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Vom Büro in die Gosse

Die Gesundheitskrise ist zur Sozialkrise geworden
Matthias Winterer , 31.01.2021, Wiener Zeitung
01. Februar 2021
Immer mehr Menschen verarmen. Konkrete Zahlen gibt es nicht. Doch die Tendenz ist beunruhigend. Eine Spurensuche.

Die Schlange wird länger. Gestern reichte sie schon bis zur Kreuzung. Fast hundert Menschen. Und täglich werden sie mehr. Sie stellen sich um Fleischlaberl an. Um Ravioli in Tomatensauce. Einen Steinwurf vom gläsernen Büroviertel Wien Mitte entfernt - in der Ungargasse - geben die Ordensschwestern der Elisabethinnen Essen an Bedürftige aus. Seit vielen Jahren. Heuer ist der Zulauf größer als sonst.

Und anders. Die Schlage verändert sich. "Gewöhnlich sind wir eine Anlaufstelle für Obdachlose aus dem Stadtpark", sagt Cornelia Winkler, Leiterin der Essensausgabe Elisabethbrot. "Seit dem Sommer kommen viele, die wir davor noch nie gesehen haben. Mütter, Pensionisten, Arbeitslose. Sie können sich ihr Essen plötzlich nicht mehr leisten."

Sozialeinrichtungen wie das Elisabethbrot sind ein Seismograf dafür, wie es einer Gesellschaft geht. Steigt die Zahl an gekochten Ravioli, läuten die Alarmglocken. Langsam sind sie nicht mehr zu überhören. Langsam wächst sich die Gesundheitskrise zur handfesten Sozialkrise aus.

Immer mehr Menschen haben immer weniger zum Leben. Für viele reicht es kaum zum Überleben. Sie haben nicht ein paar Euro weniger am Konto. Ihr Konto ist leer. Sie überlegen nicht, wie sie sich den nächsten Urlaub leisten können. Sie überlegen, wie sich ernähren sollen. Wie sie ihre Strom- und Gasrechnung, ihre Miete bezahlen sollen. Sie können ihre elementaren Bedürfnisse nicht mehr decken. Mitten in Wien, in einer der reichsten Städte überhaupt, die als lebenswerteste von allen gilt, die für ihre soziale Politik auf der ganzen Welt berühmt ist, wird Armut zunehmend zum Problem. Konkrete Zahlen, wie sich die Corona-Pandemie auf die Armut in der Stadt auswirkt, gibt es bisher keine.

Doch ein Rundruf der "Wiener Zeitung" zeigt: Die Tendenz geht in eine beunruhigende Richtung. Karitative Einrichtungen melden einen sprunghaften Anstieg an Klienten. Sie kümmern sich um die Ärmsten in unserer Gesellschaft. Sie versorgen sie mit Nahrung, bieten Hilfe bei drohenden Delogierungen, helfen bei Privatkonkursen. Die Wiener Tafel beliefert soziale Einrichtungen mit Lebensmitteln, die Supermarktketten wegwerfen würden. "Seit dem Ausbruch der Pandemie ist der Bedarf um 30 Prozent gestiegen", sagt Geschäftsführerin Alexandra Gruber.

Ansturm auf Ausgabestellen

Auch die zwölf Ausgabestellen der Caritas verzeichnen Rekordwerte. Insgesamt gaben sie bis Ende 2020 33.114 Lebensmittelpakete aus. Das sind 700 Tonnen Brot, Gemüse, Obst, Nudeln, Reis, Zucker, Konserven. In den Sozialberatungsstellen der Caritas müssen Menschen abgewiesen werden. 16.718 Wienerinnen und Wiener wurden 2020 beraten. "In Spitzenzeiten haben sich doppelt so viele Menschen in Not an uns gewandt", sagt der Caritasdirektor der Erzdiözese Wien, Klaus Schwertner, gegenüber der "Wiener Zeitung". Die Zahl der Erstkontakte nahm um 15 Prozent zu - und wäre noch höher gewesen. Doch die Caritas stößt an ihre Kapazitätsgrenze. "Es sind vor allem Selbständige, Alleinerziehende und Familien mit Kindern, die Hilfe brauchen", sagt Schwertner.

