Der Mensch im Lichte der modernen Psychologie
Der Mensch des Mittelalters lebte noch in einer magischen Welt; wenn er vor die Natur hintrat, fand er sich einer gleichsam lebendigen Wesenheit gegenüber, die ihm unverständlich, unberechenbar und geheimnisvoll erschien. Die Naturvorgänge schienen übernatürlichen Gewalten unterworfen, deren Eingreifen willkürlich war und sich demgemäß menschlichem Ermessen entzog. Immer und überall konnten «Wunder» den gewohnten Verlauf der Ereignisse durchbrechen und den bekannten Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen aufheben.
Deshalb war der Mensch trotz werktätiger Bemühung ständig darauf angewiesen, sich die Gunst der Gottheit zu sichern, deren Walten Natur und Menschenschicksal im wesentlichen bestimmte.
Durch Bitte und Gebet suchte er sich in Einklang mit den übernatürlichen Instanzen zu bringen; die Magie, Abkömmling primitiver Kulturepochen, wurde zu einem Quietiv seines durch Furcht und Hoffnung entwurzelten Denkens: Mit Hilfe von phantastischen und fiktiven Maßnahmen glaubten die Menschen, den realen Gefahren ihres Lebens begegnen zu können; noch waren sie angesichts der Unbegreiflichkeit der Welt eingeschüchtert genug, der Natur gegenüber in einer Haltung der Demut zu verharren, um dadurch die Gutgesinntheit der «Über-Natur» zu gewinnen.
Mit dem Anbruch der Neuzeit besann sich der Mensch auf sich selbst und ging mit neuem Mut daran, seine Stellung im Weltganzen zu erkennen und zu gestalten. Die Entdeckung des antiken Geisteserbes eröffnete die Ära der wissenschaftlichen Forschung. Früher hatte man gedacht, daß die Wahrheit bereits gefunden wäre: sie war in der göttlichen Offenbarung gegeben, in dem einen und einzigen Buch, in dem die Gottheit selber zu den Menschen sprach. Nur die Vermessenheit suchte noch weiter in der Erkenntnis vorzudringen; die menschliche Wißbegierde, die einen tieferen Einblick in den Naturzusammenhang erstrebte, erschien dem Mittelalter zunächst als sündhaft und verwerflich.
Die alte Welt war begrenzt durch das Himmelszelt, das die Fixsterne trug. Auf diesem um 1530 entstandenen anonymen Holzschnitt durchbricht der Mensch das ummauerte Universum. Es eröffnen sich ihm neue Welten, die Neuzeit bricht an.
Die Forschung beginnt
Und doch war es nicht zu verhindern, daß die Autorität der Bibel — der einzigen Quelle der Weisheit — mehr und mehr in den Hintergrund trat und die Forscher begannen, die Natur selber zu befragen. Sie fingen an, im großen Buche der Natur zu lesen, das, wie Galilei sagte, in Quadraten, Triangeln und Kreisen geschrieben ist; und indem sie auf Beobachtung und Erfahrung aufbauten und mittels ihrer ersten und unbeholfenen Experimente gesichertes Wissen erwarben, schufen sie die Grundlagen der neuzeitlichen Wissenschaft.
Vorerst waren es kühne Einzelne, die der Forschung den Weg bahnten und mitunter die Selbständigkeit ihres Denkens mit ihrem Leben bezahlen mußten. An den damals gegründeten Universitäten, die noch ganz der kirchlichen Aufsicht unterstanden, durften nur jene Wahrheiten gelehrt werden, die in keinem Widerspruch zum Dogma standen.
Die beiden Fernrohre (heute im Museo di Fisica e Storia Naturale, Florenz) eröffneten Galilei neue Horizonte.
Darum mußten die freien Geister jener Zeit zu einer Diplomatie Zuflucht nehmen, die die Inquisitoren zu täuschen vermochte ; es berührt uns wunderlich, etwa bei damaligen Autoren zu lesen, sie hätten ihre Erkenntnis von gottlosen Ketzern erhalten; nur um die Christenheit zu warnen, verlohne es sich, sich in Gedankengänge zu vertiefen, die sichtlich vom Satan eingegeben seien. Unter der Maske des Glaubens-Apologeten verkünden Renaissancephilosophen gelegentlich jene bahnbrechenden Einsichten, die der kirchlichen Tyrannei über das abendländische Geistesleben ein Ende setzten.
Die Entzauberung der Welt
Mit einem Enthusiasmus ohnegleichen wurde der Siegeslauf der neuzeitlichen Wissenschaft eingeleitet. Die Forscher, die auf die Wundergläubigkeit früherer Epochen verzichteten, drangen in eine Welt von Tatsachen und Erscheinungen ein, deren Rätselhaftigkeit die überweltliche Phantasmagorie bei weitem überstieg. Jeder neue Fund warf neue Fragen auf; Entdeckungen und Erfindungen folgten sich auf dem Fuße, und mit jedem wissenschaftlichen Fortschritt wurde der methodische Zugriff auf die Probleme sicherer und seiner selbst gewiß.
Unter dem Einfluß besserer Verständigungsmöglichkeit und eines verbesserten Verkehrs konnte das Wissen vereinheitlicht werden. Anstelle des vereinzelten Forschers trat der Wissenschaftsbetrieb der modernen Zeit, der mit großangelegten Mitteln die menschliche Erkenntnis systematisch förderte. Die Natur, ehedem noch «geheimnisvoll am lichten Tag», wurde Gegenstand eines Studiums, das mit radikaler Entschlossenheit die Mysterien auflöste und hinter jeder Erscheinung den sie bewirkenden Kausalzusammenhang aufdeckte.
