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Mourir pour Kiev?

08. April 2014

Geoökonomische und -politische Aspekte des Regime Change’s in der Ukraine

Von Jürgen Rose

Prolog: „Von entscheidender Bedeutung war … die Ukraine. In der seit spätestens 1994 zunehmenden Tendenz der USA, den amerikanisch-ukrainischen Beziehungen höchste Priorität beizumessen und der Ukraine ihre neue nationale Freiheit bewahren zu helfen, erblickten viele in Moskau   – sogar die sogenannten Westler   – eine gegen das vitale russische Interesse gerichtete Politik, die Ukraine schließlich wieder in den Schoß der Gemeinschaft zurückzuholen. … Am wichtigsten allerdings ist die Ukraine.

Brzezinski 1977

Zbigniew Brzezinski NRhZ-Archiv

Da die EU und die NATO sich nach Osten ausdehnen, wird die Ukraine schließlich vor der Wahl stehen, ob sie Teil einer dieser Organisationen werden möchte. Es ist davon auszugehen, daß sie, um ihre Eigenständig- keit zu stärken, beiden beitreten möchte, wenn deren Einzugsbereich einmal an ihr Territorium grenzt und sie die für eine Mitgliedschaft notwendigen inneren Reformen durchgeführt hat. Obwohl dies Zeit brauchen wird, kann der Westen   – während er seine Sicherheits- und Wirtschaftskontakte mit Kiew weiter ausbaut   – schon jetzt das Jahrzehnt zwischen 2005 und 2015 als Zeitrahmen für eine sukzessive Eingliederung ins Auge fassen. … Der springende Punkt ist, und das darf man nicht vergessen: Ohne die Ukraine kann Rußland nicht zu Europa gehören, wohingegen die Ukraine ohne Rußland durchaus Teil von Europa sein kann. … Tatsächlich könnte die Beziehung der Ukraine zu Europa der Wendepunkt für Rußland selbst sein.“

Bei dem Autor dieser höchst präzisen und zugleich eiskalten Analyse handelt es sich um keinen geringeren als Zbigniew Brzezinski, einen der bedeutendsten und einflußreichsten Berater und Akteure im außen- und sicherheitspolitischen Establishment der USA, der sich bis auf den heutigen Tag rühmt, als Nationaler Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter die Sowjetunion 1979 in die, wie er es ausdrückt, „afghanische Falle“ gelockt zu haben   – mit allen bekannten Folgen bis hin zu 9/11. Im Jahre 1997 publizierte er sein vielleicht wichtigstes Werk, das den Titel „The Grand Chessboard. American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“ („Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“) trägt, und aus dem die oben zitierten Zeilen stammen.

Wie präzise die Prognose des Geostrategen Brzezinski eingetroffen ist, zeigt der Umstand, daß im Frühjahr 2014 mit Arseniy Yatsenyuk ein „mafiöser Ladenschwengel des internationalen Finanzadels, Truppenführer eines ukrainischen Oligarchenclans und Handlanger Washingtons“ (Volker Bräutigam), also quasi eine Art „Karzai von Kiew“, als Ministerpräsident der Ukraine amtiert. Dieser war, wie die für Europa und Eurasien zuständige „Fuck-the-EU“-Abteilungsleiterin des US-Außenministeriums, Victoria Nuland, am 13. Dezember 2013 in Washington vor der „U.S.-Ukraine Foundation“ sich stolz gebrüstet hatte, mit rund fünf Milliarden US-Dollar, welche seitens der US-Regierung seit 1991 für eine „wohlhabende und demokratische Ukraine“ investiert worden wären, von Oligarchenclans im Bunde mit ukrainischen Neofaschisten sowie dem von NATO, EU und Deutschland aufgewiegelten, organisierten und finanzierten Straßenmob an die Macht geputscht worden. Übrigens gegen den von Deutschland massiv unterstützten Vitali Klitschko, den Nuland keinesfalls in der Regierung haben wollte, wie sie in einem abgehörten und danach ins Internet gestellten Telefonat mit dem US-Botschafter in Kiew, Geoffrey Pyatt, wortwörtlich klargestellt hatte. Die illustre Schar der hilfreichen Unterstützer des auf diese Weise installierten Statthalters Washingtons erschließt ein Blick auf die Homepage Yatsenyuks und seiner Stiftung, die den programmatischen Namen „Open Ukraine   – Arseniy Yatsenyuk Foundation“ trägt, als deren Kopf er fungiert.

