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Der (Alp-)Traum von Reinheit und Gesundheit. Zu Uwe Timms Roman Ikarien

NachDenkSeiten: Götz Eisenberg* hat das Buch „Ikarien“ von Uwe Timm gelesen, für die NachDenkSeiten besprochen und zugleich ergänzt. Albrecht Müller.
Götz Eisenberg
18. Oktober 2017
Kann man einen Roman über das Thema Euthanasie schreiben? Durchaus, aber man muss Uwe Timm heißen und sein Handwerk verstehen. Und über genügend historische Kenntnisse und Einfühlungsvermögen verfügen. Uwe Timm ist lange mit dem Vorhaben schwanger gegangen. Wie er in der Danksagung am Ende des Buches vermerkt, reichen die Anfänge des Projekts Ikarien in die späten 1970er Jahre zurück. Lange habe er keinen angemessenen Zugang zum Stoff und keine Form gefunden, ihn sinnvoll zu erzählen. Die Geduld hat sich gelohnt. Uwe Timm ist nun ein Roman gelungen, der nicht nur über einen bisher viel zu wenig thematisierten Aspekt der Nazi-Barbarei informiert, sondern auch fesselnd über die unmittelbare Nachkriegszeit und vom damaligen Alltagsleben erzählt.

„Wer aber nicht ‚komplett‘, wer nicht sichtlich unsereiner ist, steht sehr unfest in der Kultur.“

(Peter Brückner)

Man kann übrigens auch sehenswerte Filme zum Thema Euthanasie machen. Vor einem Jahr lief Kai Wessels Film Nebel im August in den deutschen Kinos. Es geht um einen in jeder Hinsicht gesunden Jungen namens Ernst Lossa, der in die Euthanasie-Maschinerie der Nazis gerät, weil er einer sogenannten jenischen Familie entstammt und sein Vater Schausteller ist. Ernst Lossa findet auch bei Uwe Timm Erwähnung. Es fließt die Zeugenaussage eines Krankenpflegers ein, in der es heißt: „Zum Fall Lossa erkläre ich folgendes: Bezüglich des Lossa hieß es mehrfach, dass man ihn nicht brauchen könne, dass er unverbesserlich sei. Diese Äußerungen machten mir gegenüber sowohl Dr. Faltlhauser als auch Frick, und zwar in dem Sinne, dass ich Lossa durch Luminal beiseiteschaffen sollte.“ So geschah es dann auch.

Frühe Wahlen und Entscheidungen

Timms Buch beginnt mit einer Szene, die mich stark beeindruckt und lange beschäftigt hat. Ein behinderter Junge, Karlchen, den seine Eltern 12 Jahre lang versteckt gehalten hatten, tanzt im Mai 1945 auf der Straße und feiert tapsig und unbeholfen seine Befreiung. Er will mit einem Besen die Wolken wegschieben. Hätten ihn die Eltern nicht verborgen, man hätte ihn im Namen der Reinerhaltung der arischen Rasse umgebracht. „Es muss zur Sprache kommen.“ Ein paar Monate später kehren mit der Normalität auch deren schäbige Züge zurück und die Kinder des Viertels beginnen ihn zu ärgern. Der Erzähler beteiligt sich schließlich an den Hänseleien, mit denen die anderen Kinder Karlchen traktieren. „Als auch ich ihn zu hänseln begann, fragte die Mutter, warum tust du das? Weil er komisch ist.“ Er empfindet Scham, jemanden verraten zu haben, um anderen zu gefallen und dazuzugehören. Der, der sich schämt, ist der kleine Uwe Timm, der damals fünf Jahre alt und gerade mit seinen Eltern von Coburg nach Hamburg gezogen ist. Jedenfalls vermute ich das. Karlchen ist es denn auch, der als erster von jenem amerikanischen Offizier ein Kaugummi geschenkt bekommt, der in Timms Roman eine der drei Hauptfiguren ist. Das Kaugummikauen ist für Uwe Timm übrigens Teil jener Lässigkeit, die die amerikanischen Soldaten ausstrahlten und die einen Gegenentwurf zum erstarrten Preußentum seines Vaters und der ihn umgebenden Erwachsenen darstellte.

