Skip to main content

Prinzip Menschlichkeit  – Warum wir von Natur aus kooperieren

01. März 2013

Buchempfehlung Prinzip Menschlichkeit

von Prof. Dr. Joachim Bauer

Rezension von Dr. Anita Schächter, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin

Joachim Bauer, Professor für innere Medizin und für Psychiatrie an der Abteilung für Psychosomatische Medizin in Freiburg, schaut in seinem neuesten Buch weit über den Tellerrand seiner Disziplin hinaus.

Beim Lesen des Buches ruft der Autor mit seinem Denken und mit seinen Aussagen Herzklopfen hervor. «Grossartig!» geht es einem unwillkürlich durch den Kopf: Hier gibt einer Beispiel, wie man exakt, kleinschrittig und für jeden verstehbar von seiner Fachdisziplin aus in das gesellschaftliche, historische und politische Feld hineindenken kann. Ja, er macht geradezu vor, wie man sich dieser Verantwortung als Wissenschafter und als Bürger stellen kann und stellen muss.

In liebevoller Arbeit sichtet er zahlreiche aktuelle Studien, die bis ins laufende Jahr in Fachjournalen publiziert wurden. Aus ihnen leitet er folgende Kernaussage ab: Der Mensch ist ein Beziehungswesen, dessen Natur auf Kooperation und mitmenschliche Nähe ausgerichtet ist. Diese zu suchen und auszugestalten ist seine neurophysiologische Bestimmung, einfacher gesagt, seine Natur.

Beim Sichten der Fachjournale wertete Bauer die Ergebnisse jener publizierten Studien aus, in denen das Neurotransmittergeschehen der drei Botenstoffe Dopamin, Endorphin und Oxytozin untersucht wurden.

Werden diese Botenstoffe auf der Neurotransmitterebene freigesetzt, bewirken sie, dass der Mensch sich wohl fühlt. Die neurobiologischen Regionen, in denen Dopamin, endogene Opioide und Oxytozin freigesetzt werden, sind untereinander verschaltet und können als «Motivationssystem» unseres Gehirns bezeichnet werden.

Kern aller Motivation

Weil die Freisetzung der drei Botenstoffe zur Folge haben, dass der Mensch sich gut fühlt, sucht der Mensch jene Situationen herzustellen, die mit der Freisetzung einhergehen. Welche Situationen dies sind? Die Antwort auf die Frage ist einfach, sie konnte aus den diesbezüglichen neurobiologischen Studien klar zusammengefasst werden und «verblüffte selbst die Fachwelt: Das natürliche Ziel der Motivationssysteme sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen, wobei dies nicht nur persönliche Beziehungen betrifft, Zärtlichkeit und Liebe eingeschlossen, sondern alle Formen sozialen Zusammenwirkens. Für den Menschen bedeutet dies: Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben. Wir sind   – aus neurobiologischer Sicht   – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen.» (S. 34)

Der Mensch ist dem Menschen kein Feind

Bauer denkt dieses Ergebnis nun weiter auf das Menschenbild und die gesellschaftspolitische Situation. Er räumt in aller Deutlichkeit mit der unsinnigen Aussage der Sozialdarwinisten auf, die den Krieg der Natur (war of nature) und den Kampf ums Überleben (struggle for live) als Triebfeder der Entwicklung der Arten proklamieren. Dieses irrtümliche Menschenbild hat bis in unser Jahrtausend hinein fatale Auswirkungen auf Ethik, Moral und das Zusammenleben der Menschen. Es wurde von Faschisten zur Begründung ihrer Gewaltherrschaft und zur Legitimierung von Kriegen und Aggressionen herangezogen.

Heute ist diese Theorie schon wieder aktuell:

«Einige grosse Länder haben den Darwinismus   – ohne es ausdrücklich zu formulieren   – gleichsam zum Staatsziel erhoben. Computer-Übungsspiele, die einst in den Armeen dieser Länder entwickelt wurden, um Soldaten ans Töten zu gewöhnen, überschwemmen heute als ‹Ego-Shooter-Spiele›   – auch ‹Killerspiele› genannt   – weltweit den Markt für Kinder und Jugendliche. Hier gilt wieder, was bei uns in den Jahrzehnten vor 1933 und erst recht in den Jahren danach gelehrt wurde: ‹Leben heisst kämpfen.› Was Jugendliche, die sich teilweise viele Stunden am Tag   – und dies über Jahre hinweg   – solchen Spielen hingeben, dabei lernen, wird in ihren Köpfen nicht nur zu einem neurobiologischen Skript. Es erzeugt Handlungsbereitschaften, die in Situationen der Bedrängnis möglicherweise auch abgerufen werden.»