Die Partnerliste umfaßt unter anderem die „Victor Pinchuk Foundation“ des gleichnamigen Oligarchen, also Wirtschaftsverbrechers, dann den „German Marshall Fund of the United States“ (GMF) mit seiner Tochtergesellschaft „The Black Sea Trust for Regional Cooperation“ sowie das britische „Royal Institute of Foreign Affairs“, auch bekannt als „Chatham House“, in dessen Rahmen wiederum einzelne Schlüsselprojekte von der Rockefeller-Stiftung, der Bill&Melinda Gates Foundation, der Konrad Adenauer Stiftung, der NATO oder der EU finanziert und gesponsert werden. Mit von der Partie ist auch der einschlägig berüchtigte Großspekulant und Multimilliardär George Soros, als Schirmherr und Finanzier seiner „International Renaissance Foundation“, des weiteren das „NATO Information and Documentation Centre“, das in Kiew subversive Wühlarbeit geleistet hat sowie das landläufig als CIA-Frontorganisation bekannte „National Endowment for Democracy“. Als weitere Partner des Putsch-Premiers traten die Botschaft der Republik Polen in Kiew, der Hedgefonds „Horizon Capital“, eine klassische „Heuschrecke“, eine Kiewer Möbelfirma sowie die „Swedbank“ in Erscheinung.

Daß der in der Ukraine in Szene gesetzte Regime Change einer seit mehr als einhundertzwanzig Jahren etablierten außenpolitischen Praxis der USA entspricht, ergibt die Lektüre des von dem Pulitzerpreis-gekrönten US-Journalisten Stephen Kinzer verfaßten Buches „Overthrow: America’s Century of Regime Change from Hawaii to Iraq“, auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Putsch! Zur Geschichte des amerikanischen Imperialismus“. Das Paradigma des Regimewechsels beschreibt der Autor so: „Die Vereinigten Staaten bedienen sich einer ganzen Reihe von Methoden, um sich andere Länder gefügig zu machen. In vielen Fällen greifen sie auf altehrwürdige diplomatische Taktiken zurück, indem sie Regierungen, die Amerika unterstützen, Belohnungen in Aussicht stellen, und denen, die das nicht tun, mit Vergeltung drohen. Manchmal verteidigen sie befreundete Regime gegen den Zorn oder Aufruhr des jeweiligen Volks. In einer Vielzahl von Fällen haben sie stillschweigend Staatsstreiche oder Revolutionen unterstützt, die von anderen angezettelt wurden. Zweimal, im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen, haben sie mitgeholfen Herrschaftssysteme zu stürzen und neue an die Macht zu bringen. … Das erwies sich als musterbildend für künftiges Verhalten. Durch das ganze zwanzigste Jahrhundert und bis in den Anfang des einundzwanzigsten hinein haben die Vereinigten Staaten immer wieder die Macht ihrer Streitkräfte und ihrer Geheimdienste eingesetzt, um Regierungen zu stürzen, die den amerikanischen Interessen ihren Schutz verweigerten. Jedesmal bemäntelten sie ihre Einmischung mit dem schönfärberischen Hinweis auf Sicherheitsbedürfnisse der Nation und den Kampf für die Freiheit. In den meisten Fällen indes lagen ihren Aktionen hauptsächlich ökonomische Motive zugrunde   – vor allem der Anspruch, amerikanische Geschäftsinteressen rund um die Welt zu untermauern, zu befördern und zu verteidigen und jede Störung von ihnen fernzuhalten.“ Zu diesem Zweck unterhält das US-amerikanische Imperium der Barbarei derzeit ein Netz von mehr als achthundert Militärbasen, das sich um den gesamten Globus erstreckt und die Hardware für die ökonomische Kolonisierung des Planeten mit militärischen Gewaltmitteln, vulgo Globalisierung, bereitstellt.