Am Leitfaden von Ursache und Wirkung ließen sich die Naturgesetze darlegen, sodaß menschliches Begreifen sich alle Naturvorgänge verständlich machen konnte, ohne ins Übersinnliche abirren zu müssen. Überblickt man das Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahrhunderten, so kann man sagen, daß sie eine grandiose Entzauberung der Welt zustandebrachte, d. i. eine illusionsfreie Betrachtung der Natur und des Menschen, die zusehends darauf tendiert, in Zukunft noch illusionsfreier zu werden.
Die Wissenschaft ist nicht, wie manche meinen, ein Selbstzweck; dem Leben entsprungen, ist sie dazu berufen, der Lebensnotdurft zu dienen.
Hand in Hand mit der wissenschaftlichen Erkenntnis sehen wir darum die technische Gestaltung voranschreiten, denn die Neuzeit ist ebensosehr eine Epoche der Technik wie der Wissenschaft. Die Einsicht in das Wesen der Naturkräfte ermöglichte deren Verwertung im Dienste des Menschen. Mit der Verbrennungsenergie der Kohle, dem Magnetismus und der Elektrizität usw. wurden Kräfte verfügbar gemacht, die die Macht des Menschen über die Natur unermeßlich ausweiteten. Die Schranken von Raum und Zeit wurden überwunden, und der technische Prozeß, der seiner weiteren Perfektion zustrebt, befreite die Menschheit von ihrer Abhängigkeit gegenüber den Naturgewalten.
Entgegen allen zivilisationsfeindlichen Behauptungen kann festgestellt werden, daß die technisch-wissenschaftliche Entwicklung an sich etwas durchaus Positives ist; das Klagelied über die Technisierung der Welt, von den Ewig-Gestrigen mit ermüdender Eintönigkeit gesungen, ist unberechtigt, denn in der Technik ‚ liegt die Tapferkeit und Größe des Menschen, der sich dazu entschlossen hat, sich auf dieser Erde gemäß seinen Lebensbedingungen einzurichten.
Nur eine möglichst weitgehende Lenkung der Naturprozesse gestattet es dem Menschen, sein Dasein zu sichern und angesichts einer ihn ständig bedrohenden Natur in Ordnung und Ruhe zu leben.
Die Sorgen und Nöte unserer Zeit erwachsen nicht mehr aus dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur, sondern einzig und allein aus dem Zusammenleben der Menschen; die Ungelöstheit des sozialen Problems aber, die uns immer wieder in Katastrophen von weltweitem Maßstabe verstrickt, kann nicht auf den Aufstieg von Wissenschaft und Technik zurückgeführt werden:
Wir werden hier auf psychologische Faktoren verwiesen, die es verhindert haben, daß der soziale Fortschritt mit dem technisch-wissenschaftlichen auf gleicher Höhe blieb, wodurch gefährliche Diskrepanzen verursacht werden.
Neuzeitliche Wirtschaft und Sozialleben
Durch die technische Entwicklung hat sich auch die wirtschaftliche Produktion grundlegend verändert.
Der Mensch des Mittelalters war ausschließlich Handwerker; seine Arbeitsweise bedurfte nur einfacher Werkzeuge und Apparate, wobei der einzelne Produzent den Plan seines Werkes entwarf, den Werkstoff selber wählte und die Arbeit in allen ihren Details fertigzustellen vermochte. Mit der Einführung der Maschinen wurde eine neue Konstellation geschaffen. Die mechanische Herstellung der Gebrauchsgüter war notwendig eine serienmäßige; sie legte sich auf Standard-Typen fest, die der Initiative des arbeitenden Menschen keinen Raum mehr ließen.
Inmitten eines ungeheuren Räderwerks wurde der Mensch zum Teilstück einer Maschinerie, deren Dimensionen er nicht überblicken konnte ; er wurde zum Sklaven der Maschine, die erfunden worden war, um ihn zum Herrn der Natur zu machen. Die aufstrebende Industrie vereinigte große Volksmassen in ihren Produktionszentren und schuf das Proletariat, das unter den erbärmlichsten Lebensbedingungen sein Dasein fristete. Männer, Frauen und Kinder wurden als Material und Rohstoff betrachtet, die leichter zu ersetzen waren als die Maschinen; rücksichtslose Ausbeutungsmethoden des sog. «Manchester-Liberalismus» begründeten die Reichtümer einer zahlenmäßig geringen Oberschicht, die aus dem Elend der niederen Volksschichten ihren Wohlstand und ihren Luxus bezog.
Die Ungerechtigkeit der sozialen Zustände, die aus der herrschenden Gesellschaftsordnung erwuchsen, brachte es mit sich, daß die technische Entwicklung nicht — wie es ihr eigentlicher Sinn gewesen wäre — allen Menschen zugutekam; Egoismus und Unverstand machten aus dem wundersamen Werkzeug, das zum allgemeinen Segen hätte werden können, ein Instrument der Verelendung, und bis auf den heutigen Tag ist es noch nicht gelungen, die Errungenschaften der Technik für die Allgemeinheit in gerechter Weise verfügbar zu machen.
Diese Mißstände gaben früh Anlaß zur Kritik von seiten jener hochgesinnten Menschen, die die soziale Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts repräsentieren: Philosophen, Wissenschafter und Politiker wiesen auf die verheerenden Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung hin und versuchten, durch Neuordnung der Gesellschaft einen Ausweg aus dem Chaos zu finden. Diese Bestrebungen wurden zum Teil begünstigt durch geschichtliche Ereignisse, in deren Verlauf sich das Bild vom Menschen im europäischen Kulturbereich wesentlich wandelte.