Der Trend ist eindeutig. Die Corona-Krise verschärft die Armut - in zweierlei Hinsicht. Der ärmste Teil der Bevölkerung wird ärmer. Der ärmste Teil der Bevölkerung wird größer. Die Situation der Menschen, die schon vor dem Ausbruch der Pandemie prekär lebten, verschlimmert sich also. Gleichzeitig bröckelt die gesellschaftliche Mitte. Viele rutschen ab.

Ihre Misere beginnt mit dem Verlust der Arbeit. In Österreich hatten Ende Dezember über eine halbe Million Menschen keine Arbeit. Das sind satte 28 Prozent mehr als vor einem Jahr. Fast genauso viele - nämlich über 400.000 - sind in Kurzarbeit. Die nationale Arbeitslosenquote liegt bei 11 Prozent. In Wien sogar bei 15,7 Prozent. In der Bundeshauptstadt sind 186.000 Menschen arbeitslos. Das sind fast so viele, wie in Linz leben. Eine Stadt voller Arbeitsloser. 60.000 von ihnen befinden sich in Kurzarbeit, 30.000 in Schulungen des AMS. Tendenz steigend. Auch viele Selbständige, Ein-Personen-Unternehmen, Kulturschaffende haben kaum Aufträge. Sie kämpfen mit sinkendem Einkommen, ohne in Kurzarbeit oder arbeitslos gemeldet zu sein.

Hinter den trockenen Zahlen stecken Gesichter. Viele der Betroffenen wiegten sich über Jahre in Sicherheit. Es ging ihnen gut. Sie hatten ein Auto, einen Fernseher, vielleicht sogar ein Eigenheim. Sie fuhren einmal im Jahr auf Urlaub. Sie kellnerten, zogen Wände am Bau hoch, verkauften Handtaschen, schnitten Haare, stellten für Urlauber Reisen zusammen. Von einem Tag auf den anderen verloren sie ihre Kunden. Und viele ihre Jobs - unverschuldet, unverhofft, plötzlich. Herbert ist einer von ihnen. Er will seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen. "Ich habe zehn Jahre lang als Kellner gearbeitet" sagt der 37-Jährige. "In den bekanntesten Wiener Wirtshäusern." Seit März ist er arbeitslos. Seit März werden ihm die Tage lang und der Kontostand weniger.

"Viele Zugehörige der sogenannten unteren Mittelschicht steigen durch die Corona-Krise und dem damit einhergehenden Jobverlust in die Unterschicht ab", sagt Karl-Michael Brunner. Der Professor am Institut für Soziologie und empirische Sozialforschung der WU Wien beschäftigt sich mit Konsum und sozialer Ungleichheit. Für sie wiegt die Krise doppelt. Große Teile des Haushaltseinkommens brechen weg. Ihr sozialer Status wackelt. Sie haben keine Erfahrung mit plötzlicher Not. Armut kannten sie bisher nicht.

Not und Scham

Nun hapert es sogar bei den Fixkosten. Miete, Strom, Gas können nicht mehr bezahlt werden. "Verarmen Menschen unvorhergesehen, stehen sie vor dem Problem, ihren Lebensstandard, ihre Fixkosten, nicht von einem Tag auf den anderen senken zu können", sagt Brunner. Eine neue, günstigere Wohnung ist nicht so schnell gefunden. Das Auto nicht so schnell verkauft. Der laufende Kredit muss weiterbezahlt werden. Sie stehen vor dem sogenannten "Heat or Eat Dilemma". "Oft wird dann beim Essen gespart."

Bereits im Jahr 2017 waren in Österreich 6,6 Prozent der Bevölkerung - das sind 482.000 Menschen - von mittlerer bis schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen, wie eine Studie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) zeigt. Sie hatten also zu wenig oder qualitativ minderwertige Nahrung zur Verfügung. Mit dem Ausbruch der Pandemie wird der Wert steigen. Konkrete Zahlen gibt es für Österreich noch nicht. "In Großbritannien ist die Anzahl an schlecht ernährten Menschen seit dem Frühjahr um etwa zwei bis drei Millionen gewachsen", sagt Brunner.