Das extrem ausgeklügelte und zugleich äußerst perfide Funktionsprinzip dieser Kombination von Außenwirtschafts- und Militärgewaltpolitik beschreibt einer der Insider, der diesem System jahrelang zu Diensten war, nämlich der US-Amerikaner John C. Perkins in seinem Bericht „Bekenntnisse eines Economic Hit Man. Unterwegs im Dienste der Wirtschaftsmafia.“ Darin charakterisiert er den Wirkungsmechanismus, der dem US-imperialistischen Herrschaftsmodell zugrundeliegt, als ein Drei-Stufen-System aus „Wirtschaftskillern (EHM)“, „Geheimdienst-Schakalen“ und Militär: „Die Raffinesse, mit der dieses moderne Reich aufgebaut wird, stellt die römischen Zenturionen, die spanischen Konquistadoren und die europäischen Kolonialmächte des 18. und 19. Jahrhunderts bei weitem in den Schatten. Wir EHM sind schlau, wir haben aus der Geschichte gelernt. Wir tragen keine Schwerter mehr. Wir tragen keine Rüstung oder Kleidung, die uns verraten könnte. In Ländern wie Ecuador, Nigeria oder Indonesien kleiden wir uns wie Schullehrer und Ladenbesitzer. In Washington und Paris sehen wir wie Regierungsbeamte oder Banker aus. Wir wirken bescheiden und normal. Wir besuchen Projekte und schlendern durch verarmte Dörfer. Wir bekunden Altruismus und sprechen mit den Lokalzeitungen über die wunderbaren humanitären Leistungen, die wir vollbringen. Wir bedecken die Konferenztische von Regierungsausschüssen mit Tabellen und finanziellen Hochrechnungen und halten an der Harvard Business School Vorlesungen über die Wunder der Makroökonomie. Wir sind stets präsent und agieren ganz offen. Oder zumindest stellen wir uns so dar und werden so akzeptiert. So funktioniert das System. Wir greifen selten zu illegalen Mitteln, weil das System auf Täuschung basiert, und das System ist von der Definition her legal.

Aber (und das ist ein sehr starkes »Aber«) wenn wir scheitern, greift eine ganz besonders finstere Truppe ein, die wir EHM als Schakale bezeichnen, Männer, die die direkten Erben dieser frühen Weltreiche sind. Die Schakale sind immer da, sie lauern im Schatten. Wenn sie auftauchen, werden Staatschefs gestürzt oder sterben bei »Unfällen«. Und wenn die Schakale versagen sollten, wie zum Beispiel in Afghanistan oder im Irak, dann muss doch wieder das alte Modell herhalten. Dann werden junge Amerikaner in den Krieg geschickt, um zu töten und zu sterben. … Economic Hit Man, Schakale und Soldaten werden eingesetzt werden, so lange man nachweisen kann, daß durch ihre Aktivitäten wirtschaftliches Wachstum erzeugt oder gefördert wird   – und Wachstum ist fast immer die Folge ihrer Machenschaften.“ Wobei festzuhalten bleibt, daß die Profiteure des Wachstums in den USA und allenfalls noch in deren alliierten Vasallenstaaten sitzen, während die betroffenen Ökonomien in den unterworfenen Regionen in der neoliberalen Schuldenfalle landen. Exakt dies zeichnet sich bereits jetzt in der Ukraine ab, der von westlicher Seite inklusive Internationalem Währungsfonds milliardenschwere Kredite zugesagt und angedreht werden, die jemals zurückzuzahlen absehbar die volkswirtschaftlichen Kräfte des bankrotten Landes übersteigen wird. Auf diese Weise schafft man sich willige Vasallen in der Schuldknechtschaft, die sich   – Pustekuchen Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und soziale Marktwirtschaft   – nach Belieben auf dem Schachbrett der Geoökonomie und -strategie hin- und herschieben lassen.

Die horrenden Effekte für die von solcherart skrupelloser Macht-, Ausplünderungs- und Gewaltpolitik westlicher Provenienz unter Rädelsführerschaft der USA betroffenen Länder rund um den Globus brachte der Literaturnobelpreisträger Harold Pinter in seiner   – von den westlichen Konzernmedien symptomatischerweise weitgehend totgeschwiegenen   – Preisrede vom 7. Dezember 2005 glasklar auf den Punkt, als er sagte: „In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts. Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen. Das muss man Amerika lassen. Es hat weltweit eine ziemlich kühl operierende Machtmanipulation betrieben, und sich dabei als Streiter für das universelle Gute gebärdet. Ein glänzender, sogar geistreicher, äußerst erfolgreicher Hypnoseakt. Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die größte Show der Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal, gleichgültig, verächtlich und skrupellos, aber auch ausgesprochen clever.“

Fügt man an diesem Punkt nun die Analysen und Erfahrungen der zuvor genannten Autoren Brzezinski, Kinzer, Perkins, Pinter   – allesamt Angehörige des euroatlantischen Kulturkreises und keineswegs unter die Kategorie „Rußlandversteher“ zu subsumieren   – zu einem Gesamtbild zusammen, so erschließen sich die Hintergründe dessen, was in den letzten Monaten in der Ukraine zu beobachten war. Das Drehbuch für den Regime Change war längst geschrieben und bedurfte lediglich seiner Realisierung, die dann auch als weitgehend gelungene Inszenierung für eine erstaunte bis erschreckte Weltöffentlichkeit stattgefunden hat. Mit einem Schönheitsfehler freilich, denn die Krim gehört nun ungeplanterweise zu Rußland   – euroatlantische Hybris kam halt vor dem Fall.