Der mittelalterliche Mensch lebte in einer ständisch gegliederten Welt: Adel, Klerus, Bürger und Bauer galten ihm als ursprüngliche, von der Gottheit selbst eingesetzte oder gewollte Formen des Menschseins, an denen zu rütteln sündhaft gewesen wäre. In diesem Lichte erschien auch der Feudalismus mitsamt der Hörigkeit in Leib und Gut als eine Institution, die in den Ratschlüssen des Unerforschlichen begründet war; demgemäß neigte das Mittelalter dazu, die Ungerechtigkeiten dieser Welt fatalistisch hinzunehmen und sich den weltlichen und geistlichen Obrigkeiten ohne Widerspruch zu unterordnen.
Erst durch die Philosophie der Renaissance und noch mehr durch diejenige der Aufklärung wurde der Glaube an die «angeborenen Unterschiede» zwischen den Menschen erschüttert: Herrschaft und Knechtschaft erschienen nun als geschichtlich gewordene Tatsachen, die sich lediglich durch die nackte Gewalt der Machthaber aller Zeiten aufrechterhalten konnten. Die Aufklärer betonten die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, und Rousseau, einer der größten unter ihnen, zeigte den Gegensatz zwischen Naturzustand und gesellschaftlicher Entartung, indem er seinen «Contrat social» mit den berühmten Worten einleitete:
«Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Fesseln».
Diese Lehre, als Ferment und Fackel in eine in Unzufriedenheit gärende Zeit geworfen, gab dem Geiste der Auflehnung sein theoretisches Fundament: Die staatsphilosophischen Erörterungen mündeten schließlich in die glorreiche Französische Revolution ein, die die «Rechte des Menschen und Bürgers» erklärte und damit den Grundstein zur modernen Demokratie legte.
Der Aufstieg der Demokratie
In den letzten hundert Jahren hat dann der demokratische Gedanke eine Entwicklung durchgemacht, die zwar zu gewissen Erfolgen führte, aber im großen und ganzen nicht überschätzt werden darf.
Noch ist die Idee der Freiheit im Bewußtsein der Welt nur wenig verankert: Zahlreiche Länder werden diktatorisch regiert und unterstehen einer offenen oder heimlichen Tyrannei, die zur menschlichen Solidarität in einem krassen Widerspruch steht. Von der Wirtschaft her wird der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen Hohn gesprochen, indem unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem nicht auf dem Gemeinschaftsprinzip beruht, sondern lediglich eine geringe Schicht begünstigt, indes die breiten Volksmassen der schwankenden Konjunktur, den Wirtschaftskrisen und der Arbeitslosigkeit ausgeliefert sind.
Die Mächte der Wirtschaft sind in der Regel auch diejenigen des Staates, und der Titel «Volksherrschaft» wird zur bloßen Phrase, wenn der stimm- und wahlberechtigte Bürger in seinem Erwerbsleben das Opfer eines Produktionsmechanismus‘ ist, der ihm bestenfalls das Existenzminimum sichert; den herrschenden Instanzen in Handel und Wirtschaft stehen aber auch die Mittel zur Verfügung, die ihnen eine propagandistische Beeinflussung der breiten Volksmassen gestatten, sodaß der scheinbar freie politische Entscheid des Staatsbürgers im voraus weitgehend determiniert ist. Und indem sich der Eigennutz und das Interesse der wirtschaftlich Mächtigen nicht mit der allgemeinen Wohlfahrt vereinbaren lassen, entstehen immer wieder jene sozialen Katastrophen, die zu den schmerzlichsten Erscheinungen unserer Kulturepoche gehören.
In Technik und Wissenschaft hat die Neuzeit unzweifelhaft grandiose Fortschritte erzielt; in der Lösung der sozialen Frage aber stehen wir noch immer an den ersten Anfängen, und es wäre ebenso sinnlos wie gefährlich, sich über diese Tatsache hinwegtäuschen zu wollen.
Derselbe Mensch, der das Atom zu spalten versteht und seinen Blick in die unermeßlichen Weiten des Kosmos zu lenken imstande ist, hat es nicht vermocht, eine gerechte Gemeinschaftsordnung zu verwirklichen. Bis zum heutigen Tag ist es ihm nicht gelungen, den Krieg — dieses uralte Menschheitsübel — aus der Welt zu bannen; an kaum einem anderen Problem wird uns die Unzulänglichkeit unserer Kultur mit derart erschreckender Deutlichkeit bewußt.
Wir stehen hier vor einem Rätsel, das durch die psychologische Analyse aufgeklärt werden muß: Wie kommt es, daß der Mensch unserer Zeit gegen alle Vernunft es nicht zustandebringt, in Frieden zu leben? Warum scheitert er, für den es im technisch-wissenschaftlichen Bereich schier nichts Unmögliches mehr gibt, an der Regelung der menschlichen Beziehungen im Leben des Einzelnen und der Völker? Wieso verfällt er immer wieder dem Irrwahn, daß sich Konflikte unter den Nationen durch kriegerische Auseinandersetzungen beseitigen lassen können? Welche seelischen Faktoren verhindern es, daß der Mensch sich als Hüter seines Bruders erkennt? Auf welche Gründe müssen wir es zurückführen, daß auf den Höhen der zivilisatorischen Entwicklung der systematisierte Menschenmord, genannt Krieg, noch immer «ultima ratio» der Politik ist, und daß der Mensch bereit ist, seinen Mitmenschen jenseits der Landesgrenzen in barbarischer Weise umzubringen? Unnütz zu sagen, daß von der Beantwortung dieser Fragen der Bestand unserer Kultur abhängt.
