(Red. Globalbridge) Es gibt ihn noch, den absoluten Kenner der russischen und europäischen Politik-Geschichte, der ohne Rücksicht auf die Interessen-gebundenen Berichte und Kommentare unserer europäischen Medien erklären kann, wie es zur heutigen hochgefährlichen Situation in Europa kommen konnte. Richard Sakwa, der emeritierte Professor an der britischen Universität in Kent, wurde eben von einem Mitarbeiter der russischen Zeitschrift «Literatur-Magazin» interviewt. Man kann dieses Interview gar nicht hoch genug zur Lektüre empfehlen! (cm)
Zur Einleitung im «Literatur-Magazin»: Kann Russland zum Dialog mit dem Westen zurückkehren? Oder rollt die Menschheit vom Kalten Krieg zum „heißen“ Krieg? Was ist das Wesentliche an der Ukraine-Krise? Werden wir zu einer multipolaren Welt kommen? Ist es von außen möglich, Russland auf der Grundlage interethnischer Zwietracht zu spalten? Wir sprechen mit dem führenden britischen Russland-Experten, dem emeritierten Professor der Universität von Kent und Mitglied des «Valdai International Discussion Club», dem Politikwissenschaftler Richard Sakwa.
Grigorii Sarkisov: Professor Sakwa, Sie sind Autor vieler Bücher und Artikel über Russland und Sie sind oft in unserem Land, halten Vorträge und geben Interviews. Wird das in England in diesen „heroischen“ Zeiten nicht zu einem Problem?
Richard Sakwa: In Großbritannien hat man daraus eine „moralische Frage“ gemacht. Man sagt, man könne nicht mit Russland verhandeln, weil es sich im Krieg mit der Ukraine befindet. Aber aus irgendeinem Grund hat damals niemand zum Boykott der USA und Großbritanniens während des Vietnamkriegs, der Invasion des Irak, der Bombardierung Serbiens, der Zerstörung Libyens aufgerufen. Ich bin ein Befürworter der Diplomatie, der Dialog ist jetzt mehr denn je notwendig. Und als Wissenschaftler muss ich erklären, was vor sich geht, was einen ständigen Dialog mit Kollegen und Politikern erfordert. Und es ist gut, dass es den Valdai Club gibt, eine klassische liberale Diskussionsplattform, auf der jeder seine Meinung äußern kann.
Warum kam es zum zweiten Kalten Krieg, wenn es mit dem Verschwinden der UdSSR doch keine ideologischen Widersprüche zwischen Ost und West mehr gab?
Als George Orwell im September 1945 in einem Artikel der «Tribune» den Begriff „Kalter Krieg“ prägte, dachten nur wenige, dass dieser so lange andauern würde. Doch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begann der erste Kalte Krieg, der bis zum Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 andauerte. Dann gab es einen 25-jährigen kalten Frieden, der einem neuen kalten Krieg wich. Das nukleare Gleichgewicht trug eine Zeit lang dazu bei, „eine Welt, die keine Welt ist“, wie Orwell es ausdrückte, zu verlängern. Doch 2014 (durch den Putsch in Kiev, Red.) brach das durch den Kalten Krieg geschaffene europäische Sicherheitssystem spektakulär zusammen. Europa hatte fast dreißig Jahre lang in Ungewissheit gelebt und war in den Institutionen und Praktiken des Kalten Krieges festgefahren, was dazu führte, dass es nicht in der Lage war, Strukturen und Ideen zu entwickeln, die an die neue Realität angepasst waren.
Ist es das, was Sie die Krise der Zielsetzung in Europa nennen?
Es gibt da kein Ziel, weil es keine Dialektik der Entwicklung gibt, sondern eine endlose Bewegung im Kreis, die die Politiker schwindlig werden lässt. Das kann man auf der alltäglichen Ebene sehen. In meiner Jugend zum Beispiel sprachen selbst Labour-Politiker immer von konkreten Zielen: Hier wird eine Brücke gebaut, dort eine Fabrik und dort ein Atomkraftwerk. Es gab immer eine Vision von der Zukunft, eine Art Plan. Jetzt sagt niemand mehr, wohin die Reise geht. Das hat sich auf die gesamte europäische Politik ausgewirkt.
