Skip to main content

Flucht aus Mariupol

Reise von Moskau an die ukrainische Grenze. Die Kriegsvertriebenen erzählen von der Hölle, auf Russisch «Ad». Das Wort verfolgt mich. Die Hölle heisst Krieg.
Thomas Fasbender 06.04.2022 Weltwoche
09. April 2022
Taganrog: Grosse, rote Lettern schmücken das Dach: Dworez Sporta, Sportpalast. An der Stirnwand der Arena, auf deren Parkett in normalen Zeiten die Olympiareserve trainiert, hängt eine russische Fahne. Daneben, etwas grösser, ein Werbeplakat der Gazprombank. Wir sind in Taganrog, der letzten grösseren russischen Stadt im Norden des Asowschen Meers, fünfzig Kilometer vor der ukrainischen Grenze.

Mariupol Weltwoche
Um sich durchzuschlagen, braucht es Mut und Kraft, vor allem aber Glück ohne Ende: Mariupol, 3. April.

Vor der Schule treffen Kleinbusse mit Geflüchteten ein, es sind Menschen aus dem umkämpften Mariupol. Ein Dutzend wartet daneben auf die Weiterreise, das bisschen Habe in billige gewebte Karo-Taschen oder Plastikbeutel gestopft. Irgendwann kommt der Bus, der sie zur nächsten Station einer ungewissen Reise bringt. Die Sportschule Nr. 13 ist ein Auffanglager. Von hier aus werden die Geflüchteten über ganz Russland verteilt, in Sanatorien, Ferienlager und Heime. In Taganrog bleiben sie maximal ein, zwei Tage.

Keine Chance, den Vater zu begraben

Die Sportarena ist übersät mit Feldbetten, je dreissig in sechs Reihen, darauf Steppmatratzen, Kissen, Decken. In einer Ecke spielen Kinder, leise mit blassen Gesichtern. Die Erwachsenen liegen wie hingeworfen, apathisch, die Ellbogen aufgestützt. Ihr Blick geht ins Nirgendwo. Kaum ein Geräusch ist zu hören. Wen immer ich anspreche, die Augen sind leer. Wer redet, erzählt von der Hölle, auf Russisch «Ad». Das Wort verfolgt mich. Die Hölle heisst Krieg.

Artur ist sechzehn, ein kluger, aufgeweckter Teenager mit klarer Beobachtungsgabe. Vor vier Tagen hat er seinen Vater verloren. Der war auf dem Weg in die bereits verlassene Wohnung in der Wolgodonskajastrasse, zwei Kilometer östlich des umkämpften Stahlwerks Asowstal. Vor einer Sprenggranate hat er sich in den Hauseingang gerettet, dort haben ihn die Splitter zerrissen. Sein Sohn ist der Einzige aus der Familie, der ihn später noch gesehen hat. Erkannt hat er ihn nur an der Kleidung. Es gab auch keine Chance, den Vater zu begraben; der Beschuss war so dicht, sie hätten nur ihr Leben riskiert.

«Ohne Rückendeckung des Militärs könnten wir keine humanitäre Hilfe leisten.»

Von Trauer über den Verlust ist Artur weit entfernt. Gefangen im Kriegsstress, die Augen trocken, spult sein Gedächtnis Beobachtungen ab: der Panzer versteckt in der Durchfahrt zwischen zwei Höfen, die Granate, die ein Verteidiger in einen Kellereingang wirft, der Algorithmus aus Pfeifgeräusch und Bedrohung. Seine Mutter sitzt neben ihm, 41 Jahre alt, mit blonden Locken und einem intelligenten, einst attraktiv gewesenen Gesicht. Es ist aschfahl, vom Krieg gezeichnet. Wie ihren Sohn hat die Trauer sie noch nicht erreicht. Dafür sprudelt es aus ihr hervor. Das Stahlwerk, Asowstal   – darunter liegen tiefe Bunker aus sowjetischer Zeit. Viele hundert Zivilisten seien dort untergebracht. Etagen darüber, auf den Dächern und Balkonen der weitläufigen Fabrik, hätten die Verteidiger sich eingerichtet. Dort zögen sie das russische Artilleriefeuer auf sich. Auch sie erzählt vom Pfeifen der Geschosse. Nie wird sie das vergessen. Wie das Hirn sich verselbständigt, sobald es ertönt. Nur Sekundenbruchteile bleiben für die Entscheidung: ein Krater, ein Eingang, flach auf den Boden. Nach dem Tod des Mannes, die Mutter im Krankenhaus, hat sie nur noch an Flucht gedacht.