Krieg und Gesellschaftsordnung
Der Ursprung des Krieges wurde in früheren Zeiten auf den Sündenfall der ersten Menschen zurückgeführt. Mit der Erbsünde, konkret oder symbolisch aufgefaßt, hatte der Mensch seine paradiesische Unschuld verloren und damit das Recht auf Glückseligkeit verwirkt: Er hatte sich dem Satan überantwortet und mußte die Folgen tragen. Diese mythologische Erklärung, auf einem primitiven Begriff von Verantwortung, Schuld und Sühne aufbauend, ist nicht ernst zu nehmen; sie ist ein Gleichnis, das nichts begreiflich macht. —
Bedeutsamer ist die Lehre, die der Naturwissenschaft entstammt und den Menschen als ein Raubtier definiert: Die Natur des Menschen wird hier mit derjenigen der Tiere identifiziert und ein verallgemeinertes Bild vom «Kampf ums Dasein» soll rechtfertigen, daß in der Menschenwelt der Krieg nicht überwunden ist und — wie manche behaupten — nicht überwunden werden kann.
Diese Auffassung vom «homo homini lupus» (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) ist aber, trotz dem Belegmaterial, das die Geschichte so reichhaltig anzubieten scheint, grundfalsch; sie beruht auf einer Oberflächlichkeit, die bei genauerem Zusehen sofort offenkundig wird.
Eine unvoreingenommene Betrachtung historischer Kriege lehrt uns, daß die Willkür der herrschenden Klassen eine der ersten Kriegsursachen ist. Streitigkeiten unter Königen, Eroberungslust eines Herrschers oder seiner Kriegerkaste, d. i. die Machtgier der Mächtigen hat die Völker in die Kriege geführt, in denen sie für die Interessen ihrer Potentaten verbluteten. Der Konkurrenzkampf zwischen den Religionen, von denen jede sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnte, gab weiteren Anlaß zu kriegerischen Verwicklungen, in welchen die Menschen für die Macht ihrer Kirche und Klerisei starben.
Die Neuzeit, den Vorrang der Wirtschaft über die anderen Bereiche des öffentlichen Lebens realisierend, schuf dann den Typus des Wirtschaftskrieges, in dem die Herren des Handels und der Industrie die Völker zu einem Ringen um Rohstoffquellen und Absatzmärkte antreten ließen; in fast allen Kriegen der letzten Jahrhunderte spielt der ökonomische Faktor eine dominierende Rolle, wenngleich er sich mitunter hinter anderen Motivationen verbirgt.
Die Ursachen der Kriege waren also mannigfaltig, aber jeder Krieg wurde im Interesse einer geringen Oberschicht geführt, der allein der Sieg und der damit verbundene Gewinn an Land und Reichtümern zugutekam. Die Völker selbst, die für ihre weltlichen oder geistlichen Herrscher in den Kampf zogen, durften nur wenig oder gar nicht an der Nutznießung ihrer Eroberung teilhaben. Sie wurden nicht gefragt, ob sie in den Krieg ziehen wollten oder nicht; gezwungenermaßen nahmen sie die Waffe zur Hand; der «Mann aus dem Volke» focht und starb in Ländern, die ihm im Rahmen seiner gewohnten Lebensführung unbekannt geblieben waren, deren Menschen ihm gleichgültig waren und deren Güter er nicht begehrte.
Man tut Unrecht, die «Völker» für ihre Kriege verantwortlich zu machen; es waren immer nur ihre herrschenden Schichten, die sich befehdeten und sich wechselseitig zu unterjochen strebten. Darum ist es eine Fälschung, den Krieg auf die menschliche Natur zurückzuführen. Die Natur des Menschen ist friedlich; ein Großteil der Menschheit liebt es, seiner Arbeit nachzugehen, den Acker zu bestellen und in Freundschaft mit dem Nachbarn zu leben; der Gesichtskreis der meisten Menschen reicht nicht so weit, um nach andern Ländern oder gar Kontinenten aufzubrechen und dorthin die verheerende Flamme des Krieges zu tragen. Nur die Machtgier derer, die innerhalb der Völker als Obrigkeit fungieren und durch ihre soziale Stellung vom Geist der Gewalt durchdrungen sind, treibt immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen, in denen sich die Völker zugunsten ihrer Herren und Ausbeuter verbluten.
Die psychologische Fragestellung muß nun an diesem Punkte einsetzen und uns Klarheit darüber verschaffen, wie es der herrschenden Minderheit möglich wird, die Mehrheit des Volkes für ihre Ziele und Zwecke leben, arbeiten und sterben zu lassen. Schärfer und präziser formuliert: Wie ist überhaupt die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen — diese Grundtatsache der bisherigen Geschichte — möglich?
Macht allein reicht sicherlich nicht aus, um die Völker in Botmäßigkeit zu halten; und überdies wäre die Macht des Volkes immer größer als diejenige seiner Herrscher, sofern es sich nur entschließen würde, diese Macht in die Waagschale zu werfen. Es muß darum ideologische Hilfsmittel geben, die die Hörigkeit der Völker sicherstellen und es den Machthabern aller Zeiten ermöglichten, das Regime der Privilegien und der Ungerechtigkeit aufzurichten. Nur die ideologische Verblendung des Menschengeistes gestattet es, den Menschen seine Liebe zur Freiheit vergessen zu machen; sie bringt es sogar zustande, ihn die Ketten verherrlichen zu lassen, unter deren Last er zusammenbricht.
Der Geist der Verblendung
Eine der wichtigsten Stützen der ungerechten Sozialordnungen in Vergangenheit und Gegenwart ist der Glaube der Menschen, daß das Diesseits eine nur bedeutungslose Etappe ihres Daseins wäre, indes sie ihre wahre Existenz und ihr wahres Glück im Jenseits finden würden.