Zur finanziellen Not kommt die Scham. "Menschen, die plötzlich abrutschen, fühlen sich stigmatisiert", sagt Bernhard Sell von der Schuldnerberatung des Fonds Soziales Wien (FSW). Sie haben Angst, ihr soziales Umfeld, ihre Freunde zu verlieren. Sie suchen erst spät Hilfe. Wissen nicht, an wen sie sich wenden können. "Oft federt sie aber - zumindest am Anfang ihrer Notsituation - ihr soziales Netz ab", sagt Brunner. "Menschen in der Mittelschicht haben meist einen intakten Freundes-, Bekannten- und Familienkreis. Sie leihen sich Geld von den Eltern. Die Oma lädt sie zum Essen ein. Freunde versuchen zu helfen. Auch der Ex-Kellner Herbert gab seine Wohnung auf. Sein Bruder nahm ihn in seine Eigentumswohnung auf. "Unterstützung, die Menschen, die schon lange unter dem Existenzminimum lebten, fehlt meist", sagt Sell. Sie haben oft keine Freunde mehr. Den Kontakt zur Familie abgebrochen.

Zusatzverdienste fallen weg

Für sie geht es nun ans Eingemachte. Laut Statistik Austria waren schon 2019 rund 16 Prozent der österreichischen Bevölkerung armutsgefährdet. Sie hatten weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens zur Verfügung - also weniger als 1.259 Euro. In Wien waren es sogar 20 Prozent. Die Krise verschärft ihre Situation drastisch. "Von Armut Betroffene sind eine Art soziales Fieberthermometer", sagt Martin Schenk, Sozialexperte und Mitbegründer der Armutskonferenz. "An ihnen sind negative gesellschaftliche Entwicklungen, die später viele treffen, schon Monate vorher sichtbar." Wird die Milch im Kühlregal um 10 Cent teurer, merken sie es sofort.

Vor allem seit dem Ausbruch der Pandemie haben die Preise angezogen. Laut Statistik Austria waren Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke im Dezember 2020 um 2,9 Prozent teurer als ein Jahr zuvor. Brot kostete um zwei Prozent mehr, Gemüse um 3,3 Prozent, Fleisch um 3,6 Prozent, Obst sogar um 5,8 Prozent. Aber auch die Kosten für Wasser und Energie stiegen um 2,1 Prozent. Die Mieten um 5,5 Prozent. Sprit und Flugtickets wurden hingegen billiger. Das nützt armen Menschen nichts. Sie brauchen ihr Geld, um Grundbedürfnisse zu decken. Die ärmsten zehn Prozent der österreichischen Haushalte geben laut Konsumerhebung 30 Prozent ihres Budgets für Essen und Energie - also Heizung und Strom - aus. Und weitere 30 für die Miete. Jeden Euro, den sie mehr ausgeben müssen, kann zur Bedrohung der Existenz führen.

Jeder Euro, den sie weniger verdienen, auch. "Viele der ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung besserten sich ihre Notstandshilfe oder Mindestsicherung mit kleinen Jobs auf", sagt Schenk. 460 Euro und 66 Cent dürfen in Österreich steuerfrei dazuverdient werden. Das ist viel Geld, wenn man von 900 Euro im Monat lebt. Durch Pandemie und Lockdown fiel dieser beträchtliche Teil des Einkommens weg. So auch bei Linda. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern lebt in einer Gemeindebauwohnung in Ottakring. Ihre Notstandshilfe von 900 Euro besserte sie sich durch Nebenjobs auf.

Seit dem Ausbruch der Pandemie hat sie die nicht mehr. "Unsere Energierechnung ist explodiert, weil wir im Lockdown ständig zuhause waren", sagt sie. Im Supermarkt kauft sie nur noch Angebote. Vor allem Gemüse ist ihr zu teuer geworden. "Oft geht uns bereits am 15. das Geld aus. Am Ende des Geldes ist zu viel Monat übrig." Rekordarbeitslosigkeit, überfüllte Beratungsstellen, Schlangen vor Ausspeisungen. Die Armut ist in Wien nicht mehr zu übersehen. Dabei sehen wir nur die Spitze des Eisbergs. Das dicke Ende liegt vor uns.