In den Jahren des Kalten Krieges ist keines der grundlegenden Probleme der europäischen Sicherheit gelöst worden. Es ist die Unfähigkeit Europas, ein integratives und umfassendes Friedensregime für den gesamten Kontinent zu schaffen, die zu den derzeitigen Konfrontationen und Unstimmigkeiten geführt hat. Europa hat einfach seine „Bürgerkriege“ wieder aufgenommen. Die Ukraine ist dafür ein beredtes Beispiel. Dieser Konflikt hat die zugrundeliegenden „Spannungen“ in der europäischen Ordnung und das „Versagen“ des Sicherheitssystems gezeigt, das am Ende des Kalten Krieges noch gut funktioniert hatte. Jetzt ist der Zusammenbruch eines „geeinten und freien“ Europas offensichtlich.
Sind wir von einem Kalten Krieg in einen anderen Kalten Krieg gesprungen?
Ja, und er ist viel gefährlicher und tiefer als der erste. Dort war alles klar: Kommunismus gegen Kapitalismus, der Kampf der Ideen. Dann tauchte der „politische Westen“ auf. Es entstand ein gemeinsamer wirtschaftlicher und humanitärer Raum in Europa, und das ist gut so. Aber zu dieser Zeit wurde auch der amerikanische militärisch-industrielle Komplex stärker, was unweigerlich zu einer schleichenden Militarisierung von Staat und Gesellschaft führte. Deshalb empfand der Westen das Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 als seinen Sieg. Doch in der UdSSR sprach man unter Gorbatschow von einer Rückkehr zu den universellen menschlichen Werten und erwartete gleichberechtigte Beziehungen zum Westen unter Anerkennung der Marktwirtschaft und der Menschenrechte. Gorbatschow war sich sicher, dass 1989 der „Geist des April 1945“ in die Welt zurückgekehrt war, als sich sowjetische und amerikanische Soldaten an der Elbe umarmten. Aber der Westen hatte diesen „Geist von 1945“ längst vergessen und verhielt sich gegenüber der UdSSR und dann gegenüber Russland nicht als Partner, sondern als Sieger. Und in Washington begann man ernsthaft über das „Ende der Geschichte“ zu sprechen.
Schließlich bekamen die USA damals ein Jahrzehnt völliger Handlungsfreiheit und begannen, sich im wahrsten Sinne des Wortes als „Herren der Welt“ zu fühlen?
Ja, das Verschwinden der UdSSR führte zu einem Ungleichgewicht, zur Entstehung einer unipolaren Welt, in der die USA wahllos regierten. Aber die unipolare Welt ist nicht sicherer geworden und hat keinen Frieden gebracht. Amerika, das sich als Hegemon fühlte, machte in den 90er Jahren, was es wollte, ohne auf die UNO zu achten und noch weniger auf den „Geist von 1945“. Washington zog es vor, alle Probleme mit militärischer Gewalt zu lösen. Aber das waren Widersprüche zwischen zivilisatorischen, nicht ideologischen Systemen.
Washington ging und geht immer noch davon aus, dass diese Systeme nicht friedlich koexistieren können und alles mit Gewalt entschieden werden muss. Aber Russland, China und viele andere Länder glauben, dass die Welt ein grundlegend neues System von Beziehungen braucht, das auf Gleichheit beruht und nicht auf dem gewaltsamen Diktat einer Supermacht. Der Westen und der Osten verstehen einander immer weniger.
Hatte der alte Kipling also recht, als er 1889 bemerkte, dass der Westen und der Osten nicht zusammenkommen können. Der Osten ist der Osten und der Westen ist der Westen?
Vielleicht hatte er Recht, aber heute wird immer deutlicher, dass diese „zivilisatorische Diskrepanz“ zweitrangig ist. Die Hauptursache für die Instabilität ist Amerikas Versuch, die globale Hegemonie aufrechtzuerhalten, was zu einer Reihe von Kriegen und sogenannten Farbrevolutionen führt. Ich bin kein Idealist, aber ich bin überzeugt, dass auch solche Widersprüche friedlich gelöst werden können. Die Idee eines paneuropäischen Hauses von Lissabon bis Wladiwostok ist schön, aber dieser Paneuropäismus widerspricht dem auf der US-Hegemonie basierenden Atlantizismus. Dies ist ein strategischer Fehler, denn ohne ein Gleichgewicht der Kräfte kann es keinen Frieden geben. Es ist eine Tatsache, dass sich der politische Westen radikalisiert hat und … wie soll ich es ausdrücken?