Der Glaube an die «Hinterwelt», in Sklavenseelen entstanden und von Sklaven über die Erde verbreitet, lehrte die Gleichgültigkeit gegen das irdische Schicksal; je größer das Leiden und die Duldsamkeit in dieser Welt war, umso größere Seligkeit erwartete den Gläubigen in jener, wo er für seine Erniedrigungen reichen Lohn empfangen sollte. Unter dieser Perspektive mußte es sinnlos scheinen, sich gegen die Tyrannei aufzulehnen: Indem sie auf das zukünftige Strafgericht der Gottheit zählten, unterließen es die Menschen, selber zu richten und zu strafen — ihr Fatalismus ergab sich fügsam jeder Unterdrückung, und der Lebenswille, durch die Ausrichtung auf das Jenseits empfindlich geschwächt, brachte weder Mut noch Kraft zur Revolte auf.
Die Kirche, ungeachtet ihrer Lehren stets auf der Seite der Mächtigen stehend, bestätigte König und Adel als inthronisiert «von Gottes Gnaden», sodaß es ein Verstoß gegen göttliche Weisheit und Vorsehung gewesen wäre, sich gegen die Zustände in Staat und Gesellschaft zu erheben. Die Verklärung der Knechts-Mentalität, die für das fromme Gemüt so wesentlich war, schuf die Voraussetzungen für absolutistische Herrschaftsformen, in denen die Menschen ein willenloses Werkzeug ihrer Obrigkeit wurden und ihnen in Krieg und Frieden vorbehaltlose Gefolgschaft leisteten.
Ein weiteres Moment ist die nationale oder rassische Ideologie, deren epidemischer Charakter uns in der jüngsten Vergangenheit drastisch veranschaulicht worden ist.
Der Mythos der Nation und der Rasse schafft eine künstliche Einheit zwischen Herrschenden und Beherrschten, indem er letzere glauben macht, sie gehörten mitsamt ihren Herren emer geheimnisvollen und ruhmreichen Körperschaft an, an deren Glanz und Größe auch der geringste Knecht seinen Anteil hat. Indem seiner Selbstgefälligkeit geschmeichelt wird, wird der Knecht veranlaßt, über seine Knechtschaft hinwegzusehen; da andere, die nicht zu seiner Rasse oder Nation gezählt werden, noch weniger sind als er, wird es ihm erträglich, daß er selber wenig oder gar nichts gilt.
Nationalismus und Rassenlehre sind Geisteshaltungen des Stolzes und der Überheblichkeit, in denen immer auch ein Stück Aggressivität gegen Nachbarvölker oder benachbarte Rassen mitschwingt; im Instrumentarium der Herrschenden aller Zeiten bedeuteten sie gewöhnlich ein Mittel zur Verführung der breiten Volksmassen, welche durch derartige Mythologien daran gehindert wurden, ihre wahre Situation ins Auge zu fassen.
Die gesellschaftlichen Mißstände, durch die Ungerechtigkeit der Herrschenden entstanden, wurden so immer auf die Gegen-Nation oder Gegen-Rasse abgewälzt; das hochgemute Gefühl, zu einer durch Geschichte, Blut und angeborenen Adel ausgezeichneten Körperschaft zu gehören, ließ den Sklaven die Sklaverei vergessen: Für Ruhm und Ehre der Nation, für die man ihm eine beinahe religiöse Inbrunst einzuflößen wußte, war er auch bereit, sein Leben in die Schanze zu schlagen; er kam nicht auf den Gedanken, sich mit dem Sklaven jenseits der Landesgrenzen zu solidarisieren, um sich gegen die gemeinsamen Bedrücker zu wenden; der Groll, der in ihm gegen seinen eigenen Tyrannen hätte entstehen sollen, wurde abgeleitet auf jene, die, wie er selber, unter dem Joch der Tyrannei seufzten.
In diesem Mechanismus, den man ebenso teuflisch wie verhängnisvoll heißen könnte, liegt der Schlüssel zu den Minderheitenproblemen, wie etwa dem der Neger in den USA, der Eingeborenen in Südafrika, der Juden in Europa usw. — die Herrschenden von einst und jetzt beweisen damit, daß sie die Psychologie des Sündenbocks zur Konsolidierung ihrer Herrschaft vortrefflich auszunützen wußten.
Die Erörterung der Kriegsursachen und der Herrschaft des Menschen über den Menschen, im obigen auf massenpsychologischer Ebene durchgeführt, bedarf noch der individualpsychologischen Ergänzung, um ein geschlossenes Bild zu ergeben. Welche Mentalität unterscheidet Herr und Knecht? Wie muß die Seele eines Mitgliedes der herrschenden Schichten strukturiert sein, damit es tauglich wird, über den Mitmenschen zu herrschen? Welche Gefühlsregungen müssen in den Angehörigen unterdrückter oder ausgebeuteter Volksklassen vorhanden sein, damit sie die Unterdrückung über sich ergehen lassen? Der massenpsychologische Befund muß durch denjenigen der Individual-Psychologie abgerundet werden.
Herr und Knecht
Die hervorstechendsten Merkmale des Menschentypus, der in gesellschaftlich begünstigter Position aufwächst, sind die Gefühle der Selbstsicherheit und der Überlegenheit.
In dieser Beziehung können Kinder des Bürgertums und der Arbeiterschaft nicht verwechselt werden. Ein Kind, das in Wohlstand oder Überfluss erzogen wird, das eine angemessene Pflege erhält und dem eine Großzahl von Wünschen erfüllt wird und erfüllt werden kann, nimmt eine andere seelische Haltung an als Kinder der Armut, der Not oder eingeschränkten wirtschaftlichen Verhältnisse.
