Obama soll bezüglich der Ukraine Zurückhaltung üben

25. Mai 2014

Obama soll bezüglich der Ukraine Zurückhaltung üben

Memorandum zuhanden des Präsidenten von den Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS)*

Betreff: Russland, die Ukraine und die ­nationalen Interessen der USA

Sehr geehrter Herr Präsident

Wir, die Unterzeichnenden, sind ehemalige Beamte aus Geheimdienst, Militär und Strafverfolgungsbehörden. Zusammengenommen haben wir insgesamt 200 Jahre Dienst für unser Land geleistet. Im Unterschied zu vielen Experten und Beratern, die ihre Argumente auf abstrakten Begriffen vom internationalen Parkett stützen, beziehen wir unsere Erkenntnisse aus der Tiefe praktischer Erfahrung innerhalb der US-Regierung   – hier und im Ausland.

Angesichts dieses Hintergrundes verfügen wir gemeinsam über ein profundes Verständnis der grossen Verantwortung, die mit Grossmacht einhergeht. Wir fühlen uns verpflichtet, Ihnen unsere Sicht zur Ukraine vorzulegen   – dies um so mehr, als Radio, Fernsehen und Zeitungen genau den Experten und Wissenschaftlern viel Raum geben, die vor mehr als einem Jahrzehnt beim Irak so grosse Fehler begingen.

Etliche von uns waren im Zusammenhang mit unseren Regierungsfunktionen beteiligt an der Politik gegenüber der seinerzeitigen Sowjetunion und auch gegenüber deren Nachfolgerstaat, der Russischen Föderation. Wir haben Moskaus jüngsten Schwenk in Richtung einer autoritäreren Regierungsform beobachtet und sind auch besorgt über das Ausspielen von Grossmachtrivalität bezüglich der Ukraine.

Unsere noch immer lebhafte Erinnerung an den Kalten Krieg und den Schaden, den er der Sicherheit der Welt zufügte, veranlasst uns, unsere Gründe vorzubringen, warum nicht zugelassen werden sollte, dass die Schwierigkeiten in der Ukraine zu einer Rückkehr in eine bipolare Welt führen, in der sich zwei schwer aufgerüstete Supermächte auf allen Ebenen und auch im globalen Massstab entgegenstehen.

Besonders beunruhigt sind wir darüber, was uns als weitgehend unkoordinierte, aber ansteckende Stimmung unter den Mitgliedern des Kongresses und in den Mainstream-Medien erscheint, bezüglich Russland müsse «etwas getan» werden   – ein Gefühl, das sowohl unbedacht als auch dem entgegengesetzt ist, was dieses Land tun sollte, um eine konstruktive und letztlich vorteilhafte Beziehung mit Moskau und dem Rest der Welt zu fördern.

Obwohl wir Bemühungen der USA unterstützen, mit deren Hilfe sich in der Ukraine eine  pluralistische Demokratie entwickeln soll, wozu auch die Hilfeleistung für die Durchführung freier und fairer Wahlen gehört, sind wir überzeugt, dass militärische Unterstützung und ein direktes Engagement von US-Truppen ein Schritt sind, der die Eskalation des Konfliktes geradezu garantiert und möglicherweise zu einer direkten Konfrontation der beiden atomar bewaffneten Mächte führt   – eine Situation, die leicht vermieden werden kann und vermieden werden sollte, wenn man die Interessen aller Länder, auch die Russlands, mit in Rechnung stellt.

Um es deutlich auszudrücken: Das russische Engagement in der Ukraine   – ein Land vor Moskaus Haustür, das zudem zum Teil ethnisch russisch ist   – bedroht weder vitale US-Interessen, noch bedroht es irgendwelche Verbündeten der USA. Die Reaktion Washingtons sollte eine wohlüberlegte sein, die tatsächliche Risiken gegenüber möglichen Vorteilen berücksichtigt. Sanktionen sollten mit beträchtlicher Zurückhaltung angewendet werden, da ihre Wirksamkeit fragwürdig ist und sie oft nur dazu dienen, gegnerische Positionen zu verhärten. Wesentliche militärische Schritte, seien sie unilateral oder in Verbindung mit der Nato, sollten vermieden werden, da sie als provokativ verstanden werden können, aber keine Lösung für bestehende Meinungsverschiedenheiten bringen.

