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Andrea Hirata: Die Regenbogentruppe

04. April 2013

Andrea Hirata: Die Regenbogentruppe

Gut gewinnt gegen gierig

von Martin Ebel

die regenbogentruppe

Andrea Hirata: Die Regenbogentruppe. Roman. Aus dem Indonesischen von Peter Sternagel. Hanser, Berlin 2013. 270 S., ca. 28 Fr.

Andrea Hirata hat über seine indonesische Dorfschule einen Roman geschrieben. Er rührte Millionen, wurde verfilmt und zum Weltbestseller.

Der Autor hat vom Erlös eine eigene Schule finanziert.

Das Dorf, in dem Andrea Hirata aufgewachsen ist, heisst Gantong und ist zu klein für die meisten Landkarten. Es liegt auf der Insel Belitung, zwischen Sumatra und Borneo gelegen. Wer hätte schon je von ihr gehört? Dabei leitet sich von ihr der Name eines der weltgrössten Rohstoffkonzerne ab, BHP Billiton. Auf Billiton/Belitung ruht viel Zinn unter der Erde, das schon von den niederländischen Besatzern gefördert wurde. Die Schule, von der Hirata in seinem Roman erzählt, liegt neben einer Zinnmine und soll dieser weichen. Wie sich die Schüler und ihre junge Lehrerin Bu Mus erfolgreich gegen die Bergbaugesellschaft wehren, ist der dramatische und auch etwas sentimentale Höhepunkt des Buchs. Es ist die alte Geschichte von David gegen Goliath, von Herz gegen Portemonnaie, gut gegen gierig . Dass die Guten diesmal gewinnen, befriedigt des Lesers Gemüt ungemein.

5 Millionen Menschen haben in Indonesien die Geschichte der «Regenbogentruppe» verschlungen   – das heisst: 5 Millionen legale Buchkäufer. Darüber hinaus, erzählt der Autor, gebe es 15 Millionen Raubdrucke. Wenn es stimmen sollte: zweimal so viel, wie die Schweiz Einwohner hat. Aber Indonesien, dieser südasiatische Archipel, von dem wir   – mit ein paar touristischen Ausnahmen   – so wenig wissen, ist ja auch das viertgrösste Land der Welt, an der Bevölkerung gemessen: 250 Millionen.

Der zehnte Schüler

Andrea Hirata ist ein kleiner Mann mit langem, lockigem Haar, melancholischen Augen und einer nach hinten gedrehten Kappe. Und einem breiten Lächeln, das er auch dann aufsetzt, wenn er ernste Sätze sagt. Zum Beispiel den: «Unser Problem in der Schule war die Ausstattung, in den reichen Ländern ist es die Motivation.» Genauer: In Gantong ging es erst mal darum, überhaupt eine Schule zu haben. Im Roman und in der Wirklichkeit, damals in den frühen 80er-Jahren. In der Eröffnungsszene der «Regenbogentruppe» warten neun neue Erstklässler darauf, dass noch ein zehnter auftaucht   – was auch geschieht. Sonst wäre die Klasse nicht zustande gekommen, die Schule geschlossen worden. Der zehnte ist Harun, schon 15 Jahre alt und geistig behindert. Egal. Bu Mus, die erst 15 Jahre alte Lehrerin, kann mit dem Unterricht beginnen.

Die Dorfschule von Gantong ist eher eine Scheune; der Zementboden zerbröckelt, das Dach voller Löcher, die Wände schief. Die Schüler haben keine Bücher und keine Schuhe. Für einige ist der Schulweg weit und abenteuerlich; sie müssen durch angeschwollene Bäche waten und Krokodilen ausweichen. Was sie trägt, ist der Enthusiasmus: der ihrer Lehrerin und ihr eigener.

Es sieht fast so aus, als würde dieser Enthusiasmus Andrea Hirata heute noch tragen, denn wie ein Mantra wiederholt er den Kern seines Aufstiegs vom Sohn eines kinderreichen Bergarbeiters zum studierten Ökonomen und Bestsellerautor: Inspiration. «All you need is inspiration», könnte man in Anlehnung an einen Beatles-Song sagen. Nicht alle indes trägt sie so weit: Sein Schulkamerad Lintang, der hellste Kopf der Klasse, ein Mathematikgenie, muss die Schule verlassen, als sein Vater verunglückt, und als Fischer die Familie ernähren. Im Roman trifft ihn Hirata später wieder, er ist Lastwagenfahrer, die Mathematik ist vergessen. Der wirkliche Lintang, erzählt Hirata, sei jetzt Kokosnussfarmer, immerhin. Ein Schritt aus dem Elendskreislauf der Tagelöhnerei heraus.

