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Die Wahrheit über Semmelweis, Georg Silló-Seidl

Das Wirken des großen Arzt-Forschers und sein tragischer Tod im Licht neu entdeckter Dokumente.

publiziert: 16. Mai 2013

Semmelweis Buch
"Die Wahrheit über Semmelweis. Georg Silló-Seidl"

Ignaz Philipp Semmelweis

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Ignaz Philipp Semmelweis (ungarisch: Semmelweis Ignác Fülöp[1]; * 1. Juli 1818 in Ofen   – deutscher Name des Stadtteils Buda, Teilbezirk Tabán   – im heutigen Budapest; † 13. August 1865 in Oberdöbling bei Wien) war ein ungarischer Arzt im damaligen Österreich-Ungarn. Er studierte an den Universitäten Pest und Wien Medizin und erhielt 1844 seinen Doktorgrad an der Universität Wien.

Semmelweis führte unterschiedlich starkes Auftreten von Kindbettfieber auf mangelnde Hygiene bei Ärzten und Krankenhauspersonal zurück und bemühte sich, Hygienevorschriften einzuführen. Seine Studie von 1847/48 gilt heute als erster praktischer Fall von evidenzbasierter Medizin in Österreich. Zu seinen Lebzeiten wurden seine Erkenntnisse nicht anerkannt und insbesondere von positivistisch eingestellten Kritikern und Kollegen als „spekulativer Unfug“ abgelehnt. Nur wenige Ärzte unterstützten ihn, da Hygiene als Zeitverschwendung und unvereinbar mit den damals geltenden Theorien über Krankheitsursachen angesehen wurde. Semmelweis praktizierte teilweise in Ungarn und starb nach seiner Rückkehr nach Wien in geistiger Umnachtung.

Der Begriff „Semmelweis-Reflex“, demzufolge Innovationen in der Wissenschaft eher eine Bestrafung als eine entsprechende Honorierung zur Folge haben, weil etablierte Paradigmen und Verhaltensmuster entgegenstehen, wurde von Robert Anton Wilson geprägt und nach Semmelweis benannt.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Ignaz_Semmelweis

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Am Schluss des Buches schreibt der Autor Dr. Georg Silló-Seidl

Die Wahrheit   – Dokumente eines tragischen Todes

Die hier veröffentlichten, bisher unbekannten Dokumente verhalfen zu der Lösung der Rätsel um die Krankheitsumstände und die Ursache des Todes von Ignaz Semmelweis.

Will man das Verhalten eines Menschen beurteilen, dann sollte man zwei Gesichtspunkte im Auge behalten: In welchem Zeitalter lebte die zu untersuchende Person, was waren die allgemeinen Sitten und Gebräuche jener Zeit, und wer waren diejenigen, welche die anderen beurteilten und die Zeitgeschichte entweder im allgemeinen oder speziell in dem fraglichen Fall beeinflußten?

Das Ungarn von Semmelweis war ein Land der Autorität. In der Familie herrschte das Patriarchat. Das Wort des Familienvaters, des Ehemannes, des Vorgesetzten hatte entscheidendes Gewicht. Wenn den Herren etwas nicht gefiel, wurde geschrien und, wenn es beliebte, Gewalt und körperliche Züchtigung angewandt. Angehörige und Untergebene duldeten diese Behandlung. War kein Fremder dabei, brauchte man sich unter Gleichrangigen keinen Zwang anzutun. Der Hausherr konnte seinem Ärger freien Lauf lassen. Seine Empörung schien immer berechtigt, und ihr Ausdruck wurde keineswegs für ungewöhnlich oder gar pathologisch gehalten.

Wären wir heute Zeugen derartiger Szenen, würden wir einen solchen tobenden, um sich schlagenden Menschen für verrückt erklären. Zu Unrecht allerdings. Weil solche Menschen nämlich sich fast immer bald nach ihrem Ausbruch wieder beruhigen und in den nächsten Minuten meist vergessen haben, warum sie überhaupt die Szene gemacht hatten. Bókai bezeugte es selbst: Wenn sich Semmelweis mit jemandem in die Haare geraten war, umarmte und küßte er ihn in der nächsten Minute. Dieses Verhalten war für jene Zeit durchaus typisch und hat mit den Kriterien des Irrsinns nichts zu tun.

Selbstverständlich kann man so ein Benehmen auch von einer anderen Seite betrachten. Das ist eine Anschauungsfrage. Da muß ich noch einmal auf die spezielle Mentalität der meisten Ärzte zurückkommen: Kaum ein Arzt traut sich, einem Patienten Gesundheit zu attestieren; irgend etwas findet man meistens. Ein Geschäftsmann möchte schließlich verkaufen. Wenn ein Arzt alle Patienten, die er für gesund hält, für gesund erklären würde, hätte er bald keine Patienten mehr. Ein Arzt, der lange im Beruf steht, entwöhnt sich vom Gesunden. Normen gibt es nicht. Wenn ein Arzt einen Gesunden als krank bezeichnet, trifft ihn nach außen keine Verantwortung. Er kann jederzeit eine Begründung für seine Diagnose finden   – notfalls: „In jenem Moment sah es so aus", und „jenen" Moment kann niemand kontrollieren. Der Arzt ist demnach unkontrollierbar.