(S. 199  –200)

Aggressionen sind Folge von Fehlentwicklung

Aggressionen stellen laut Bauers Auswertungen kein Entwicklungspotential dar, sie stehen vielmehr im Dienst sozialer Beziehungen und kommen dann auf, wenn Menschen ihre Sicherheit, ihre Bindungssicherheit, bedroht sehen.

Problematische Lebenserfahrungen und Lernmodelle (Medienkonsum) begünstigen solche aggressiven Verhaltensweisen besonders dann, wenn Menschen über zu wenig Bindungssicherheit verfügen. (Hier stellt sich die Frage, ob soziale Entwurzelung, die mit der Globalisierung gefördert wird, zu diesem Zweck gewollt oder zumindest willkommen ist.)

Wir brauchen einen Dialog über das Gesicht unserer Gesellschaft

Bauer formuliert ein deutliches Plädoyer für eine menschenwürdige Gesellschaft. Diese erfordert den Dialog, um zu erarbeiten, wie das menschliche Gesicht einer Gesellschaft, unserer Gesellschaft auszusehen hat:

«Dieser Dialog kann jedoch nicht beliebig sein, sondern muss Kooperation als zentrales Element einer gesellschaftlichen Wertordnung verankern. Eine auf Kooperation aufgebaute Ordnung muss die Freiheit des Einzelnen bewahren, sie muss Kreativität und Produktivität nicht nur zulassen, sondern fördern. Sie muss wirtschaftlich funktionieren, dass heisst ihre Ausgaben erwirtschaften. Sie muss Bildung und professionelle Kompetenzen fördern. Sie muss die Schwachen schützen und unterstützen, gleichzeitig aber über Regeln und Sanktionen verfügen, die sicherstellen, dass Vorzüge, die sich aus kooperativen Strukturen ergeben, gegen Missbrauch und Ausbeutung wirksam geschützt werden. Oberste Maxime muss jedoch sein, dass Kooperation und Menschlichkeit vor maximaler Rentabilität rangieren.»

(S. 202  –203)

Persönliche Bindungen sind durch nichts zu ersetzen

Bauer denkt das Ergebnis auch auf die Pädagogik weiter: Hier muss die Beziehung als Wirkmoment reflektiert werden:

«Kinder brauchen Bezugspersonen, die sie mögen, die sie erziehen. Bezugspersonen stehen aber oft nicht ausreichend zur Verfügung, dies betrifft insbesondere die Väter.»

(S. 210)

Persönliche Bindungen sind für ein Kind durch nichts zu ersetzen.

«Es geht in der Erziehung darum, Kinder Rücksichtnahme und Toleranz zu lehren und ihnen vorzuleben   – und ihnen zu zeigen, dass dies Erfolgsstrategien sind, die zu intensivem Gemeinschaftsleben und Glück führen.Es ist evident, dass ein solcher Erziehungsprozess nicht allein über Anordnungen und Vorschriften gelingen kann. Vielmehr setzt Erziehung voraus, dass mit dem Kind von Seiten der Eltern, der Verwandten und der Pädagogen Beziehungen gestaltet werden. […] Kinder, die sich selbst, der Wohlstandsverwahrlosung oder täglich einem mehrstündigen Medienkonsum überlassen werden, können solche Regeln nicht lernen.»

(S. 214 f.)

Bauer schliesst mit den Worten:

«Wir haben heute die Möglichkeit, uns aus dem Albtraum des Darwinismus und der Soziobiologie zu befreien. Die Alternative heisst Kooperation. Das Ergebnis gelingender Kooperation hiesse: Menschlichkeit.»

(S. 223)

Das menschliche Prinzip einfordern

Joachim Bauers Buch zu lesen ist ein Vergnügen. Die Botschaft verleiht Schwung, nein, mehr: Flügel. Wir geben nicht auf, der menschlichen Natur Nachdruck zu verschaffen, ihr zur Blüte zu verhelfen und sie zum Wohl des Einzelnen und zum Wohl aller zu entfalten.

An diesem Buch darf kein Elternteil, kein Lehrer, kein Arzt, kein Jurist, kein Psychologe, kein Soziologe, kein Philosoph, keine Erzieherin, kein Pfarrer, kein Politiker, kein Wirtschaftswissenschaftler, kein Manager, keiner darf daran vorbeigehen. Es ist ein Muss für jeden, denn die scientific community und die Gesellschaft wissen heute, was das menschliche Prinzip ausmacht und wo die Trennlinie zur Unmenschlichkeit, zur Barbarei verläuft. Dieses menschliche Prinzip einzufordern ist Bürgerpflicht.

Joachim Bauer, «Prinzip Menschlichkeit   – warum wir von Natur aus kooperieren», Hoffmann und Campe, 2006, ISBN 3-455-50017-X