Von den Charakteren der Eltern abgesehen, deren Einfluß nicht hoch genug angeschlagen werden kann, läßt sich demgemäß feststellen, daß das Kind der herrschenden Volksschichten mit einer spezifischen Grundstimmung an das Leben herantritt, welche in Worte gefaßt lautet: «Mir gehört die Welt!» Im Umgang mit Dienstboten im Elternhause wird früh der Eindruck aufgenommen, daß sich die Menschen in «Herren» und «Diener» unterscheiden, und daß letztere dazu da sind, für die Herrschaft zu leben und zu arbeiten.
Diese Konzeption, zunächst unbewußt in der kindlichen Seele liegend, erfährt ihre Bestätigung durch Beobachtungen über das Verhältnis von Vater und Mutter, welches in unserer immer noch patriarchalischen Welt zugunsten des Mannes ausgestaltet ist, sodaß das Kind mit der «Männlichkeit» zugleich auch angeborene Auserwähltheit und Herrschaftsanspruch verbinden lernt.
Spätere Autoritäten, wie Lehrer, beruflicher und militärischer Vorgesetzter, demonstrieren dem Heranwachsenden die Stufenleiter der Macht, welche die heutige Gesellschaftsordnung und die ihr zugrundeliegenden Lebensformen kennzeichnet; kein Wunder, daß in seiner Seele der Drang entsteht, auch einmal oben zu sein, der Autorität gleichzuwerden und an dem von ihr geübten Regiment teilzuhaben.
Unter dem Einfluß dieses Machtstrebens werden die Gemeinschaftsgefühle nur kümmerlich ausgebildet; eine gewisse, wenn auch nur lockere Solidarität verbindet mit den Mitgliedern der herrschenden Schichten, denen man sich zugehörig fühlt: das übrige «Volk» aber, das man schon in der Kindheit als zum Dienen geboren sehen gelernt hat, ist in dieses Solidaritätsbewußtsein nicht eingeschlossen. Dazu kommt, daß die verzärtelnde Erziehung — der Isolierung von Einzelmensch und Familie in unserer auf dem wirtschaftlichen Individualismus und Egoismus gegründeten Epoche entsprechend — überhaupt einen Menschentypus schafft, der mit einem Auserwähltheitsanspruch der Welt gegenübersteht und nicht geneigt ist, anderen Menschen gleiche Ansprüche zuzubilligen.
Diese Mentalität des Ehrgeizes, des Stolzes und der reduzierten Mitmenschlichkeit ermöglicht es, «Chef» zu werden, d. h. in Wirtschaft, Militär, Politik usw. die leitenden Positionen einzunehmen, in denen die Herrschaft des Menschen über den Menschen vorgesehen ist. Auf dieser Grundlage werden die Vorgesetzten geprägt, die etwa als Arbeitgeber kein Verständnis für die Arbeitnehmer haben und den Arbeiter, der Lohnforderungen anmeldet, als einen Aufwiegler und Empörer betrachten; die Vorgesetzten, die im Militär die ihnen übertragene Macht dazu verwenden, ihre Untergebenen in unmenschlicher Weise zu behandeln; die Vorgesetzten schließlich, die als Politiker im Einverständnis mit den Vertretern des Handels, der Großindustrie und des Militarismus durchaus imstande sind, im Interesse der herrschenden Schichten den völkermordenden Krieg auszulösen. Das gesellschaftliche Gefüge, das auf dem Geiste der Gewalt aufbaut, bringt einen Menschentypus hervor, für den die Aggression «prima et ultima ratio» bedeutet.
Dieselbe Aggressivität, wenn auch in modifizierter Form, finden wir bei den Angehörigen der gesellschaftlich benachteiligten Volksklassen. Es wäre eine Täuschung, hier «Schwarz-Weiß-Malerei» zu treiben, wie dies die soziale Bewegung an ihren Anfängen getan hat. Der Knecht krankt ebensosehr an der Machtgier wie der Herr, und die schlimmsten Sklavenhalter sind Sklaven, die zur Herrschaft gelangt sind.
Die Unterwürfigkeit, zu der ihn seine Position drängt, wirkt an ihm als ein ständiger Stachel, der die Bereitschaft zur Aggression hervortreibt. Der geringste Dienstbote sucht noch jemanden, auf den er herabschauen und an dem er seinen Groll ausleben kann; das Verhältnis des Arbeiters zu seiner Frau und zu seinen Kindern verschafft ihm, unter den heutigen Voraussetzungen, auch einen «Herrschaftsbereich», innerhalb dessen er seine Ressentiments glaubt abreagieren zu dürfen.
Das Arbeiterkind sieht sich frühzeitig in eine Welt hineingestellt, in der es Bevorrechtete und Benachteiligte gibt; in Umgebung und Pflege steht es hinter dem Kind des Bürgertums zurück und sobald es Kleidung, finanzielle Mittel und gesellschaftliche Stellung vergleichen lernt, wird ein sozial bedingtes Minderwertigkeitsgefühl in ihm Fuß fassen. Daraus erwächst dann das Streben, mehr zu sein als die anderen, welches nur dann gemildert werden kann, wenn die Erzieher in einem gemeinschaftsfreundlichen Weltbild leben, sodaß das Kind seinen eigenen Freiheitsdrang mit demjenigen anderer Menschen verbinden lernt.
Wo dies nicht der Fall ist und eine autoritäre und individualistische Erziehung dem Kinde die ersten Lebenseindrücke vermittelt, wird es aus seiner sozialen Benachteiligung lediglich den Schluß ziehen, daß es einzig und allein sich selbst «in die Höhe» bringen muß — seine vom Bazillus der Machtgier infizierte Seele wird anfällig sein für die Kollektivpsychosen des Nationalismus, des rassischen und religiösen Vorurteils, mit deren Hilfe die Gesellschaftsordnung der Ungerechtigkeit in Vergangenheit und Gegenwart aufrechterhalten wird.