„Weil er komisch ist“, antwortet der Erzähler auf die Frage, warum er sich an den Hänseleien beteilige. Robert Walser, selbst ein Außenseiter, dem es zeitlebens nicht gelang, „sich der bürgerlichen Ordnung brav anzuschmiegen“, hat in seinem Roman Der Räuber geschrieben: „Er glich dem Blatt, das ein Knabe mit der Rute vom Zweig herunterschlägt, weil es ihm als Vereinzeltes auffällt.“

„Früh in der Kindheit“, berichtet Theodor W. Adorno in seinem Buch Minima Moralia, „sah ich die ersten Schneeschaufler in dünnen schäbigen Kleidern. Auf meine Frage wurde mir geantwortet, das seien Männer ohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung gäbe, damit sie sich ihr Brot verdienten. Recht geschieht ihnen, dass sie Schnee schaufeln müssen, rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos zu weinen.“ Der kleine Theodor reagiert zunächst ganz im Sinne der Erwachsenen, deren Urteile und Vorurteile er sich zu eigen gemacht hat und denen er gefallen möchte. Die Schneeschaufler trifft seine mitleidlose Wut. Dann aber kriegt er die Kurve und er beginnt zu weinen   – aus Scham wegen seiner Anpassung und aus Mitleid mit den frierenden Menschen. Der kleine Junge schlägt sich auf die Seite der gequälten Männer, in deren Leiden er sich wiedererkennt. Solche frühen Entscheidungen sind oft richtungsweisend, bestimmen darüber, ob jemand sich zum Anwalt des Toten macht oder zum Kämpfer für das Lebendige wird. Wer das Opfer seiner Lebendigkeit gebracht hat, reagiert fortan allergisch und feindselig auf alles, was ihm lebendig und anders vorkommt und an eigene aufgegebene Glückansprüche erinnert. Zwischen Achtung und Verachtung des Lebendigen verläuft also die Trennlinie, nicht so sehr und erst danach zwischen links und rechts. Die Geschichte des Sozialismus hat uns schmerzhaft darüber belehrt, dass auch vermeintlich linke Gegenentwürfe in den Bann einer tödlichen Produktionsweise geraten können. Uwe Timm hat sich für den Pol des Lebendigen entschieden und hat sein Buch Ikarien aus dieser Position geschrieben.

Auf den Spuren von Alfred Ploetz

Zurück zu dem amerikanischen Offizier, der die Jungs im Eppendorfer Weg mit Kaugummis beschenkt. Sein Name ist Michael Hansen. Als Lieutenant der US-Army wird er im Frühjahr 1945 von der Psychological Warfare Division nach Deutschland geschickt. Hansen ist in Deutschland geboren und in den 1920er Jahren mit seinen Eltern in die USA ausgewandert. Dort hat er Literaturwissenschaften mit dem Schwerpunkt deutsche Literatur studiert. Er ist ein Germanist mit Ernst Bloch und E.T.A. Hoffmann im Marschgepäck. Er soll deutsche Gefangene verhören, die in Stalingrad gekämpft hatten, verletzt ausgeflogen und dann erneut dort eingesetzt worden waren. Die US-Army interessierte sich dafür, woher diese Männer die Kraft nahmen und was sie durchhalten ließ. Frühe Formen der Resilienz-Forschung. Dann aber fragt ihn sein Vorgesetzter, dessen Auftrag darin besteht, die verhafteten deutschen Ärzte zu verhören, die für die Euthanasie und für Versuche an Menschen verantwortlich waren, um ihnen den Prozess zu machen: „Haben Sie schon mal von der Eugenik gehört?“ Hansens neuer Auftrag: Er soll sich auf die Spur von Alfred Ploetz begeben. Dieser war ein führender Fachmann für Eugenik und Begründer dessen, was bei den Nationalsozialisten Rassenhygiene genannt wurde. Ploetz war wegen seiner Warnung vor den biologischen Folgen, die Kriege auf die menschliche Fortpflanzung hätten   – die Besten kommen im Krieg ums Leben, die Schwachen und Feiglinge überleben   – 1936 im Gespräch für den Friedensnobelpreis und ist 1940 in Herrsching am Ammersee gestorben. Da man die Befragung der Familienmitglieder für sinnlos hielt   – sie schilderten die Täter immer als herzensgute und treusorgende Familienväter   – solle er einen früheren Freund und Adlatus von Ploetz namens Karl Wagner aufsuchen, der in München lebe. Zwei Tage nach der Kapitulation trifft Hansen in München ein. „Jemand hatte mit weißer Farbe Frieden an eine Hausmauer geschrieben. Die Farbe ist an der Wand heruntergelaufen, als weine das Wort.“ Ploetz hatte ein schlossartiges Haus am Ammersee bewohnt. Hansen fährt in Begleitung eines Kollegen nach Herrsching, beschlagnahmt das Haus und quartiert sich dort ein.