Um an dieser Stelle keine allfälligen Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Weder dürfen die Zustände in der mittlerweile ja auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandeten ehemaligen Sowjetunion beschönigt werden   – worauf auch der schon genannte Harold Pinter schonungslos hinwies: „Jeder weiß, was in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa während der Nachkriegszeit passierte: die systematische Brutalität, die weit verbreiteten Gräueltaten, die rücksichtslose Unterdrückung eigenständigen Denkens. All dies ist ausführlich dokumentiert und belegt worden.“ Noch darf darüber hinaus das völkerrechtswidrige Vorgehen Moskaus im Zuge der Wiedereingliederung der Krim und Sewastopols in die Russische Föderation verschwiegen werden, das weder mit der völkerrechtlich verbindlichen Satzung der Vereinten Nationen noch mit einer Vielzahl völkervertragsrechtlicher oder politischer Vereinbarungen und Garantien, wie sie etwa im Verlaufe des KSZE/OSZE-Prozesses getroffen und gegeben worden sind, zur Deckung zu bringen ist. Ganz klar geht dieser Sachverhalt zudem aus Artikel 3 der von der UN-Generalversammlung bereits 1974 beschlossenen Resolution zur „Definition der Aggression“ (A/RES/3314 (XXIX)) hervor. Nur gilt eben, daß, wer über die völkerrechtliche Verfehlung Rußlands reden will, über die in Serie begangenen Völkerrechtsverbrechen des Westens nicht schweigen darf.

Wie und wohin der Konflikt um Krim und Ukraine weitertreiben wird, ist derzeit unabsehbar. Folgt man der geostrategischen Denkschule eines Zbigniew Brzezinski, dessen Name lediglich pars pro toto für die wohl einflußreichste Fraktion in der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik steht, dann ist mit dem Putsch in Kiew der Job ja längst noch nicht erledigt   – auf dem längerfristigen Programm steht nämlich der regimewechseltechnische Dreisprung Kiew  –Minsk  –Moskau. Konkret heißt das: der „Scherge“ in Minsk sowie der „Verrückte“ in Moskau muß weg und Frieden gibt’s erst, wenn schlußendlich auch im Kreml kollaborationswillige Marionetten Washingtons residieren. Kurzfristig besorgniserregend muß die momentan unter Leitung einschlägig bekannter Rechtsextremisten mit CIA-Geld und Ausbildungsberatern US-amerikanischer Söldnerfirmen betriebene Aufstellung einer kopfstarken ukrainischen Nationalgarde erscheinen. Was sich hieraus entspinnen könnte, entspräche möglicherweise den in den Balkankriegen der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts erprobten Szenarien. Dort hatten im Sommer 1995 im Rahmen der „Operation Sturm“ 120.000 kroatische Soldaten zunächst die Region Krajina „serbenfrei“ gemacht, um dann im Herbst gemeinsam mit bosnischen Armeeeinheiten die serbischen Streitkräfte im Rahmen der „Operation Mistral“ endgültig zu schlagen   – in beiden Fällen waren die Truppen von Söldnerfirmen wie MPRI trainiert und von NATO-Luftstreitkräften unterstützt worden. Nach dem selben Muster verlief der sogenannte Kosovo-Krieg 1999, wo die NATO in einem 78tägigen Luftkrieg die von der Terrororganisation zur Freiheitskämpfertruppe mutierte kosovo-albanische UCK an die Macht bombte und damit bewirkte, daß anschließend unter den Augen der KFOR das Kosovo von Serben, Ashkali und Roma sowie Juden ethnisch gesäubert wurde.

Nicht auszuschließen ist ein ähnliches Szenario in der Ostukraine, wo die neue Nationalgarde systematisch einen antirussisch fundierten Konflikt anheizen könnte, der im Falle einer Eskalation in den Bereich ethnischer Vertreibungen oder Säuberungen dann ein militärisches Eingreifen russischer Streitkräfte provozieren könnte. Letzteres bildete dann den Vorwand für die „Vorwärtsstationierung“ US-amerikanischer rsp. NATO-Luftstreitkräfte und deren Intervention in das Bürgerkriegsgeschehen   – alles im Namen von Freiheit und Menschenrechten, versteht sich. Die Eskalationsgefahr einer derartigen Konfliktentwicklung ist selbstredend enorm, nicht zuletzt angesichts des Umstandes, daß die USA, wie im Jahre 2006 die sicherheitspolitischen Experten Keir A. Lieber und Daryl G. Press in ihrem Beitrag „The End of MAD? The Nuclear Dimension of U.S. Primacy“ (erschienen in der Fachzeitschrift „International Security”) schreiben, seit Jahren über die Fähigkeit zu einem nuklearen Enthauptungsschlag verfügen, mit dem sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das zusammengeschrumpfte russische Atomwaffenpotential komplett vernichten und zugleich die Gefahr eines nuklearen Gegenschlages ausschalten könnten. Daraus resultiert die Erkenntnis, daß das ehemals stabile System gegenseitiger nuklearer Abschreckung mittlerweile extrem instabil geworden ist und ganz erhebliche Anreize für den Ersteinsatz von Atomwaffen existieren   – nichts Geringeres als ein sowohl militärstrategischer als auch friedenspolitischer Alptraum!

