Buchempfehlung: «Den kranken Menschen verstehen»
Giovanni Maio erkennt das grösste Kapital der Heilberufe im inneren Antrieb, sich dem leidenden Menschen zuzuwenden. Diese innere Motivation werde durch das heutige System der Medizin zunehmend abgebaut. Maio will diesen Abbau stoppen durch eine Schärfung des Bewusstseins dafür, wie wertvoll dieses innere Anliegen ist.
Von eigenen Begegnungen mit Patienten, Berichten von Medizinstudentinnen und -studenten und Erlebnissen in öffentlichen Diskussionsrunden ausgehend, legt er seine von grosser Sorgfalt und Menschlichkeit getragenen Reflexionen dar. Im ersten Teil des Buches führt er den Leser ganz nahe an den kranken Menschen heran und gibt ihm die Möglichkeit, sich in dessen «aus der Normalität gefallene Situation» einzufühlen.
Sich einfühlen zu können ist – neben dem unabdingbaren medizinischen Sachwissen – Grundvoraussetzung für das Gelingen einer medizinischen Behandlung. Im zweiten Teil des Buches entwickelt Maio Wege zur Bewältigung des Krankseins, die für Patienten und jeden klinisch Tätigen hilfreich und wertvoll sind.
Kernqualifikation des Arztes
Die Behandlung des kranken Menschen folgt in unserer Zeit zunehmend den gedanklichen Vorgaben der industriellen Produktion, was der Realität einer gelingenden Behandlung in keiner Art und Weise entspricht.
Giovanni Maio setzt dem falschen Vergleich einer ärztlichen Behandlung mit einem Industrieprozess entgegen, dass es in der Medizin nicht um ein Vorgehen nach Gebrauchsanweisung geht, sondern:
«Die Kernqualifikation eines Arztes liegt im gekonnten Umgang mit Komplexität, in der Bewältigung von Unsicherheit, in der professionellen Handhabung von Unwägbarkeiten und durch diese Qualifikationen hindurch letzten Endes in der sorgsamen Erkundung dessen, was für den konkreten Patienten das Beste ist.»
Schon im ersten Teil des Buches führt Giovanni Maio einen Begriff ein, dessen Bedeutung später noch deutlicher wird: den Begriff des Dialogs. Gute Entscheidungen können sich in der Medizin nicht ohne Dialog ergeben.
«Kultur des Begleitens»
Vier grosse Herausforderungen der Medizin hat Giovanni Maio exemplarisch für viele andere ausgewählt. Die Behandlung von Schmerz, Krebs, Demenz und der
«Umgang mit dem Sterben» sollen auf den Kern der Aufgabe der Medizin verweisen, nämlich «die Betreuung von Menschen, die an Symptomen und Krankheiten leiden, die man nicht einfach mit einer entsprechenden Handhabung aus der Welt schaffen kann.»
Gerade sie drohen aus dem Raster einer ökonomisierten Medizin herauszufallen. Maio entwickelt Zugänge zu Menschen mit diesen Leiden, die sowohl für die Patienten als auch für die Helfer ermutigend und befreiend sind. In einer «Kultur des Begleitens» will das eigene Potential erkannt und ein lebensermöglichender Umgang mit den vielfältigen Symptomen erlernt werden.
Anthropologische Grundvoraussetzungen
Stets geht der Arzt Maio von menschlich verbindenden anthropologischen Grundvoraussetzungen aus:
«Denn der Mensch ist kein egologisches Wesen, sondern er ist von Grund auf ausgerichtet auf den anderen Menschen und kann nichts allein aus sich selbst. Und in der Möglichkeit, einem anderen Menschen das Gefühl zu geben, dass er nicht alleine ist in seiner Not, in dieser Möglichkeit hat jeder Mensch die Chance, das, was er von anderen empfangen hat, in vielfacher Weise zurückzugeben – und genau diese Chance bietet die Medizin.»
Die Krankheit Demenz, die durch nichts «positiviert» werden kann, erfordert für ihre Bewältigung den Blick auf die ganze menschliche Gemeinschaft:
«So kann die Herausforderung Demenz auch eine Chance sein für einen neuen Weg, die Sorge um den schutzbedürftigen Menschen als zentrale Kulturleistung einer Gesellschaft neu zu entdecken.»
Nein zur ethischen Resignation
Giovanni Maio bezieht klar Position zum heute zunehmend propagierten assistierten Suizid:
«Warum fragen wir bei einem Suizid primär nach der Freiheit und nicht nach der Not, die dahintergesteckt hat? Nur danach zu fragen, ob ein Mensch den Suizid wohlüberlegt begangen hat oder nicht, ist ein reduktionistischer Zugang auf diese existenziell so wichtige Thematik und zugleich eine ethische Resignation.»
Menschen in Not wünschen sich nicht primär den Tod, sondern eine andere Situation des Lebens, die ihnen jedoch unerreichbar zu sein scheint. Nur wenn der Helfer bereit ist, sich auf diese Not einzulassen, ganz genau zuzuhören, kann er mit dem Leidenden zusammen einen Ausweg entwickeln.