Ein Strang des Romans erzählt von den Reisen Hansens durch das zerstörte Deutschland und dem anarchischen Leben in einer gesellschaftlichen Ausnahmesituation. Die alte Gesellschaft, das Dritte Reich, ist untergegangen, eine neue Gesellschaft existiert noch nicht. Es herrscht ein Zustand ausgesetzter Regeln. Für Kinder und junge Leute eröffnen solche anomischen Zustände ungeahnte Spielräume und Möglichkeiten. Hansen enteignet und beschlagnahmt, wonach ihn gelüstet und womit er junge Damen beeindrucken kann. Aber er muss natürlich auch seiner Arbeit nachgehen, und die besteht in Gesprächen mit Karl Wagner, dem ehemaligen Weggefährten und Freund von Ploetz. Die Protokolle dieser vierzehn Gespräche bilden das Gerüst des Romans.

Medizinisch-psychiatrische Träume

Wagner selbst ist seinen sozialistisch-anarchistischen Jugendträumen treu geblieben, die Ploetz zunächst teilte, bevor sich ihre Wege trennten und Ploetz ins völkische Lager abdriftete und sich schließlich den Nazis andiente. Wagner war in Dachau in sogenannte Schutzhaft genommen worden, war dann auf Fürsprache des einstigen Freundes hin aus dem Lager entlassen worden und überlebte das Dritte Reich im Keller eines Münchner Antiquariats   – umgeben von verbotenen Büchern. Inzwischen ist Karl Wagner seiner Gruft entstiegen und hat eine kleine Dachwohnung bezogen. Dort sucht ihn Michael Hansen auf und beginnt, ihn nach seiner Zusammenarbeit mit Ploetz zu befragen. Die Gespräche gehen zurück in die Schulzeit in Breslau, wo Ploetz gemeinsam mit den Brüdern Carl und Gerhart Hauptmann einen Geheimbund gründete. Man las die Schriften von Étienne Cabet und beschloss, in seiner Nachfolge im pazifischen Raum eine sozialistische Kolonie zu gründen. Unterm Bismarckschen Sozialistengesetz (1878  –1890) setzte Ploetz sein Studium der Medizin in Zürich fort. Zürich war in jener Zeit ein Sammelbecken für Flüchtlinge aus aller Welt und bot eine intellektuell äußerst anregende Atmosphäre. Es folgte eine Studienreise in die USA, um die Ikarier-Kolonie in Iowa zu besuchen und sich ein Bild von der von Cabet intendierten Veredelung des Menschen zu machen. Statt des erhofften sozialistischen Übermenschen traf er auf durchschnittliche Menschen, mit all den Schwächen und körperlichen Gebrechen, die Menschen aufweisen. Enttäuscht und ernüchtert kehrte Ploetz zurück und setzte sein Studium fort. Er lernte den Psychiater August Forel kennen, der in der Irrenanstalt Burghölzli arbeitete und sich dem Kampf gegen den Alkohol verschrieben hatte. Die Psychiatrie jener Zeit ist biologisch orientiert und durchdrungen von der Idee der Vererbung. Im sozialdarwinistischen Klima des Imperialismus werden bald Forderungen nach Befreiung von unnützen „Ballastexistenzen“ und der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ laut. Warum all die nutzlosen Esser, Missgestalteten und Abweichler durchfüttern und ihre verderblichen Anlagen weiter im Volkskörper verbreiten lassen? Immer mehr Psychiater gelangten zu der Haltung: Wenn schon keine Therapie und Befreiung des einzelnen Patienten möglich ist, dann wenigstens die Therapie und Befreiung der Gesellschaft von den psychisch Kranken! Bei seiner Untersuchung von 200 Zöglingen des Berliner „Erziehungshauses“ waren dem Psychiater Otto Mönkemöller viele als „Psychopathen“ aufgefallen, bei denen er „angeborenen geistigen Schwachsinn“ und eine hohe „sittliche Verderbnis“ diagnostizierte, die sie als „geborene Verbrecher“ auswiesen. „Galgenphysiognomie“ und „Spitzbubengesicht“ sprächen eine deutliche Sprache. Das Gros dieser „Psychopathen“ sei „unerziehbar“ und es gelte, sie „unschädlich zu machen“. Zunächst einmal hieß „Unschädlichmachung“ möglichst lebenslanges Einsperren. Mönkemöller träumt 1903 von einer radikaleren Prophylaxe, der „Kastration“. „Aber“, sagt er resigniert, „vorläufig sind wir für diesen Radikalismus wohl noch nicht reif … “