Doch Fliehen bedeutet erst recht Risiko. Alle hätten sie in ihren Wohnungen ausgeharrt, bei Artilleriebeschuss im Keller. Auf einem der seltenen Besorgungsgänge habe ein Verteidiger sie aufgehalten. In die Richtung gehe sie besser nicht, die Strasse sei vermint. Auf ihren Einwand, sie müsse doch was zu essen kaufen, habe er sie angeherrscht: «Wer hat dir gesagt, dass hier nur Soldaten sterben?» Für viele aus der Westukraine gehörten sie gar nicht dazu, sagt sie und meint die russischsprechenden Ukrainer im Osten.

Ich frage, ob sie sich als Russin fühlt. Nein, warum? Sie will in Frieden leben, das ist alles. Die Minen haben die Verteidiger gelegt, um den Feind am Vorrücken zu hindern. Sie erfüllen noch einen weiteren Zweck, das bestätigen nicht nur Jelena und ihr Sohn. Die Menschen in den Kellern und Wohnungen, auch die in den Bunkern unter dem Asowstal-Werk, dienen den Verteidigern als Schutzschild.

Jelenas achtjähriger Sohn Artjom, bleich und mit tiefblauen Ringen unter den Augen, presst seinen Rücken an den der Mutter und hält sich krampfhaft die Ohren zu. Auf dem Bett daneben sitzen zwei achtjährige Mädchen, die Zwillinge Sascha und Alissa. Ihre Mutter und Jelena sind Schwestern. Alissa spielt gedankenverloren in einer anderen Welt, Sascha lächelt. Ihr Vater ist noch am Leben. Hoffen sie.

Artur erzählt, wie er bald nach dem russischen Angriff gelernt hat, die Flugbahn und die Art der Geschosse zu unterscheiden. Das schrille Pfeifen der Granate verrät Nähe, Richtung und Ursprung. Bei Gewehrkalibern achtet er auf das Mündungsfeuer, den Schussknall und den Aufprall. In der fünften Etage im Haus gegenüber habe er einen Scharfschützen ausgemacht, mit eigenen Augen. Das sei kein Russe gewesen. Auch das erste Artilleriegeschoss, das in den frühen Märztagen ihr Wohnhaus traf, sei definitiv aus einem Geschütz der Verteidiger gekommen.

Die ukrainische Armee beschiesst ihre eigene Zivilbevölkerung? Woher will er das wissen? Der ganze Stadtteil sei in ukrainischer Hand gewesen, antwortet er, die Front noch Kilometer entfernt. Zwei Reihen weiter sitzen Sergei und seine Frau Irina auf ihren Feldbetten und essen Haferkekse. Auch sie haben Zwillinge, Alexander und Nikita, ausserdem eine ermattete Sphynx-Katze, die wie aus Porzellan unter einer Decke liegt. Sergei berichtet von den ersten Kriegstagen. Sie wohnten im dritten Stock eines Plattenbaus am Morskoj Bulvar, unweit des Hafens. Sofort nach dem ersten Beschuss Ende Februar sei die zivile Verwaltung zusammengebrochen. Polizei und Feuerwehr hätten die Stadt verlassen, um den 1. März seien dann die Lebensmittelgeschäfte geplündert worden, bald darauf alle anderen. Am 8. oder 9. März sei eine Patrouille zu ihnen gekommen, sie hätten Wohnung für Wohnung nach ukrainischen Soldaten durchkämmt, dann seien sie wieder verschwunden.