«Wege der Bewältigung»
Jeder einzelne Abschnitt des Kapitels «Wege der Bewältigung» birgt Kostbarkeiten für die Begegnung zwischen Helfer und Patient und das Handeln in der Praxis: «Annehmen lernen – das gute Leben als Kunst des Sich-Einrichtens», «Vertrauen – oder warum man das Eigentliche nicht einklagen kann», «Hoffen – was Hoffnung für die moderne Medizin bedeuten kann» und «Den kranken Menschen verstehen». Giovanni Maio hinterfragt auch hier vieles, was in den letzten Jahren in Spitälern und Praxen unter dem Diktat der Ökonomisierung Einzug gehalten hat.
Die Vertrauensbeziehung darf nicht zur Vertragsbeziehung verkommen.
«Es ist die Zwischenmenschlichkeit, die aus der Begegnung eines Hilfsbedürftigen mit einem befähigten Helfer eine tragfähige Vertrauensbeziehung macht.» Und: «Wenn es gelingt, aus dem Arzt-Patient-Kontakt eine Begegnung im Sinne einer echten ‹Wir-Begegnung› zu machen, öffnet sich der Raum für Hoffnung.»
Die Lektüre des Buches eröffnet mit jedem Satz Welten, die wohltuend menschlich sind. Das Helfende in der Arzt-Patient-Beziehung wird hier wieder erweckt und gibt damit Hoffnung auf eine Rückbesinnung der Medizin auf ihren eigentlichen Sinn. Das Buch ist wärmstens zu empfehlen.
«Diese Orientierung an den Naturwissenschaften findet heute jedoch eine Verstärkung insofern, als sie sich paart mit einer folgenschweren Orientierung an der Ökonomie. Ökonomie und Naturwissenschaft bilden eine so starke Allianz, dass sich unter der Vorherrschaft dieser beiden Paradigmen die gesamte Medizin grundlegend verändert. Diese Veränderungen vollziehen sich fast unmerklich, da sie Haltungen verändern. Möglicherweise mehr noch als die äusseren Abläufe betreffen sie das Bewusstsein der Medizin, ihre innere Identität.
Verrichten, Messen, Prüfen, Nachweisen – all das wird heute verlangt, und erstaunlicherweise nicht allein dort, wo tatsächlich nur Prozesse ablaufen wie in der Industrie, sondern auch dort, wo es ausschliesslich um Menschen geht. Auch die Behandlung des kranken Menschen folgt zunehmend den gedanklichen Vorgaben der industriellen Produktion. Das ist das eigentliche Eintrittstor einer Umwertung der Werte in der Medizin.
Daher ist es wichtig, sich über den Unterschied zwischen der Produktion von Gegenständen und der Behandlung von Menschen genauer Gedanken zu machen. Warum ist Medizin kein Produktionsprozess? Weshalb ist das über die Medizin verhängte industrielle Denken so ungenügend und schädlich?»
Aus: Giovanni Maio:
Den kranken Menschen verstehen.
Für eine Medizin der Zuwendung. S.13
ISBN: 978-3-451-30687-7
«Ob ein Mensch unter chronischen Schmerzen leidet, ob er Krebs hat oder eine beginnende Demenz – immer ist er dazu herausgefordert, einen Umgang mit diesen Phänomenen zu erlernen, der es ihm erlaubt, neue Gestaltungsräume für sich zu entdecken und sich der Krankheit trotz der mit ihr verbundenen Einschränkungen nicht ausgeliefert zu fühlen. Im Zuge der Industrialisierung und Ökonomisierung der Medizin geht nicht weniger verloren als der Blick für die Notwendigkeit einer Haltung des Beistandes.
Durch sie vermitteln wir dem kranken Menschen Anerkennung, und dies lässt in ihm ein Gefühl der heilsamen Selbstachtung aufkommen. Das ist der eigentliche ‹Wirkfaktor› einer Medizin der Zuwendung.
Für eine Medizin der Zuwendung – so haben wir das Plädoyer dieses Buches umschrieben. Es ist ein Plädoyer für etwas, was seine Selbstverständlichkeit in unserem durchrationalisierten Gesundheitssystem verloren hat, jedoch als Kern ärztlicher, psychotherapeutischer und pflegerischer Praxis neu aufgewertet werden muss. Gegenwärtig ist die moderne Medizin so strukturiert, als ginge es vor allem um die Behandlung von starken Gesunden und nicht um die von angewiesenen, hilfsbedürftigen, ja oft verzweifelnden kranken Menschen.
Denn die moderne Medizin unterlässt es, eine zwischenmenschliche Verbundenheit mit dem leidenden Menschen zum Ausdruck zu bringen, die ihn auffangen, ihm einen neuen Halt geben, ihn wieder stabilisieren kann, und zwar nicht durch ständige Unterstützung, sondern durch Mobilisierung der inneren Kräfte des kranken Menschen selbst. Zuwendung bringt Kräfte in Bewegung, sie mobilisiert und ruft ungeahnte Bewältigungspotentiale hervor. Es ist daher schlicht unverantwortlich, gerade diese Kraft stillschweigend wegzurationalisieren. Denn die Medizin laugt damit den Nährboden ihrer Kernidentität aus – und das kann auf Dauer nicht gutgehen.»
Giovanni Maio
Giovanni Maio, Prof. Dr., geboren 1964, Studium der Medizin und Philosophie in Freiburg, Straßburg und Hagen. Seit 2005 Professor für Bioethik, seit 2006 Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert Ludwigs Universität Freiburg, und Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Ethik-Zentrums Freiburg.
- Quelle: Aus: Giovanni Maio: Den kranken Menschen verstehen. Für eine Medizin der Zuwendung. S. 206-208, ISBN: 978-3-451-30687-7
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