Diese Haltung ließ viele Psychiater den Nationalsozialismus begeistert begrüßen. Sie erlebten ihn als Erfüllung ihrer langgehegten Träume. Endlich würden jene Barrieren fallen, die der Realisierung ihrer ehrgeizigen Pläne im Wege standen. In der Tat bestand das innenpolitische Programm der Nazis in der medizinischen Lösung der „sozialen Frage“: Alle Menschen, die gemessen am technischen Produktionsfortschritt nicht ganz gesund, leistungs- und anpassungsfähig waren, sollten medizinisch diagnostiziert, selektiert und   – bei attestierter Unheilbarkeit   – medizinisch beseitigt, das heißt getötet werden. Mit dem 1. September 1939 begann nicht nur der Vernichtungskrieg nach außen, sondern auch nach innen. Zwischen 1939 und 1941 wurden auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mehr als 100.000 Menschen umgebracht. Die „Erbkranken“ galten als Volksschädlinge, die wie andere Schädlinge bekämpft und vernichtet werden sollten. Massenmord als Schädlingsbekämpfung. Die Patienten wurden vergast. Mit Kohlenmonoxyd im Gaswagen im hessischen Hadamar zum Beispiel. Nach der zehntausendsten Tötung gab es Freibier für das ganze Personal. Nach Protesten aus kirchlichen Kreisen wurde die Aktion 1941 offiziell gestoppt. Angesichts des beginnenden Krieges gegen die Sowjetunion wollte man in der Bevölkerung keine ungute Stimmung aufkommen lassen. Das Euthanasie-Programm war deswegen unpopulär, weil die zur Vernichtung bestimmten Menschen meist Deutsche/Arier waren, keine Juden. Allerdings wurde in den Heil- und Pflegeanstalten auch ohne Hitler-Erlass in Eigenverantwortung der Ärzte weiter gemordet   – mittels Mangelernährung oder durch Verabreichung von Luminal, durch Veronal oder Morphium-Scopomalin-Spritzen.

„Es muss zur Sprache kommen“, und Uwe Timm sagt es oder lässt es sagen. In den Gesprächen zwischen dem fiktiven Weggefährten Wagner und Michael Hansen wird der Weg des Alfred Ploetz vom schwärmerischen Sozialisten zum Euthanasie-Befürworter und Hitler-Anhänger nachgezeichnet. 1905 gründete er die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene. Ploetz experimentiert mit Kaninchen, die mittels einer Elektrozange getötet werden, um ihre Gehirne zu sezieren. Da hatten sich die Wege von Ploetz und Wagner längst getrennt. Wagner kommentiert die Kaninchen-Experimente seines ehemaligen Freundes mit den Worten: „Mit jedem Leid der Kreatur geht ein Riss durch die Welt.“ 1933 verfasst Ploetz eine Ergebenheitsadresse an Hitler und versicherte, dass er dem Manne, „der die deutsche Rassenhygiene aus dem Gestrüpp ihres bisherigen Weges durch seine Willenskraft in das weite Feld freier Betätigung führt“, in „herzlicher Verehrung“ die Hand drücke. Hitler ernannte Ploetz 1936 zum Professor, im Gegenzug trat Ploetz in die Partei ein. Mit der Machtübernahme der Nazis wurden psychiatrisch-kriminologische Träume mörderische Wirklichkeit. Die nationalsozialistische „Unschädlichmachung“ der „Unerziehbaren“ und „Entarteten“ führte zu Ende, was kriminologisch und psychiatrisch längst vorgedacht war.