Die Russen sagen in solchen Fällen „оборзел“. Frei übersetzt heißt das etwa so viel wie „unverschämt“. Oder, höflicher ausgedrückt, sie haben aufgehört, die Grenzen zu sehen.
Ein sehr treffendes Wort! Dieser politische Westen nimmt die UNO „nicht mehr wahr“; die verabsolutierten Menschenrechte schützen nicht mehr die Menschenrechte, sondern werden als Instrument zur Erreichung geopolitischer Ziele eingesetzt; die Militarisierung bleibt die „Lokomotive der Wirtschaft“; die ad absurdum geführte „Liberalisierung“ hat sich in ihr Gegenteil verkehrt, indem sie den Staat verleugnet und damit in die Anarchie führt. In diesem Sinne ist der „neue Konservatismus“ der USA, bei dem „Amerika über alles“ steht, bezeichnend.
Ich erinnere mich, dass jemand einmal sagte, „Deutschland über alles“ … Die Idee der Pax Americana ist also lebendig? Allerdings hat Außenminister Blinken kürzlich zugegeben, dass Amerikas Hegemonie zu Ende geht.
Objektiv gesehen geht sie zu Ende. Aber Washington glaubt immer noch an sein Recht auf Messianismus und Welthegemonie und gibt die Logik der Konfrontation nicht auf. Das wurde nach der 78-tägigen Bombardierung Jugoslawiens, dem unprovozierten Krieg im Irak und der Zerstörung Libyens endgültig klar. Danach begann das, was ich als postwestliches Russland bezeichne. Aber es ist nicht die westliche Zivilisation oder Kultur, die vom „post-westlichen“ Russland verleugnet wird, sondern die westliche Politik, die zu einem Hindernis für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hauses als wichtigste Voraussetzung für die gemeinsame Sicherheit in Europa und der Welt geworden ist.
Sie mögen mich Großbritanniens neuesten „Gaullisten“ nennen, aber ich stimme mit dem Enkel von General de Gaulle, Philippe de Gaulle, tatsächlich überein, der die Lösung nicht in der Stärkung und Erweiterung der NATO sieht, sondern in der Schaffung eines gemeinsamen wirtschaftlichen und humanitären Raums vom Atlantik bis zum Pazifik.
Ist es prinzipiell unmöglich, normale Beziehungen zu Amerika zu unterhalten?
Normale Beziehungen sind gleichberechtigte Beziehungen. Aber dafür müssen die Amerikaner vom Atlantizismus abrücken und aufhören, die Welt als ihren Hinterhof zu betrachten, in dem sie tun und lassen können, was sie wollen. Bislang bezweifle ich, dass sie in einer Welt der Gleichberechtigten leben wollen. Sie sind an die Rolle des Hegemons gewöhnt und werden diese Rolle nicht aufgeben.
Die EU, ein „politisches und wirtschaftliches Anhängsel der NATO“
Ist es möglich, die EU und die NATO heute als eine Einheit wahrzunehmen?
Für mich war die EU immer ein Projekt des Friedens. Jetzt ist sie leider ein Kriegsprojekt. Wir hatten erwartet, dass mit dem Ende des Kalten Krieges ein gemeinsamer Wirtschaftsraum in Eurasien ohne Grenzen entstehen würde, wir hatten gute Beziehungen zwischen Europa und Russland erwartet. In Wirklichkeit ist die EU zu einem politischen und wirtschaftlichen Anhängsel der NATO geworden.
Oder brauchen die Staaten vielleicht einfach kein geeintes und starkes Europa? Entschuldigen Sie, aber zum Beispiel ein Bündnis zwischen Berlin und Moskau war ja schon immer ein „schrecklicher Traum“ der Angelsachsen. Wollen sie ein solches Bündnis auch jetzt nicht anstreben?
Die Idee der Ostpolitik ist in der Tat seit langem in den Köpfen der Deutschen vorhanden. Es war eine für Deutschland günstige Politik, die eine enge Zusammenarbeit mit Russland in allen Bereichen – von der Wirtschaft bis zur humanitären Hilfe – beinhaltete. Aber, wie Sie richtig bemerkten, passte ein solches Bündnis Washington und London nicht, was bedeutet, dass es ein solches Bündnis nicht geben konnte, insbesondere als die EU Teil des politischen Westens wurde. Das „europäische Projekt“ funktioniert nicht mehr, und leider sehe ich noch keinen Weg zu einem Kompromiss in den Beziehungen Europas zu Russland.