Semmelweis wurde in eine Irrenanstalt eingewiesen. Die einweisenden Ärzte hielten ihn für verrückt. Niemand kann ihnen Eigennützigkeit oder gar Bösartigkeit nachweisen. Geschickt handelten sie an der Grenze des Erlaubten. Keine Diagnose, nur eine allgemeine Beschreibung. Sie legten sich nicht fest, die kleine Hintertür blieb offen, falls sie sich später die Hände in Unschuld waschen müßten. Wenn die Heilanstalt Semmelweis aufnahm, war es von ihr zu verantworten. Die verantwortlichen Psychiater hätten den Irrtum erkennen müssen. Die Professoren schoben die Verantwortung der Anstalt in die Schuhe, und kaum jemand getraute sich noch zu sagen, die einweisenden Professoren hätten sich „geirrt". Die Anstalt deckte die Professoren, welche ihrerseits der Anstalt nicht die nachlässige Behandlung vorwarfen. Eine Krähe kratzt der anderen kein Auge aus. Alle Parteien schwiegen.

Mit der Zeit geriet Semmelweis immer mehr in Vergessenheit. Langsam setzte man die bloße Tatsache, daß er in einer Heilanstalt gestorben ist, mit seinem Irresein gleich. Niemandem fiel es ein, an der offiziellen Version zu rütteln. Wenn die zuständigen Psychiater, welche das eigene Fach nicht ins Zwielicht bringen wollten, es nicht taten, wie konnte sich dann ein Fachfremder an die Sache wagen? Den hätte man damit mundtot gemacht, er verstünde nichts von seelischen Erkrankungen.

Warum ich mich dennoch daran gewagt habe, ergibt sich aus der Einleitung dieses Buches (und dem Nachwort). Als ich dann die Krankengeschichte und die anderen Unterlagen tatsächlich vorfand, fühlte ich mich verpflichtet, die tragischen Umstände, die den Tod des Menschen herbeiführten, der selbst das Leben unzähliger Menschen gerettet hat, neu aufzurollen.

Wenn einzelne Medizinhistoriker das trotzdem ablehnen und die eigenen Irrtümer nicht einsehen wollen, ist das ihre Sache, und die Geschichte wird über sie urteilen. Mir ist zu Ohren gekommen, daß einige von ihnen der Meinung sind, diese gegen so viele Widerstände ausgegrabenen Unterlagen hätten nichts Neues zur Erkrankung von Semmelweis beigetragen. Der Leser mag beurteilen, ob das der Wahrheit entspricht. Stimmte das, so wäre es übrigens völlig unverständlich, weshalb die Wiener Behörden die Unterlagen so lange beharrlich der Öffentlichkeit vorenthalten haben.

Meiner Überzeugung nach haben sich die Wiener Amtsstellen früher ganz bewußt so zurückhaltend gezeigt. Und sicherlich wird irgendwann einmal auch noch die Anweisung ans Tageslicht befördert werden, welche die Einzelheiten darüber enthält, warum sie die Unterlagen nicht hatten herausgeben wollen.

Vielleicht klärt sich auch noch, weshalb Frau Semmelweis niemals ihren Mann in der Anstalt besuchte und warum kein Geistlicher zu Semmelweis vorgelassen wurde. An den heute feststehenden Tatsachen wird dies nichts ändern, es wird sie höchstens ergänzen.

Semmelweis ist von Tragik umhüllt. Aber ein tragischer Held war er zu Lebzeiten nicht, tragisch waren die Umstände seines Todes. In seinem Leben erreichte er, was er wollte: Die Dozentur in Wien ohne eine ärztliche Stellung, die Professur in Pest ohne die Zustimmung seiner Kollegen und den unbezweifelbaren Sieg seiner Lehre.

Er kämpfte spät, dann aber verbissen und schonte niemanden, weder Freunde noch berühmte Professoren, wenn es um die Durchsetzung seiner Thesen ging. Wie jedes Genie überschritt er mit seinen Entdeckungen den Horizont seiner Zeitgenossen. In ihren Augen bewegte sich Semmelweis auf dem Gratweg seines Entdeckerwahns und der Verunglimpfung seiner Standeskollegen. Und kleine Geister stürzten ihn in den Abgrund. So wurde er   – der er kein Irrer war   – das Opfer seines von der Umwelt nicht verstandenen Geistes, ein Opfer medizinischer Mißdeutungen und (unbeabsichtigter) Mißhandlungen. Semmelweis, der als Forscher und Arzt so vielen Menschen das Leben rettete, konnte sein eigenes nicht vor den Kollegen retten.
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Nachwort des Verfassers

Im Jahre 1973 hatte ich mir während einer Operation eine Fingerverletzung zugezogen. Der Patient litt an einer infektiösen Leberentzündung, wovon ich aber erst erfuhr, als ich selbst erkrankte. Aus dieser Erkrankung entwickelte sich bei mir binnen zwei Jahren ein Zustand, der mich zwang, meine Praxis aufzugeben. Dann stellte sich eine plötzliche Blutung ein, die nur mit einer Operation behoben werden konnte. Aus medizinischen Gründen glaubte ich nicht an den Erfolg einer Operation und schloß das Buch, das man Leben nennt.

Meine Frau jedoch zeigte sich mit meiner Auffassung nicht einverstanden. Sie veranlaßte, daß ich operiert wurde. Nachher, an den Schreibtisch gefesselt, doch auf Arbeit ausgerichtet, fing ich an, mich mit Medizingeschichte zu beschäftigen.

Daß es mir gelungen ist, die unbekannten Unterlagen über die Krankheit und den Tod des großen Arztes ans Tageslicht zu fördern und dadurch die Tragik seiner Geschichte zu enthüllen, ist somit allein meiner Frau zu verdanken.

Deshalb widme ich diese Schrift ihr.

Frankfurt a. M., den 7. Juli 1977