Die Toten ruhen lassen?

Sage niemand: Das ist lange her, das geht mich nichts mehr an. Warum lässt man die Toten nicht endlich ruhen? Uwe Timm antwortet auf diese Frage: „Wenn man die Toten ruhen lässt, kommen sie als Geister zurück.“ Bleiben die Motive der Täter im Dunkeln, schwirren sie umher wie Fledermäuse und sorgen weiter für Beunruhigung. Geister, in deren Gestalt das Alte wiederkehrt, sind die zeitgenössische Pränataldiagnostik und die Reproduktionsmedizin. In den vergangenen Jahren sind kaum noch Kinder mit für genetisch bedingt gehaltenen Krankheiten wie Trisomie 21 oder Mukoviszidose zur Welt gekommen. Die Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik hat dafür gesorgt, dass in Deutschland mehr als neunzig Prozent jener Frauen, die davon erfahren, dass ihr Baby voraussichtlich am Down- Syndrom leiden werde, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. „So löst die freie, individuelle Entscheidung, den Empfehlungen der Reproduktionsmedizin zu folgen, jene eugenisch motivierten Programme der Bevölkerungsregulierung ein, die sich autoritäre Staaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben haben“, schreibt der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard. Siebzig Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ ist der Akt des Ausmerzens auf diskrete und effizientere Weise vorverlegt worden. „Erbkrankes Leben“ wird still und unauffällig beseitigt. Auch hier kann man die eigentümliche Tendenz beobachten, dass Prozesse der Normierung und Regulierung von Menschen, die bisher von einer staatlichen Instanz gesteuert und den Menschen aufgezwungen wurden, auf die Individuen selbst übergehen. Sie nehmen ihre Kontrolle und Normierung in eigene Regie.

Neue-alte Abgründe. „Es muss zur Sprache kommen.“

Was hätten wir aus der Geschichte der Euthanasie zu lernen? Dass überall da, wo Menschen auf ihren verwertbaren Nutzen reduziert werden, sie also nicht um ihrer selbst willen respektiert werden, Gefahr im Verzug ist. Wo Menschen vorrangig nach ihrem wirtschaftlichen Nutzen beurteilt werden, ist der Status derer, die unbrauchbar und nicht leistungsfähig sind, prekär. Ihnen wird die Einfühlung verweigert. Mitleid und wechselseitige Verantwortung, Solidarität und gegenseitige Hilfe trocknen in einem derartigen Milieu peu à peu aus, es gedeihen stattdessen Konkurrenz, Feindseligkeit, Gleichgültigkeit und Kälte. Wenn diese Haltung sich in Krisenzeiten radikalisiert, wird irgendwann gefragt: Warum all diese Leute durchfüttern, die nichts zum Bruttosozialprodukt beitragen? Seit Jahren lesen und hören wir von gewaltsamen Übergriffen auf Obdachlose und Bettler   – gelegentlich mit tödlichem Ausgang. Wo bleiben unsere massenhafte Empörung darüber, wo unser Widerstand dagegen, wo unsere Solidarität mit den Schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft?

Fragen, die wir uns stellen sollten: Transportiert nicht die Debatte um die Freigabe der Sterbehilfe auch die stillschweigende Botschaft an die Alten, Hinfälligen und nicht mehr Leistungsfähigen, sie möchten sich doch bitte überlegen, ob sie den Starken und Leistungsfähigen derart lange auf der Tasche liegen wollen? Könnte im sozialdarwinistischen Klima der entfesselten Marktgesellschaft aus einem Recht nicht bald eine Pflicht werden?