Das Ende der Diplomatie
Sind alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft?
Heute erleben wir die Beerdigung der alten Schule der Diplomatie, die auf unveränderlichen Gesetzen und Regeln beruhte, die sogar auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eingehalten wurden. Jetzt ist der diplomatische Dialog auf fast null reduziert worden. Dies ist das Ergebnis des Vorgehens des politischen Westens als ein einheitliches System westlicher politischer, finanzieller und kultureller Institutionen, die von Washington und London geschaffen und „gesattelt“ wurden. Während des Kalten Krieges wurden diese Institutionen geschaffen, um dem Westen im Kampf gegen die UdSSR zu helfen. In den Jahren 1989-1991 schien es, als würden sie als Überbleibsel der Vergangenheit aussterben. Aber die Überreste sind nicht verschwunden, sondern haben sich sogar verstärkt. Jetzt wandelt sich die NATO gerade von einem regionalen zu einem globalen Bündnis, und es ist bereits die Rede von einem asiatisch-pazifischen „Zweig“ des Bündnisses. Die NATO wird zu einem Instrument zur Förderung der amerikanischen Ideologie, genau wie der IWF, die WTO oder die Weltbank.
Die Amerikanisierung Europas ist in Wirklichkeit die Kolonisierung der Alten Welt, nicht wahr? Wer steckt dahinter? Der berühmt-berüchtigte Deep State?
Ich glaube nicht, dass hier eine „Verschwörungstheorie“ am Werk ist. Ich würde von den globalen Interessen der USA sprechen, die nach der Zerstörung der UdSSR absichtlich das Gleichgewicht der Kräfte gestört haben, und die Vasallisierung Europas ist eine der Folgen dieser Politik. Ja, es gibt noch Inseln des Widerstands: Ungarn mit Orban, die Slowakei mit Fico, Serbien mit Vucic, es gibt die „Alternative für Deutschland“ in Deutschland oder Marine Le Pen in Frankreich. Aber die anderen wehren sich nicht mehr, der politische Westen hat sogar die politische Elite Europas absorbiert.
Kann der politische Osten die Situation ausgleichen?
Der Kristallisationsprozess des politischen Ostens ist gerade im Gange. Es handelt sich dabei nicht um einen primitiven Anti-Westen, sondern um ein bewusstes Gegengewicht, eine Alternative zum politischen Westen, um das Gleichgewicht der Kräfte in Europa und in der Welt zu sichern. Das Herzstück dieses Prozesses ist die russisch-chinesische Allianz, die den „Geist von 1945“ zurückbringen will. Moskau und Peking wollen Frieden, Kooperation statt Konfrontation, eine Rückkehr zu einer Welt, die nicht auf Washingtons protektionistischen „Regeln“, sondern auf internationalen Gesetzen beruht. Die BRICS und die SCO zeigen bereits Beispiele für eine solche Zusammenarbeit. Indien, Vietnam, Thailand, Singapur, Malaysia und andere sich schnell entwickelnde Staaten erklären, dass sie ein ureigenes Interesse daran haben, die Logik des Kalten Krieges und des Atlantizismus zu vermeiden. Sie sehen, wie sich die NATO in die asiatische Region einschleicht, aber sie wissen: Wo es die NATO gibt, gibt es auch Krieg. Die Gefahr besteht darin, dass sich die NATO von einem aggressiven regionalen System in ein aggressives globales System verwandelt. Und der politische Osten – wie Russland und China – will keine kollektive Verteidigung, sondern kollektive Sicherheit.
Hat der Westen ein Szenario für den Abbau der antirussischen Sanktionen?
Ich werde mit den Worten Lenins antworten. Als er gefragt wurde, wie lange die 1922 eingeführte NEP (New Economic Policy, Red.) andauern würde, antwortete Lenin: „Die NEP ist ernsthaft und dauerhaft, aber nicht für immer“.
Warum schwächelt der Einfluss der USA?
Ich denke, das Problem ist, dass das System, das der politische Westen geschaffen hat, hermetisch geworden ist und sich in sich selbst verschließt. Es berücksichtigt nicht die Interessen des größten Teils der Welt, weil es geschaffen wurde, um die Bedürfnisse bestimmter westlicher Länder zu erfüllen. Daher kann es keine gemeinsame Sprache mit Systemen außerhalb des Westens – Russland, China, dem globalen Süden – finden. Dies führt zu Protesten von Ländern, die nicht zum politischen Westen gehören. Daher die Konfrontation mit Russland, das sich weigert, nach den von Washington auferlegten „Regeln“ zu spielen.