Die Menschen kochen auf offenen Feuern, verbrennen Möbel auf dem Balkon.

Am nächsten Tag vernimmt er ein unheimliches Motorengeräusch. Im Hof steht ein Panzer, dessen Geschützturm sich langsam in seine Richtung dreht. Ihm bleibt fast das Herz stehen. Dann eine ohrenbetäubende Explosion, die Wände zittern, nach einer halben Minute noch eine. Sergei hat sich gerade noch in einen fensterlosen Korridor gerettet. Als er sich wieder ans Fenster traut, ist kein Panzer mehr da. Stunden später wagt er sich in den Hof. Eine Erdgeschosswohnung im Nachbareingang ist zerstört. Das markante Z, das die russischen Fahrzeuge kennzeichnet, habe er auf dem Panzer nicht gesehen.

Er berichtet auch von einer Menschengruppe, die auf dem Weg zur russischen Front einen Kontrollposten passiert. Die Soldaten hätten es ihnen erlaubt, dann, nach zwanzig Metern, hätten sie geschossen, von hinten. Mindestens fünf seien liegen geblieben. Ein anderer habe eine Salve in eine Menschenschlange abgefeuert, die um Brot anstand. Hat er das wirklich gesehen, mit den eigenen Augen? Er nickt. «Das waren unsere», sagt er, «unsere.» Die Witwe Jelena berichtet von einem 27-jährigen Nachbarn, der beim Wasserholen von Scharfschützen in den Rücken getroffen wurde. «Für die ist Morden ein Spiel», lacht sie. Der Tod ihres Mannes hat sie bitter gemacht.

Strom und Gas, Internet und Mobilfunk gab es schon den ganzen März nicht mehr. Die Menschen kochen auf offenen Feuern, verbrennen Möbel auf dem Balkon. Am schlimmsten ist der Wassermangel; er zwingt sie aus dem Haus. Die 71-jährige Swetlana hat zwei Wochen im Keller zugebracht, mit fünf Litern Wasser für neun Menschen. Von umgerechnet (vor dem Krieg) 82 Euro Rente hat sie im Mariupoler Vorort Sartana gelebt; jetzt liegt sie neben ihrer gehbehinderten Tochter auf einem Feldbett in Taganrog. Sie ist die Einzige, die hasserfüllt von «Faschisten» spricht, wenn sie die ukrainischen Soldaten meint.

Die Rede ist vom Asow-Regiment der Nationalgarde, dem die Verteidigung Mariupols obliegt. Die seien perfekt ausgerüstet, erzählt Swetlana, mit Uniformen und Gadgets wie in einem Science-Fiction-Film. 2014 wurden die «Asowzy», wie sie hier in Taganrog jeder nennt, als Freikorps gegründet und seitdem konsequent hochgerüstet. Die Stadt wurde zum Vorposten ausgebaut. Militär auf den Strassen sei nichts Besonderes gewesen, berichtet auch Sergeis Ehefrau Irina. Vor Jahren habe sie mit einem Nato-Offizier Bekanntschaft gemacht, einem Slowaken. Mariupol war auf einen Krieg gut vorbereitet.

Kein Telefon, kein Internet

Die Asowzy gelten auch als militärischer Arm einer ukrainischen Blut-und-Boden-Ideologie. Ihr schwarz-gelbes, hakenkreuzähnliches Symbol hat sie weltweit bekannt gemacht. Viele Rechtsextreme aus westlichen Ländern kämpfen in ihren Reihen. Aber worum geht es? Um die Ukraine oder um den Hass? Ein Fluchthelfer aus Rostow erinnert sich an die Familie Butussin, Vater und drei Söhne, die waren schon in den Neunzigern faschistisch angehaucht. Sie sind Russen, dennoch kämpfen sie mit den Asowzy. In einem Video schwadroniert der Senior vom «Kampf gegen die Bolschewiken» und gegen den «Antichristen Putin». Christina, 35, aus Donezk, die im Haus einer Taganroger Freundin untergekommen ist, berichtet von 2014, als sie Soldaten mit dem Schriftzug UKRWEHRMACHT an der Schulter begegnet sei.