Wir erleben seit Jahren das Wiederaufleben einer Sehnsucht nach ethnischer Homogenität und Reinheit der Gesellschaft. In ihrem Namen wurden und werden die schlimmsten Verbrechen und Barbareien begangen. Dahinter steht die Idee von einer „guten Gemeinschaft“, die von ihren negativen Teilen gereinigt ist. Von jenen Elementen, von denen man annimmt, dass sie die „gute Gemeinschaft“ korrumpieren. Die Vorstellung von einem homogenen sozialen Körper, von einer „guten Gemeinschaft“, ist etwas, das auch der Linken nicht fremd ist. Auch das muss zur Sprache kommen und kommt bei Uwe Timm zur Sprache. Durch den Mund von Karl Wagner erfahren wir einiges über das Liebäugeln der frühen Sozialdemokratie mit der Eugenik. Breit wurde über die Frage diskutiert, wie die Weitergabe von Erbkrankheiten verhindert und die Entstehung eines starken, gesunden und schönen Geschlechts befördert werden könnte. So sei es kein Zufall, dass die schwedische sozialdemokratische Regierung sich zu ihrer völkischen Verantwortung bekannt und 1935 die Sterilisation von Debilen angeordnet habe. Die Kehrseite aller Veredelungspläne sei die Ausmerzung des Schwachen, Abweichenden und Kranken.

In der Arbeiterbewegung gab es einen weitverbreiteten Fetischismus der Arbeit und der Produktion, die mit einer Verachtung des Bummelanten, Faulenzers, Drückebergers, Parasiten und Schmarotzers einherging. Produzieren um jeden Preis, lautete das Motto in der jungen Sowjetunion. Die Elektrifizierung verschlang die Sowjets, „Parasitismus“ und „Arbeitsscheu“ wurden zu Straftatbeständen und führten zur Verurteilung zu Straf- und Arbeitslager. Hätte man die arbeitenden Massen nach ihrer Meinung zum Umgang mit den Außenseitern der Gesellschaft befragt, hätte sich beinahe zu jeder Zeit eine Mehrheit für rabiate Umgangsformen bis hin zur Eliminierung gefunden. Schmarotzer müssen vertilgt und ausgemerzt werden, basta! In seinem viel gelesenen Buch Die Frau und der Sozialismus schrieb August Bebel: „Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“

In Max Horkheimers frühem Buch Dämmerung findet sich eine wichtige Anmerkung zum Thema Arbeit im Sozialismus: „In einer sozialistischen Gesellschaft wird die Freude nicht aus der Natur der zu leistenden Arbeit hervorgehen. Dies anzustreben ist ganz reaktionär. Die Arbeit wird vielmehr deshalb gern verrichtet werden, weil sie einer solidarischen Gesellschaft dient.“