Es besteht kein Zweifel, daß die Fehlschläge der sozialen Bewegung auf diesen psychologischen Zusammenhang zurückzuführen sind; die Wortführer des sozialen Fortschrittes kranken am selben Geiste der Gewalt, den sie zu bekämpfen vorgeben; angesichts großer Entscheidungen verrieten sie immer wieder die Idee der Freiheit an die Autorität, der sie trotz kühner Parolen und Schlagworte hörig blieben.
Der Sinn der Geschichte
Ein Blick auf die Situation der Menschheit im gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick gibt uns sicherlich keinen Anlaß, einem überschwänglichen Optimismus zu huldigen.
Wir haben den Glauben verloren, daß die Geschichte selbst durch ihre Eigengesetzlichkeit zum Guten strebt; wenn eine gerechte Welt verwirklicht werden soll, so wird es nicht gleichsam «über die Köpfe der Menschen hinweg» geschehen, sondern einzig und allein durch menschliche Entschlüsse, durch ein Denken und Handeln, das sich am Ideal der Gerechtigkeit orientiert.
Aus diesem Grunde gibt es keine geradlinige Aufwärtsentwicklung im kulturellen Bereich; die Kultur muß immer wieder neu errungen werden, und ihr Weg führt hart an den Sümpfen der Barbarei vorüber, sodaß sie ständig gefährdet bleibt. Ohne sich leichtgläubiger Hoffnung zu verschreiben, darf man aus dem Aufstieg der Humanität in den letzten Jahrtausenden die Zuversicht entnehmen, daß der Mensch mehr und mehr die Stimme des Menschheitsgewissens in sich vernimmt; daß er sich des Gesetzes bewußt wird, unter dem er — das zoon politicon — angetreten ist, nämlich: In Freiheit und Brüderlichkeit zu leben und in gemeinsamem Kampf gegen die Naturgewalten das Leben auf dieser Erde zu sichern.
Der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit kann auf die Dauer nicht rückgängig gemacht werden. Die Errungenschaften in Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Technik und Sozialleben lehren uns einen Optimismus des Ernstes und der Verantwortlichkeit, der uns zwar an das Gute im Menschen glauben läßt, uns aber auch die Größe der Aufgabe zeigt, die uns gestellt ist.
Wenn wir an die moderne Psychologie die Frage richten, welche Mittel uns in die Hand gegeben sind, die werdende Menschheitskultur zu beschleunigen und zu fördern, so werden wir auf mehrere Faktoren verwiesen, die zu berücksichtigen sind.
In Wirtschaft und Politik sind alle Reformvorschläge zu befürworten, die den Gemeinschaftsgedanken in sich tragen und die Schranken zwischen den Menschen zu beseitigen helfen. Offensichtlich geht der Zug der Zeit nach wirtschaftlichen Lebensformen, in denen der Gegensatz zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgehoben ist; man wird Regelungen treffen müssen, in denen Solidarität des Betriebseigentümers mit der Gesamtheit seiner Arbeiter möglich ist, und die «Interessengemeinschaft» des Betriebes durch eine faktische Teilhabe aller seiner Angehörigen gewährleistet wird.
In politischer Hinsicht darf alles bejaht werden, was den Abbau der Macht innerhalb des Gesellschaftskörpers begünstigt und eine universelle Ausweitung der Gemeinschaftsidee sichert. Darin liegt, daß nationale und rassische Differenzen überwunden werden müssen; die Gleichheit und Gleichwertigkeit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, ist eines der unabdingbaren Postulate einer freien und friedlichen Welt. «Macht ist an sich böse»: Dieses Wort von Jakob Burckhardt kann durch die tiefenpsychologische Betrachtungsweise nur bestätigt werden. Die Institutionen der Politik und des Soziallebens müssen derart gewandelt werden, daß sie für die Verlockungen des Machtgelüstes keinen Raum mehr bieten; die Reduktion der Gewalt muß hier und jetzt erfolgen, und es ist ein verhängnisvoller Fehlschluß, wenn man glaubt, daß man über die Diktatur zur Freiheit gelangen kann.
Eine politische Bewegung kann in dem Maße als «gut» angesehen werden, als sie vom Strome der Menschheitsevolution durchflossen ist, d. h. je mehr sie darauf tendiert, die Gleichberechtigung unter den Menschen zu verwirklichen.
Aufklärung und Erziehung
Die Politik aber wird in den Köpfen und Herzen der Menschen vorbereitet; die Menschen handeln morgen so, wie sie heute denken.
Darum ist die Aufklärung ein weiteres Anliegen, dessen Wichtigkeit nicht überschätzt werden kann. Der Sinn der aufklärerischen Bemühungen ist die Reinigung des menschlichen Bewußtseins von individuellen und kollektiven Vorurteilen.
Schon das ruhmreiche 18. Jahrhundert hat darauf hingewiesen, daß der Verstand durch Furcht, Hoffnung und Interessen aller Art irregeführt werden kann und so mitunter der Lebensfremdheit und Selbsttäuschung anheimfällt. Zerstörung der Vorurteile bedeutet demgemäß mehr als ein bloß intellektuelles Unterfangen; der «aufgeklärte Verstand» ist fähig, gesunde Lebensziele ins Auge zu fassen, und erst er wird für die Freiheit tauglich, der zu dienen für das «siècle de la raison» das entscheidendste Erfordernis war.