Wir treten für mehr, nicht weniger diplomatisches Engagement ein und tun dies auf Grund unserer eigenen Erfahrung als Zeugen vieler versäumter Gelegenheiten im Verlaufe der letzten fünfzig und mehr Jahre, in denen die Vereinigten Staaten   – zu unserem Bedauern   – sich selbst allzuoft auf der falschen Seite der Geschichte wiederfanden. Das Schweinebucht-Fiasko etablierte den Kommunismus in Kuba; die wahllose Unterstützung von antikommunistischen Gruppierungen und von politischen Parteien in Europa schwächte in beiden Fällen junge Demokratien und nährte die Korruption; Angebote des ehemaligen Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow für eine vollständige nukleare Abrüstung wurden abgewiesen, was die Proliferation von Atomwaffen unter anderen Staaten vorantrieb.

Als die Sowjetunion schliesslich zusammenbrach, wurden ausdrückliche Abkommen, nicht in den Bereich der früheren Warschauer-Pakt-Staaten zu expandieren, umgehend ignoriert, und beide, Nato und Europäische Union, bewegten sich zügig ostwärts. Darauf folgte in den 1990er Jahren der Raubzug gegen die russische Wirtschaft, angezettelt von westlichen «Unternehmern», die mit lokalen Oligarchen zusammenarbeiteten. Damals wurde das als «Schock-Therapie» beschrieben, aber die meisten Russen betrachten die Ereignisse korrekter als En-gros-Plünderung, die einem grossen Teil des Misstrauens dem Westen gegenüber Nahrung gab.

Man hat kaum erwarten können, dass Russ­land ignorieren würde, wie Washington den Regime change in der Ukraine de facto förderte und zustandebrachte   – der die Absetzung des rechtmässig gewählten (wenn auch durch und durch korrupten) Regierung in Kiew zur Folge hatte. Ausserdem würden die fortgesetzten Bemühungen des Westens, die Ukraine in die Nato hineinzuziehen, die Feindschaft Russlands auf viele Jahre hinaus garantieren. Beides sind für Moskau existentielle Fragen; dürfen wir Sie an die US-Parallele durch den Vollzug der Monroe-Doktrin in unserem eigenen «Hinterhof» erinnern?
Unseres Erachtens muss die Situation nicht ausser Kontrolle geraten. Die Tür zur Durchsetzung der Massnahmen, auf die man sich am 17. April in Genf geeinigt hat, steht noch offen. Die Bereitschaft Russlands, mit uns weiterhin bei der Zerstörung der Chemiewaffen Syriens und in der iranischen Atomfrage zusammenzuarbeiten, ist noch immer vielversprechend und könnte eine Zusammenarbeit bezüglich anderer, beiderseitiger Interessen fördern.

Ausblick

Was die Krim und all die irreführende Rhetorik, die über den Äther geht, anbetrifft,  möchten wir Sie daran erinnern, dass die Krim Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Teil Russlands wurde. Vor 60 Jahren schlug der Ukrainer ­Nikita Chruschtschow, der damals der Vorsitzende der kommunistischen Partei der Sowjetunion war, die Krim einfach zur Ukraine   – eine der 15 «Republiken», aus denen die ehemalige Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) bestand. Damals fand kein Referendum statt; es schien sich um kaum mehr als eine Formalität zu handeln, da alle Landesteile nach der Pfeife Moskaus tanzten.

Die Übergabe der Krim an die Ukraine wurde 1991 von erheblicher Bedeutung, als die Sowjetunion zusammenbrach und die Bewohner der Krim auf einmal nicht länger Bürger Russlands waren. Präsident ­Vladimir Putin hat dies in seiner wichtigen Rede vom 18. März direkt angesprochen, als er daran erinnerte, dass Russland die Situation 1991 «demütig akzeptierte». Er erklärte, dass «Russland derart harte Zeiten durchmachte, dass es einfach nicht für seine Interessen einstehen konnte».
Heute ist Russland in der Lage, seine Interessen in den Gebieten zu schützen, die es als ihm «grenznahe» bezeichnet. Es wird die Einverleibung der Ukraine in die Nato nicht akzeptieren. Versuche, diese Angelegenheit zu forcieren, werden Europa nicht sicherer machen; vielmehr werden sie die Kriegsgefahr erhöhen.

