Warum Zwangsmassnahmen und Milliarden nur bei Corona ?
Massnahmen müssen verhältnismässig sein und abgewogen werden mit persönlichen Freiheiten und Wirtschaftsinteressen. Über Nutzen und Risiken von Massnahmen gibt es einen grossen Ermessensspielraum, der öffentlich zu diskutieren ist.
Seit Anfang März sind in der Schweiz fast 7’500 Menschen am oder mit dem Coronavirus gestorben. Im gleichen Zeitraum starben über 58’000 Menschen an anderen Ursachen. Viele von diesen 58’000 Männern und Frauen starben wegen vermeidbaren Ursachen frühzeitig – wie bei Covid-19.
Im «Club» des Schweizer Fernsehens warf Reto Brennwald die Frage in die Runde, ob denn die drastischen Massnahmen und die vielen Milliarden, die man zum Vermeiden von Corona-Intensivpatienten und Corona-Toten beschlossen hat, noch verhältnismässig seien im Vergleich zum Aufwand, mit dem man versucht, die ungleich häufigeren Spitaleinlieferungen wegen Herz- und Krebskrankheiten zu verringern. Bezeichnenderweise wollte der Basler Gesundheitsdirektor Lukas Engelberger die dort etwas kürzer formulierte Frage nicht verstehen und versicherte treuherzig, dass Herz- und Krebspatienten in den Basler Spitälern trotz Corona nach wie vor bestmöglich behandelt würden. Dass es Brennwald um das Vermeiden und nicht um das Behandeln solcher Erkrankungen ging, überspielte Engelberger.
Neue Töne in der Gesundheitspolitik
Während der Corona-Krise verkündeten und verkünden Politiker eine klare Priorität, an der es in den letzten Jahrzehnten häufig fehlte:
«Die Gesundheit muss immer ganz vorne stehen», wiederholte etwa Deutschlands Innenminister Horst Seehofer. Der Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset versicherte: «Oberstes Ziel ist der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung. Das schützt auch die Schwächsten.»
Das waren neue Töne. Denn in den vergangenen Jahrzehnten hatten Regierungen und Parlamente wirtschaftliche Interessen meist viel höher gewichtet als den bestmöglichen Gesundheitsschutz.
Doch jetzt gilt als Priorität, dass die Zahlen von Intensivpatienten, Corona-Toten und «Fällen» möglichst klein bleiben. Die damit verbundenen finanziellen und sozialen Kosten spielen nur noch eine untergeordnete Rolle.
Diese Priorisierung der öffentlichen Gesundheit wäre in manchen anderen Bereichen ebenso anwendbar gewesen, waren es aber nicht. Dazu einige Beispiele von Massnahmen, die getroffen werden müssten, wenn überall das gleiche Prinzip wie bei Corona gälte:
Nächste grosse Influenza-Welle
Im Winter 2014/2015 forderte eine schwere Influenza-Welle in der Schweiz 2500 Todesopfer.
- Notwendige Massnahmen, falls die Gesundheit Priorität hat: Regierungen und Parlamente werden beim nächsten Mal, wenn sich eine schwere Influenza-Welle abzeichnet, eine Kampagne zum Abstandhalten, Schliessungen von Clubs und Maskenpflicht in geschlossenen Räumen verordnen.
Viele Todesfälle in Spitälern vermeiden
In der Schweizer Spitälern kommt es nach Angaben des Bundesamts für Gesundheit jedes Jahr zu 2000 bis 3000 vermeidbaren Todesfällen und zu rund 60’000 vermeidbaren gesundheitlichen Schäden. In Deutschlands Krankenhäusern sind es fast zehnmal so viele.
- Massnahmen, falls die Gesundheit Priorität hat: Die Behörden schreiben eine Risikokultur wie im Flugverkehr vor, um wenigstens die Hälfte dieser Todesfälle künftig zu vermeiden.
Die Kosten wären überschaubar.
Verkehrsopfer reduzieren
Die Todesfälle und die verursachten schweren Verletzungen durch Raser sind ebenso so schlimm wie die Folgen von Corona.
- Massnahmen, falls die Gesundheit Priorität hat: Die erlaubten Höchstgeschwindigkeiten auf Autobahnen und Überlandstrassen werden gesenkt.
In der Schweiz kann man mit tieferen Tempolimiten etwa 100, in Deutschland rund 1000 Todesfälle von meist jüngeren Menschen vermeiden und noch viel mehr Leute vor schweren Verletzungen schützen – jedes Jahr!
Die Kosten sind vernachlässigbar.
Tabakopfer vermeiden
16 Prozent aller 15-24-Jährigen sind als Passivraucher auch heute noch mindestens eine Stunde pro Tag dem Rauch anderer ausgesetzt. (Quelle: BFS) Ein Drittel dieser Altersklasse raucht.
- Massnahmen, falls die Gesundheit Priorität hat: Das Schweizer Parlament schränkt die Werbung für Tabakprodukte deutlich stärker ein als bisher und ratifiziert endlich als einer der letzten Staaten der Welt die WHO-Rahmenkonvention über Tabakprodukte.
Kosten könnten sogar eingespart werden.
Pestizide einschränken
Bei Erwachsenen und Kindern findet man im Urin bis zu 17 Rückstände von Pestiziden.