Die Zukunft unserer Kultur wird wesentlich davon abhängen, ob es genügend «Aufklärer» geben wird, die imstande sein werden, den breiten Volksmassen jene Vorurteile zu nehmen, die der ideologische Hintergrund der Menschheitskatastrophen sind. In einer Zeit, in der die Bedrohung durch die Atombombe die Selbstvernichtung der Menschheit als möglich erscheinen läßt, bedürfen wir mehr denn je der freien Geister, die uns lehren, was Wahrheit und was Lüge ist: Der Intellektuelle hat eine viel größere Verantwortung, als man gemeinhin wahrhaben möchte, denn seine Pflicht wäre es, für die anderen Menschen zu denken und mit der Freiheit des Denkens die Freiheit überhaupt zu proklamieren.
Wichtiger noch als Aufklärung aber ist das Problem der Erziehung, welches — nach Jean Paul — den eigentlichen Hebelarm der Kultur darstellt.
Die tiefenpsychologische Einsicht hat uns die Erziehung in ihrer ungeheuren Tragweite deutlich gemacht. Die Erziehungsmethoden der Vergangenheit schufen den Menschentypus, der die Tragödie der Geschichte verursachen konnte; das autoritäre Prinzip, jahrhundertelang als fraglos-gültige Grundlage des erzieherischen Verhaltens angesehen, drosselte bereits in den Kindheitsjahren das Gemeinschaftsgefühl der Menschen und stattete sie mit jener Aggressionsbereitschaft aus, durch die eine gewalttätige Welt im Zustande der Gewalttätigkeit verharren konnte.
Wir wissen heute, daß der Mensch in einem derartigen Maße das Produkt seiner Erziehung ist, daß wir die Hoffnung hegen dürfen, durch bessere, d. i. psychologische Erziehungsmethoden Menschen heranbilden zu können, die gegen die Verstrickungen des Machtwahns gefeit sein werden. Indem die Pädagogik in Elternhaus und Schule auf Autorität und Gewaltanwendung verzichtet und sich mit wahrem Verständnis dem kindlichen Seelenleben anpaßt, wird sie einen Menschentypus hervorbringen, der keine «Untertanen-Mentalität» besitzt und darum für die Machthaber in unserer Welt kein gefügiges Werkzeug mehr sein wird.
Die Demokratisierung der Erziehung, aufgefaßt als Achtung vor der kindlichen Persönlichkeit und freundschaftliche Zuwendung des Erziehers zu seinem Zögling auf der Basis der konsequenten Antiautorität ist dazu berufen, einen der wertvollsten Beiträge zum Aufbau einer humanen Gesellschaftsordnung zu leisten.
Der Weg der Menschheit
Abschließend sei es noch gestattet, den Weg der Menschheit philosophisch zu betrachten und die Bedrängnisse unseres gegenwärtigen Zeitalters im Lichte übergreifender Zusammenhänge zu sehen.
Seit es Leben auf der Erde gibt, steht alles Lebendige unter dem Zwang zur Anpassung. Lebewesen, die sich nicht in Einklang mit ihrer Umwelt zu bringen wußten, die etwa in ihrer Größe oder dem Bau ihrer Organe von der Zweckmäßigkeit abirrten, unterlagen dem harten Gesetz der Auslese, das nur das Lebensfähige am Leben erhält. Was ist mit jenen Myriaden von Organismen geschehen, in denen die lebendige Vernunft nicht genügend zum Durchbruch kam, die entarteten und zu den Bedingungen des Daseins auf dieser Erde in Widerspruch gerieten? Sie wurden ausgelöscht, gleichsam weggewischt von der Tafel des Lebendigen, wie wenn der Kosmos gesagt hätte «Fort mit euch; ihr habt euch als untauglich erwiesen!»
Ein ähnliches Gesetz scheint auch über der Menschheitsgeschichte zu liegen. Völker, in denen der Gemeinschaftsgeist nur kümmerlich gedieh und die zur allgemeinen Zivilisation und Kultur keinen Beitrag zustandebrachten, sind im Buch der Geschichte nicht zu finden. Sie gerieten in Vergessenheit, da sie nichts hinterließen, das die werdende Menschheit an sie hätte erinnern können.
Jene aber, die den evolutionären Drang in sich verspürten und durch schöpferisches Wirken jeglicher Art ihm Ausdruck zu verschaffen wußten, die auf der Ebene des allgemeinen Nutzens standen und in ihrer persönlichen Entwicklung auch diejenige der Gattung realisierten, sind ebenso unvergänglich wie die Kultur, die sie geschaffen haben. Gewiß, das kulturelle Erbe ist immer bedroht und muß mit jedem Tag neu errungen werden. Aber trotz gelegentlicher Rückfälle tastet sich die Menschheit voran, mit jener instinktiven Sicherheit, die mit dem Arterhaltungstrieb in Verbindung zu stehen scheint.
Alfred Adler
Was heute noch auf uns lastet, ist der Mangel an sozialer Durchbildung des Menschen; und doch drängt es sich herauf durch die Zeiten, heißt einmal «Du sollst nicht töten», ein andermal «Liebe Deinen Nächsten», dann wieder Renaissance, Aufklärung oder Französische Revolution, und ist in seinen tausend Gestalten das Gemeinschaftsethos des Menschen, das unaufhaltsam vorwärtsstrebt, mit dem idealen Endziel, eine einträchtige Menschheit zu schaffen. Alle unsere Bestrebungen in Welt und Wissenschaft scheinen das Leitmotiv zu haben, in Zukunft einen Menschentypus hervorzubringen, der — wie es Alfred Adler formulierte — Gemeinschaftsgefühl und mitmenschliche Verbundenheit ebenso selbstverständlich äußern wird wie das Atmen.
Quelle: https://iphg.ch/der-mensch-im-licht-der-modernen-psychologie/
Hervorhebungen und Bilder seniora.org
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