Der kurze Frühling der Anarchie

Wir   – die Linken   – müssen uns also an die eigene Nase fassen und die enge Bindung des Marxismus/Sozialismus an Arbeit und Produktion kritisch überdenken. Lange wurde die Herrschaft der fetischisierten Produktion mit Sozialismus verwechselt. Es gab einige wenige Ausnahmen und Gegenentwürfe. Eine davon ist die Münchner Räterepublik aus dem Jahr 1919. Uwe Timm lässt Karl Wagner von ihr erzählen und schwärmen. Er hat sie aus nächster Nähe miterlebt und hegt große Sympathien für sie und ihre Protagonisten. Anarchisten, Literaten, Künstler wie Toller, Mühsam, Niekisch, Gesell und Landauer hatten die Regierung übernommen und verfolgten das Gegenteil der autoritären kommunistischen Parteien, nämlich einen freiheitlichen Kommunismus oder pazifistischen Anarchismus. Ein von Ernst Toller und Erich Mühsam verfasstes Dekret kündigte die Verwandlung der Welt in eine „Wiese voller Blumen“ an, in der „jeder seinen Teil pflücken“ könne. Lohnarbeit, Ausbeutung, jegliche Hierarchie und juristisches Denken werden für abgeschafft erklärt. Den Zeitungen wird auferlegt, auf der Titelseite neben den neuesten Nachrichten Gedichte von Hölderlin oder Schiller zu drucken. Was für ein Kontrast zur Elektrifizierungs-Prosa der Bolschewiki und zur linken Variante der instrumentellen Vernunft! Der kurze bayrische Frühling der Anarchie währte knapp vier Wochen, dann wurde der Ansatz einer Rätedemokratie von den Stiefeln und Gewehrkolben der Freikorpssoldaten zerstampft und zerschlagen und in Strömen von Blut ertränkt. Bei der Niederwerfung der Räterepublik durch Freikorpstruppen tauchten nach Wagners Erinnerung zum ersten Mal Hakenkreuze in der Öffentlichkeit auf. Gustav Landauer, Minister für Kultur, wurde Anfang Mai im Haus der Witwe von Kurt Eisner verhaftet und am Tag darauf von Männern des Freikorps Epp auf dem Weg in seine Zelle im Gefängnis Stadelheim erschossen. Man habe „diese Kakerlake totgetreten“, brüsteten sich die studentischen Mörder. „Gustav Landauer war all das, was sie nicht sein konnten, belesen, gebildet, interessiert, ein Mensch, der noch in Pflanzen Beseeltheit zu sehen glaubte, eine Welt ohne Hass predigte, für Gleichheit und gegen jegliche Macht und Gewalt war“, lässt Uwe Timm Wagner sagen. Ernst Toller wurde nach seiner Einlieferung ins Gefängnis Stadelheim just in die Zelle gelegt, in der man seinen Freund und Genossen Landauer kurz zuvor massakriert hatte.

Gegen den Terror der Totalität, gegen die abstraktive Gewalt der großen Begriffe und Apparate, helfen nur Sensibilität für besondere Umstände und Parteinahme für das Kleine und Einzelne. „Ich habe immer die Neigung zu sagen, dass die Totalität nicht das Ganze, sondern das Verlassene und Einzelne ist“, sagte Theodor W. Adorno 1939 im Rahmen einer Diskussion mit Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung. Klasse, Partei, Staat, Volk, Nation nötigen den Einzelnen zur Unterwerfung und Anpassung und schneiden das Besondere ab. Die Unterwerfung unter Abstraktionen lassen den Mensch selbst abstrakt werden. „An die Stelle des kapitalistischen Staates kann ein sozialistischer treten, ohne dass damit die Befreiung des Menschen bewirkt wird. Staat ist Herrschaft des Menschen über den Menschen. Die Menschen haben mit ihm den Tod zwischen sich gesetzt an die Stelle des Lebens“, heißt es bei Gustav Landauer. Eine Gesellschaft, die der Erzeugung des Menschlichen und Lebendigen dient, wächst nur auf krummem Holz und an nicht begradigten, mäandernden Bächen. „Wir aber brauchen in Wahrheit die immer wiederkehrende Erneuerung, wir brauchen die Bereitschaft zur Erschütterung, wir brauchen den Frühling, den Wahn und den Rausch und die Tollheit“, schrieb Landauer 1918.

Auf Landauers und Tollers blühender Wiese wäre auch Platz für Kohlweißlinge gewesen. Eingangs seines Romans erinnert sich Uwe Timm daran, dass sie als Kinder dazu angehalten wurden, Kohlweißlinge zu jagen, deren Raupen den kostbaren Kohl fraßen. „Die Kinder jagten sie, schlugen mit dünnen Weidenruten nach ihnen, die Flügel zerfetzt, taumelten sie zu Boden. Wir waren die Retter. Wir töteten Schädlinge.“

Zum Buch:

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der „Edition Georg Büchner-Club“ erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Der erste Band „Zwischen Amok und Alzheimer“ ist 2015 im Verlag Brandes & Apsel erschienen.

Details: Uwe Timm; Ikarien, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 512 Seiten, 24,00 €
http://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=40602#note_1


Quelle: Nachdenkseite
http://www.nachdenkseiten.de/?p=40602