Andrea Hirata ist heute eine Art Bildungsbotschafter mit sich selbst als lebendem Demonstrationsobjekt. Sechs Jahre hat er die Dorfschule besucht, dann konnte er dank eines Stipendiums weiter lernen, sogar studieren und einen Job bei einem Telekommunikationsunternehmen bekommen. Ein Literat ist er nicht unbedingt, aber geprägt von der Erzähltradition der Malaien: Überall sässen die Leute zusammen, palaverten und erzählten sich Geschichten, sagt er. Seinen Roman schrieb er in drei Wochen runter, auf eine Eingebung hin: 2004, nach dem Tsunami, hatte er sich als Freiwilliger zu Aufräumarbeiten gemeldet. Da sah er auf der Strasse eine Lehrerin, die mit einem grossen Schild ihre Schüler suchte. Bu Mus fiel ihm ein, und auch ein einst geleistetes Gelübde   – über sie und ihre Schule ein Buch zu schreiben. Die erste Fassung, sagt er heute, habe mehr Tagebuchcharakter gehabt und sei viel umfangreicher gewesen; zu einem «richtigen» Roman wurde sie durch den «brillanten» amerikanischen Lektor.

Effektvoll geraten ist «Die Regenbogentruppe» auf jeden Fall, mit klaren Konflikten, grossen Gefühlen und sympathischen Typen, aber auch mit realitätsgesättigten Bildern und Szenen, die man in keinem westlichen Roman finden würde   – weil es hier um eine andere Realität geht. «Mein ganzer Mut lag verschüttet unter dem Haufen von gesalzenem Rettich hinten in der Ecke», schreibt der Icherzähler, als er es wieder einmal nicht gewagt hat, das Mädchen im Dorfladen anzusprechen, wo er die Schulkreide kauft, die sie ihm durch eine Klappe zuschiebt, weshalb er immer nur ihre Hände und Fingernägel zu Gesicht bekommt. Ihre Stimme, man höre und staune, ist «sanft wie Tofu». Ein anderes Hirata-Bild ist die Metapher der verhungernden Maus im Reisspeicher: eine Metapher für Indonesien; für obszönen Reichtum neben bitterster Armut. Denn natürlich hat die Zinngesellschaft ihre eigene Schule, den Kindern der höheren Angestellten vorbehalten, ausgestattet mit allem, was nötig ist   – und was in entwickelten Ländern wie selbstverständlich vorausgesetzt wird.

Das Buch gibts in 78 Ländern

Hiratas Roman ist durchaus politisch, er schreibt von internem Kolonialismus, von Rassenproblemen und von einem System, das die arme Bevölkerungsmehrheit systematisch demotiviert und Begabungen dort nicht fördert, sondern übersieht. «Wir wagten gar nicht, zu träumen», heisst es einmal über die zehn wackeren Schülerlein   – aber natürlich gewinnen sie dann doch wie durch ein Wunder den Wettbewerb der Karnevalsumzüge, auch gegen die Schule der Zinngesellschaft. Denn bei allem autobiografischen Realismus, bei aller Systemkritik ist «Die Regenbogentruppe» auch ein modernes Märchen, dazu beschaffen, die Welt zu rühren. Und sie ist gerührt. Die Verfilmung war in Indonesien ein nie da gewesener Kinoerfolg und wurde auch auf der Berlinale gezeigt.

Hirata selbst hat seinen Job vor zwei Jahren gekündigt und ist nun hauptberuflich Schriftsteller. Sechs Romane sind dem Erstling bereits gefolgt; übersetzt wurde bisher nur der erste. In 78 Ländern ist er bereits erschienen. Der Autor lebt wieder in Gantong, das nicht mehr ganz so klein und ganz so arm ist wie damals. Indonesien erlebt einen Aufschwung; auch in den Schulen habe sich viel geändert, sagt er und lobt die Anstrengungen der Regierung und die Vielzahl der Förderstipendien. Er ist dankbar   – und will etwas zurückgeben: Mit einem Teil seiner Tantiemen hat Hirata ein Literaturmuseum finanziert. Und eine Schule! In der unterrichtet er auch selbst (wenn er nicht gerade irgendwo auf der Welt eine neue Übersetzung vorstellt): Englisch und Mathematik.

Quelle: Tages-Anzeiger, 2013-04-04
www.tages-anzeiger.ch