Jelena erzählt von ihrer Flucht. Von den grünen Korridoren wusste sie nichts, auch die anderen in der Stadt nicht. Es gibt in Mariupol keine Bekanntmachungen, kein Telefon, kein Internet, keine Lautsprecherwagen. Ab und an lässt sich das Radio der sogenannten Volksrepubliken empfangen. Dafür gab es Gerüchte von Sammelpunkten im Osten, hinter der russischen Front. Doch bis dahin sind es mehrere Kilometer. Erst muss man die Verteidigungslinie überwinden, dann das Niemandsland. Jeder Meter ausserhalb der schützenden Keller heisst Angst vor Artilleriebeschuss, Minen und Scharfschützen. Um sich durchzuschlagen, braucht es Mut und Kraft, vor allem aber Glück ohne Ende.

In Jelenas Fall gab es keinen Zweifel. Sie war fest entschlossen. Mit ihrer Schwester hatte sie vereinbart, die erstbeste Möglichkeit wahrzunehmen. Plötzlich sei die Nachricht gekommen, bei der Kirche warteten Fluchthelfer auf der russischen Seite. Sie habe barfuss im Keller gesessen, sei aufgesprungen und über Splitter und Scherben in die Wohnung hoch. Schuhe, ein Rucksack, dann die Kinder aus dem Keller, und nichts wie weg. Nach sieben oder acht Kilometern hätten Tschetschenen die Gruppe in Empfang genommen und in Sicherheit gebracht.

Dankbarkeit gegenüber Russland

In westlichen Medien hiess es, Einwohner aus Mariupol seien gegen ihren Willen nach Russland gebracht worden. So hatte Kiew es behauptet, dort war offiziell von «Verschleppten» die Rede. Man habe den Menschen auch ihre ukrainischen Pässe abgenommen. In Taganrog suche ich vergebens nach Verschleppten. Was ich damit meine, fragt man mich zurück. Nicht freiwillig? Sie sind glücklich, der Hölle entkommen zu sein. Sergei greift in die Innentasche seines abgetragenen Anoraks und zieht seinen ukrainischen Pass hervor. Auch die anderen beteuern, dass man ihnen nichts abgenommen hat. Die Rentnerin Swetlana, schwerhörig, aber voll theatralischer Energie, greift nach meinem Handgelenk. Unbedingt muss ich schreiben, wie dankbar sie den Russen ist, wiederholt sie gleich dreimal.

Nach russischen Angaben flüchteten Anfang April täglich mindestens 13 000 Menschen in das Rostower Gebiet. Sie kommen aus den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, vor allem aber aus Mariupol im Südwesten. Seit Ende Februar ist es insgesamt über eine halbe Million. Sie fliehen vor keiner Kriegspartei, sie fliehen vor dem Krieg. Dass Russland ihn über sie gebracht hat, werden sie noch begreifen müssen. Für die Zivilisten in Mariupol gibt es auch keine Freunde, keine Partei, der man zugehört. Wie im Dreissigjährigen Krieg hält die Bevölkerung den Rücken hin. Nach allen Seiten, am Tag und in der Nacht. Russland, Ukraine, Rebellenrepublik   – für die Menschen in den Kellern und Wohnungen macht das keinen Unterschied. Sie haben kein Wasser und kaum noch zu essen, und eine enthemmte Soldateska trinkt sich an ihnen den Blutdurst satt.

Thomas Fasbender

Quelle: https://weltwoche.ch/story/flucht-aus-mariupol/

«Daily»-Spezial: Thomas Fasbender spricht mit Augenzeugen, die erzählen, wie ukrainische Truppen in Mariupol Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbrauchen

Weitere Beiträge in dieser Kategorie