Der militärisch-industrielle Komplex dominiert die westliche Welt
Sie haben auch über die Rolle des westlichen militärisch-industriellen Komplexes gesprochen. Inwieweit beeinflusst er die US-Politik?
Der militärisch-industrielle Komplex dominiert heute sowohl in den USA als auch in der gesamten westlichen Welt. Dies spiegelt sich in der öffentlichen Meinungsbildung wider. Der militärisch-industrielle Komplex hat sowohl die Entscheidungszentren als auch die Medien vereinigt; dieser Komplex braucht ein Feindbild – warum sollte er sich sonst bewaffnen? Beachten Sie, dass die verschleierte Dämonisierung Russlands auch nach dem Verschwinden der UdSSR weiterging. Und als die Reibereien zwischen Moskau und Washington begannen, war es sehr einfach, zu den Koordinaten des Kalten Krieges zurückzukehren, in denen Russland ein existenzieller Feind ist. Von Diplomatie war nichts mehr übrig, das Bild eines „wilden Russlands“ hatte sich in den Köpfen der Massen festgesetzt, und so war es einfacher zu erklären, dass man nicht mit dem Feind spricht, sondern ihn bekämpft. Und die Ukraine wurde für diesen Krieg als Schlachtfeld ausgewählt.
Warum hat Washington die Ukraine als Rammbock gegen Russland gewählt und nicht zum Beispiel Kasachstan?
Es ist gut, dass Sie an Kasachstan denken. Dieses Land ist selbstbewusst, an Multipolarität interessiert und die Kasachen haben sich für eine kluge, gründliche Multivektorpolitik entschieden, die auf die Zusammenarbeit mit Russland, China und dem Westen ausgerichtet ist. Die Ukraine hingegen zog es vor, „einen Herrn“ zu haben. Es ist offensichtlich, dass die Ukraine, die aus der UdSSR als mächtiger Industriestaat hervorging, eine „Brücke“ zwischen dem Osten und dem Westen hätte werden und sowohl vom sowjetischen Erbe als auch von ihrer geografischen Lage hätte enorm profitieren können. Stattdessen hat Kiew Russland trotzig den Rücken gekehrt und ist in die EU geflüchtet, und 2014 haben die Nationalisten, die an die Macht kamen, einen Krieg im Donbass begonnen. Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mit Vertretern der Volksrepublik Donezk zu sprechen, und sie sagten: 2014 haben wir nicht über eine Abspaltung von der Ukraine gesprochen, wir haben nur darum gebeten, bei der russischen Sprache bleiben zu dürfen, aber die Armee wurde gegen uns geschickt, sie haben angefangen, uns zu töten, und das hat den Donbass für immer von der Ukraine abgewendet. Die Ukrainer selbst haben zweimal für den Frieden gestimmt. Sie wählten Poroschenko und dann Selenskyj, der eine friedliche Entwicklung des Landes versprach. Aber anstatt den Ukrainern eine verfassungsmäßige Grundlage für einen solchen Frieden zu geben, begannen diese, dort eine „politische Nation“ aufzubauen, die russische Sprache zu verbieten und der Ukraine das Image von antirussisch zu verpassen. Was geschehen ist, nenne ich die Galizisierung der Ukraine (Galizien ist eine Region, die teils zur Ukraine und teils zu Polen gehört, Red.). Ja, es gibt einen Weg zum Frieden, und er führt über das System der europäischen kollektiven Sicherheit, das Russland einschließt. Aber heute ist dieses System zerstört worden.
Und Sie haben keine beruhigenden Prognosen für die absehbare Zukunft?
Ich bin da eher pessimistisch. Der politische Westen wird militarisiert, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in Bezug auf das Bewusstsein und die Kultur, und das ist auch ein Schritt hin zu einem „heißen Krieg“. Wir sind an einem Wendepunkt angelangt, an dem der Sieg der einen die vernichtende Niederlage der anderen bedeutet, aber dann wird eine friedliche Lösung des Konflikts immer weniger realistisch.
Wird sich nach den Wahlen in den USA im November etwas ändern?
