und Götter:
Bedenkt, was ihr tut,
dass ihr unbedacht nicht die Erde vernichtet!
Gewiss doch, ihr Menschen:
Wenn Kranichtränen euch netzen   –
was kümmert es euch? Wischt sie weg!
Und dennoch, ja, dennoch:
Behüt euch der Himmel
vor Leid, das kein Mensch mehr erträgt,
vor Feuersbrünsten, die keiner mehr löscht,
vor blutigen Kriegen, die keiner aufhält,
vor Taten, die keiner mehr gutmacht.
Behüt euch der Himmel
vor Leid, das kein Mensch mehr erträgt.

Der Schwarm entschwindet in der Ferne dem Blick. Nicht mehr auszumachen sind die Flügelschläge. Eben noch wirkte der Vogelzug wie ein Pünktchen am Himmel, nun hat auch das sich verloren.

Doch die Zeit geht ins Land: Wieder ist Frühling, und wieder ertönen Kranichschreie hoch droben […]

Quelle: Tschingis Aitmatow. Die Klage des Zugvogels. Frühe Erzählungen. Zürich 1993, S. 20  –25

Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1569