Es gibt einen wichtigen Schritt, den Sie tun können, Herr Präsident. Wir empfehlen, dass Sie die Nato offiziell ersuchen, den folgenden Teil der Erklärung zu widerrufen, welche die Staatschefs der Nato am 3. April 2008 in Bukarest vereinbart haben: «Die Nato begrüsst die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine und Georgiens um eine Mitgliedschaft in der Nato. Wir haben heute vereinbart, dass diese Länder Nato-Mitglieder werden.»

In der Zwischenzeit geben Sie kühleren Köpfen den Vorrang. Die Entsendung bedeutender Mengen an Streitkräften in Länder, die an die Ukraine grenzen, ist gleichbedeutend damit, Öl in etwas zu giessen, das heute verhältnismässig isolierte und begrenzte Brandausbrüche darstellt, zumindest in der Ostukraine. Das fragile Abkommen, das am 17. April in Genf erreicht wurde, kann noch immer Diskussionsgrundlage unter reifen Staatsführern bieten und die Art von Provokation, Machismo und Eskalation verhindern, die vor 100 Jahren den Kriege in Gang setzten, der alle Kriege beenden sollte. Zwei kurze Jahrzehnte später kam der Zweite Weltkrieg.

In der Folge des Gemetzels machte Winston Churchill eine Äusserung, die auch auf unser 21. Jahrhundert anwendbar ist: «Quatschen, quatschen, quatschen ist besser als kriegen, kriegen, kriegen.»

Hochachtungsvoll überreicht vom Lenkungsausschuss der Veteran Intelligence Professionals for Sanity [Altgediente Geheimdienstbeamte für Vernunft]:

  • William Binney, former Technical Director, World Geopolitical & Military Analysis; co-founder, SIGINT Automation Research Center (ret.)
  • Thomas Drake, former Defense Intelligence Senior Executive Service, NSA
  • Philip Giraldi, CIA, Operations Officer (ret.)
  • Larry Johnson, CIA & State Department (ret.)
  • David MacMichael, former Senior Estimates Officer, National Intelligence Council (ret.)
  • Ray McGovern, former chief of CIA’s Soviet Foreign Policy Branch & presidential briefer (ret.)
  • Tom Maertens, former Foreign Service Officer and National Security Council Director for Non-Proliferation
  • Elizabeth Murray, former Deputy National Intelligence Officer for the Near East, National Intelligence Council (ret.)
  • Todd E. Pierce, US Army Judge Advocate General Corps (ret.)
  • Coleen Rowley, former Chief Division Counsel & FBI Special Agent (ret.)

Quelle:
Consortiumnews.com vom 28.4.2014 (Übersetzung: Zeit-Fragen)

Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1794

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Veteran Intelligence Professionals for Sanity

Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS) [Altgediente Geheimdienstbeamte für Vernunft] ist eine Gruppe aktiver und ehemaliger Beamter der US-Geheimdienste, darunter einige aus der CIA, aus dem Geheimdienstbüro des Aussenministeriums (INR) und aus dem Militärgeheimdienst DIA. Sie bildete sich im Januar 2003 als landesweites Unternehmen, um gegen den Einsatz falscher Geheimdienstinformationen zu protestieren, auf dem die US/UK-Invasion in den Irak basierte. Die Gruppe gab vor dem Einmarsch in den Irak von 2003 einen Brief heraus, in dem sie darlegte, dass die Analysten der Geheimdienste von den Politikern nicht angehört worden waren. Im August 2010 erstellten sie ein Memorandum zuhanden des Weissen Hauses, in dem sie vor einem bevorstehenden israelischen Angriff auf Iran warnten.

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