- Massnahmen, falls die Gesundheit Priorität hat: Regierungen und Parlamente beschliessen, was Ärzte, Konsumenten- und Umweltorganisationen schon lange fordern: einen Höchstwert für die Summe aller Pestizide in Nahrungsmitteln. Bisher gibt es nur Höchstwerte für jedes einzelne Pestizid. Deshalb dürfen Lebensmittel beliebig viele Pestizidrückstände enthalten, solange jedes einzelne seinen Grenzwert einhält. Rückstände mehrerer Pestizide addieren das Gesundheitsrisiko nicht nur, sondern sie multiplizieren es häufig.
Die Kosten wären überschaubar.
Ozon reduzieren
In verkehrsreichen Quartieren schädigt der Feinstaub Jahr für Jahr nicht nur die Bronchien, sondern auch Hirn, Herz und Gefässe. Das führt zu vielen Spitaleinweisungen und vorzeitigen Todesfällen. In der Schweiz sterben jährlich – laut Bundesamt für Umwelt – jedes Jahr immer noch fast 2’200 Menschen frühzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung.
- Massnahmen, falls die Gesundheit Priorität hat: Regierungen und Parlamente verordnen in verkehrsreichen Quartieren eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 Stundenkilometer und lassen nur noch Autos zu, die strengste Abgasvorschriften einhalten und mit den Reifen versehen sind, die am wenigsten Feinstaub verursachen.
Die Kosten wären vernachlässigbar.
Luftverschmutzung
Laut einer im März 2019 publizierten Studie des deutschen Max-Planck-Instituts für Chemie kommt es wegen der gesamten Luftverschmutzung in der Schweiz sogar zu mehr als 8’500 vorzeitigen Todesfällen. In Deutschland schwanken die Schätzungen zwischen jährlich 49’000 (Bundesumweltamt) und 127’000 vorzeitigen Todesfällen (Max-Planck-Institut).
- Massnahmen, falls die Gesundheit Priorität hat: Regierungen und Parlamente beschliessen mehrere Milliarden zur Senkung der Luftverschmutzung und erlassen strengere Grenzwerte für Emissionen.
Hormonaktive Stoffe
Hormonaktive Stoffe in Pestiziden, Kunststoffen, brandhemmenden Mitteln und vielen Kosmetika können nicht nur die männliche Fortpflanzungsfähigkeit vermindern, sondern führen auch zu Diabetes und Übergewicht, was wiederum tausende von vorzeitigen Todesfällen zur Folge hat. Das ergab eine Studie im «The Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism». Aufgrund jahrzehntelanger Forschung kamen die Forschenden 2015 zum Schluss, dass diese endokrinen Disruptoren in der EU zu gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgekosten von über 150 Milliarden Euro pro Jahr führen. Allein auf das Konto des Pestizideinsatzes gehen 120 Milliarden Euro, gefolgt von den Plastik-Chemikalien mit 26 Milliarden Euro und den Flammschutzmitteln mit 9 Milliarden Euro.
- Massnahmen, falls die Gesundheit Priorität hat: Die Parlamente beschliessen ein rasches Verbot aller hormonaktiven Chemikalien überall dort, wo sie, wenn auch mit einem Aufpreis, ersetzbar sind. Sie verstecken sich nicht mehr hinter dem Argument «keine nationalen Alleingänge», sondern sie handeln im Interesse der öffentlichen Gesundheit.
Namhafte Kosten würden eingespart.
Erderwärmung
Es gibt grosse Risiken, deren Folgen vor allem künftige Generationen zu spüren bekommen. Der Klimawandel bedroht mittelfristig die Lebenserwartung und Gesundheit unzähliger Menschen. Anders als bei der Gefährlichkeit des Coronavirus sind sich die Wissenschaftler ziemlich einig darüber, welche Folgen der menschliche Beitrag zur Erderwärmung hat.
- Massnahmen, falls die Gesundheit Priorität hat: Nationale Regierungen und Parlamente beschliessen hohe Lenkungsabgaben auf CO2, ohne auf eine internationale Vereinbarung zu warten.
Die Kosten wären überschaubar.
Fazit: Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Falls der Schutz der Gesundheit stets Priorität hat gegenüber wirtschaftlichen Interessen – wie dies während der Corona-Pandemie geschah und geschieht – haben sich wirtschaftliche Interessen in Zukunft vermehrt unterzuordnen.
Sogar dort, wo noch Zweifel über das Ausmass von Gesundheitsrisiken bestehen, müssten Vorsicht und Vorbeugung künftig Vorrang haben – so wie das gegenwärtig bei Corona der Fall ist.
Anderenfalls müssen sich Regierungen und Parlamente den Vorwurf gefallen lassen, die Corona-Epidemie mit völlig anderen Kriterien anzugehen, als andere grosse Gesundheitsrisiken, denen die Bürgerinnen und Bürger ebenfalls ohne ihr Zutun ausgesetzt sind.
Weiterführende Informationen
Infosperber vom 14.9.2020: Es könnten mehr an Corona-bedingtem Hunger sterben als am Virus
Quelle: https://www.infosperber.ch/gesundheit/public-health/warum-zwangsmassnahmen-und-milliarden-nur-bei-corona/
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