Was angesichts dessen dringend notwenig ist, sind unverzüglich aufzunehmende internationale Verhandlungen zwischen der Russischen Föderation, der Ukraine, den USA und der Europäischen Union, mit dem Ziel, die Krise zu deeskalieren und auf politisch-diplomatischem Wege beizulegen. Wie das Ergebnis eines derartigen Verhandlungsprozesses aussehen könnte, haben im Laufe des Kalten Krieges geprägte Politiker wie Henry Kissinger oder Helmut Schmidt bereits dargelegt. Im Grunde muß es um eine Neutralisierung der Ukraine nach dem Beispiel Finnlands oder auch Österreichs am Ende des Zweiten Weltkriegs gehen. Zu verhandeln und zu ratifizieren wäre ein Staatsvertrag, in dem die Ukraine immerwährende Neutralität zusichert und im Gegenzug die Souveränität und territoriale Integrität des Landes garantiert wird. Letzteres schließt eine zukünftige NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zwingend aus. Darüber hinaus wäre sicherzustellen, daß das Land sich einerseits zwar der Europäischen Union assoziieren darf, ohne allerdings Vollmitglied werden zu können, da es ansonsten Teil der militärischen Integration im Rahmen der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)“ rsp. der „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP)“ werden würde, was wiederum einer Art von NATO-Mitgliedschaft durch die Hintertür gleichkäme, solange dieser überkommene Militärpakt unter Hegemonie der USA noch fortexistiert. Andererseits muß geregelt werden, auf welche Weise die Ukraine den ökonomi-chen Verbund mit der Russischen Föderation gestalten könnte, beispielsweise im Rahmen des Projekts einer „Eurasischen Union“. Von seiten der Europäischen Union und insbesondere auch Deutschlands wäre eine solche vertragliche Regelung dadurch abzusichern, daß die im Zuge der bewährten Entspannungspolitik aus den Zeiten des Kalten Krieges eingegangene gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung mit Rußland nicht, wie momentan von russophoben Schwachköpfen gefordert, etwa aufgelöst, sondern im Gegenteil ausgebaut und vertieft wird   – nichts vermag im Jahre 2014 die überragende Weisheit dieses ungemein friedenssichernden Ansatzes so schlagend zu demonstrieren wie die Rückbesinnung auf das Jahr 1914.

Epilog: Abschließend seien all jenen gehirngewaschenen Transatlantikern, die immer noch mit ihrem in den US-amerikanischen Nationalfarben angestrichenem Brett vor dem Kopf durch die Welt torkeln, folgende Erkenntnisse des bereits eingangs zitierten Zbigniew Brzezinski ins politische Kleinhirn gehämmert: „Kurz, eurasische Geostrategie bedeutet für die Vereinigten Staaten den taktisch klugen und entschlossenen Umgang mit geostrategisch dynamischen Staaten und den behutsamen Umgang mit geopolitisch katalytischen Staaten entsprechend dem Doppelinteresse Amerikas an einer kurzfristigen Bewahrung seiner einzigartigen globalen Machtposition und an deren langfristiger Umwandlung in eine zunehmend institutionalisierte weltweite Zusammenarbeit. Bedient man sich einer Terminologie, die an das brutalere Zeitalter der alten Weltreiche gemahnt, so lauten die drei großen Imperative imperialer Geostrategie: Absprachen zwischen den Vasallen zu verhindern und ihre Abhängigkeit in Fragen der Sicherheit zu bewahren, die tributpflichtigen Staaten fügsam zu halten und zu schützen und dafür zu sorgen, daß die »Barbaren«völker sich nicht zusammenschließen.“ (PK)

Der Autor war Oberstleutnant der Bundeswehr und ist Mitglied im Vorstand des „Darmstädter Signal“, des Forums für kritische StaatsbürgerInnen in Uniform.

Quelle:
http://www.nrhz.de/

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