"Viele Menschen leben noch von ihren Ersparnissen aus besseren Tagen, sie konnten Mieten, Kredite, Rechnungen stunden", sagt Brunner von der WU. Werden sie fällig, ist für Wohnen, Essen und Heizen nichts mehr übrig. Brunner prognostiziert auch einen Anstieg der Obdach- und Wohnungslosigkeit. Doch der wird kaum messbar sein. Niemand weiß, wie viele Menschen in Wien auf der Straße leben. Die Dimensionen lassen sich anhand weniger Daten nur schätzen.

So nutzten 2019 12.590 Personen die Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe des FSW - von Beratung, mobiler Wohnbetreuung, aufsuchender Sozialarbeit, Übergangswohnen und betreuten Wohneinrichtungen bis hin zu Tageszentren und Akuthilfe durch Nachtquartiere. "Einen merkbaren Anstieg an Kundinnen und Kunden konnten wir bisher nicht verzeichnen", sagt Iraides Franz, Pressesprecherin des FSW. "Dafür ist es wohl zu früh. Wohnungslosigkeit setzt nicht sofort mit Ausbruch einer Krise ein. Noch werden Mieten gestundet. Delogierungen finden zeitversetzt statt."

Doch warum fehlt es in der reichen Stadt Wien so vielen am Elementarsten? An Essen, Wärme, Wohnraum? Die Antwort der Experten ist durch die Bank gleich - Mindestsicherung, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe sind zu niedrig. "Das Verhältnis zwischen Sozialleistungen und steigenden Mieten passt schon lange nicht mehr zusammen", sagt etwa Schenk von der Armutskonferenz. "Es geht sich einfach nicht mehr aus". Die Schuldnerberatung erstellt Referenzbudgets für verschiedene Haushaltstypen. Sie zeigen, welches Einkommen zur Verfügung stehen muss, um einen angemessenen, wenn auch bescheidenen Lebensstil zu ermöglichen. Bei Ein-Personen-Haushalten liegt es bei 1.434 Euro. Die durchschnittliche Notstandshilfe beträgt 850 Euro im Monat, die Mindestsicherung 917 Euro.

Die Schere geht auseinander

Die Schere zwischen Arm und Reich geht in der Krise auseinander. Der britische Sozialwissenschafter Tony Atkinson hat vierzig Wirtschaftskrisen analysiert. In allen stieg die soziale Ungleichheit. Auch die Corona-Krise zeigt: Je höher das Einkommen, desto geringer die Einbußen. Kleine Einkommen verhalten sich genau umgekehrt. Sie werden noch kleiner. Eine Panelumfrage der Universität Wien zeigt:

Die Anzahl der Haushalte im untersten Einkommensdezil ist seit Beginn der Krise am stärksten gewachsen. Die Ärmsten der Gesellschaft verlieren gegenüber den Reichsten zunehmend an Boden. Vor wenigen Tagen ging eine Meldung um die Welt. Amazon-Chefs Jeff Bezos und Tesla-Chef Elon Musk sind im Jahr 2020 zusammen mehr als 217 Milliarden Dollar reicher geworden. "Solange Milliarden-Unternehmen wie Amazon, Starbucks und Co in Österreich keine oder nur sehr wenig Steuern zahlen, möchte ich nicht mehr über die Höhe von Mindestsicherung, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe diskutieren müssen", sagt Caritas Wien Direktor Schwertner.

Einen Steinwurf von der Essensausgabe der Elisabethinen - im gläsernen Büroviertel Wien Mitte - verkauft die amerikanische Kaffeehauskette Starbucks Kaffee. Im Jahr 2019 soll Starbucks in Österreich knappe 3.000 Euro Steuern gezahlt haben. Staatliche Corona-Hilfen stehen dem Unternehmen trotzdem zu. Auch in Zeiten der Pandemie kommen die Leute. Sie stellen sich um Kaffee zum Mitnehmen an. Auch diese Schlange wird von Tag zu Tag länger.

31.01.2021
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/chronik/wien/2090858-Vom-Buero-in-die-Gosse.html
abgerufen am: 01.02.2021

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