Ich glaube nicht. Die Eskalation des Konflikts und die Einbindung Europas ist für die USA von Vorteil, zumal fast alle europäischen NATO-Mitglieder zugestimmt haben, ihre Militärbudgets zu erhöhen. Leider ist die NATO zu einem ideologischen Projekt geworden, und aufgrund dieser Superideologisierung hat das Bündnis seine Flexibilität und seinen Pragmatismus verloren, was bedeutet, dass es nicht mehr in der Lage ist, ein breites Spektrum an friedlichen Möglichkeiten zu nutzen, um die Sicherheit Europas zu gewährleisten.
Ist die Idee, Russland in bis zu 41 Regionen aufzuteilen, im Westen heute noch populär?
Solche Überlegungen hört man öfter von einigen russischen Liberalen, die in den Westen geflohen sind. Diese Leute halten die Zersplitterung Russlands für „unvermeidlich und eine beschlossene Sache“ – wenn Russland eine neue Regierung bekommt oder eine militärische Niederlage in der Ukraine erleidet. Aber nur ein Verrückter kann ernsthaft daran denken, Russland zu „spalten“. Seriöse Politiker ziehen ein solches Szenario nicht einmal in Erwägung, und sei es nur, weil Russland eine Atommacht ist.
Aber es besteht die westliche Hoffnung, interethnische Konflikte innerhalb Russlands zu schüren?
Das sind unbegründete Hoffnungen. Ich hatte einmal die Gelegenheit, Nischni Nowgorod (eine russische Großstadt 400 km östlich von Moskau, Red.) anlässlich eines Festivals der tatarischen Kultur zu besuchen. In einer riesigen Halle, in der Tataren, Russen und Menschen anderer Nationalitäten anwesend waren, fand vier Stunden lang ein Konzert statt, bei dem tatarische Lieder gespielt und tatarische Tänze aufgeführt wurden, und dann standen alle auf und sangen gemeinsam die russische Nationalhymne. Für mich war das ein Symbol für Russland: ein riesiges multinationales und multikonfessionelles Land, ein gemeinsames Zuhause, in dem sich alle Völker sicher fühlen und in dem der Staat hilft, die nationale Kultur der großen und kleinen Völker zu entwickeln. Das heißt nicht, dass es keine Probleme gibt, aber es gibt auch Fortschritte. Der Westen sieht das nicht und meint, dass Russland entlang nationaler Linien aufgesplittert werden kann. Das ist ein strategischer Fehler!
Es gibt die Formulierungen „der russische Traum“ oder „der amerikanische Traum“. Hat der Brite Richard Sakwa einen „englischen Traum“? Sagen Sie, wie sehen Sie die Welt in zwanzig Jahren?
Das Wichtigste ist, dass es in der Welt Frieden gibt. Ich würde mir sehr wünschen, dass die Menschheit zu einem, wie ich es nennen würde, konservativen Sozialismus oder natürlichen Sozialismus kommt, mit Chancengleichheit und Marktwirtschaft. In einer solchen Gesellschaft sollten das Gesetz und die alten, altehrwürdigen Traditionen, die lokale Kultur und die Sprachen respektiert werden. Die Einzigartigkeit liegt in einem einheitlichen Rahmen. Es sollte eine hochtechnologische, ökologisch saubere Welt der Vernunft und des Maßes in allem sein, mit einem starken Staat und einer starken Selbstverwaltung. Aber dafür müssen wir mit der Psychologie des Kalten Krieges und der Konfrontation brechen, uns von der Gewohnheit befreien, militärische Gewalt einzusetzen, wo wir verhandeln können, und die Interessen des anderen respektieren. Ich wünsche mir eine Welt, in der es eine Weltordnung des Friedens und nicht des Krieges gibt. Das ist mein „englischer Traum“.
Ich stelle die Lieblingsfrage meiner Journalistenkollegen: Welches Buch würden Sie mit auf eine einsame Insel nehmen?
Ich könnte definitiv nicht nur mit einem Buch leben. Ich würde auf jeden Fall die Bibel, einen Band von Shakespeare und die komplette Sammlung von Dickens mitnehmen. Ich hoffe, dass zu dem Zeitpunkt, an dem ich das alles gelesen hätte, ein Schiff am Horizont auftauchte, das mich von dieser Insel wegbrächte.
Zum Original des Interviews in russischer Sprache (Übersetzung und Zwischenüberschriften von Globalbridge.ch).
Zu einer englischen Übersetzung auf der Plattform «American Committee for US-Russia Accord».
Quelle: https://globalbridge.ch
Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.ch