EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine

Nein, Herr Schulz, das war wirklich keine Sternstunde der Demokratie!
von Karl-Jürgen Müller
21. September 2014
Große Teile der politischen Klasse innerhalb der EU-Staaten und der Institutionen der EU sprechen zwar von Freiheit, Recht und Demokratie, müssen aber etwas ganz anderes damit meinen als den eigentlichen Begriffsinhalt. Ihre Politik jedenfalls zeugt von etwas ganz anderem als der Förderung von Freiheit, Recht und Demokratie. Das zeigt sich in der Innen-, aber auch in der Außenpolitik. Jüngstes Beispiel ist das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine und das rhetorische Tamtam rundherum.

Die Bürger in den EU-Staaten kommen nicht umhin, aus diesen Vorgängen zu lernen und entschlossen, aber auch mit Umsicht am Aufbau von mehr direkter Demokratie zu arbeiten. Das wird nicht von heute auf morgen gelingen, sondern braucht den beharrlichen Aufbau vom Menschen her und gemeinsam mit dem Mitbürger. Es gibt hierzu keine vernünftige Alternative   – mag einem verständlicherweise beim Blick auf die Realität auch immer wieder Empörung und Zorn packen.

«Können Wörter lügen?» fragte vor fast 50 Jahren der renommierte deutsche Sprachwissenschaftler Harald Weinrich. Am Ende seiner Abhandlung schrieb er: «‹Demokratie› ist ein Wort der deutschen Sprache, das Begriffsrang hat. Demokratie ist nämlich nach dem Sprachgebrauch definiert als eine Staatsform, in der die Staatsgewalt vom Volk ausgeht […]. Wer eine Staatsform will, in der die Gewalt nicht vom Volk ausgeht […] und wer dennoch das Wort ‹Demokratie› für diese Staatsform verwendet, der lügt.»

Am 16. September hat der Präsident des Parlaments der Europäischen Union, Martin Schulz, die Zustimmung des EU-Parlaments zum Assoziierungsvertrag der EU mit der Ukraine und die zeitgleiche Zustimmung des ukrainischen Parlaments mit folgenden Worten kommentiert: «Die Ratifizierung dieses seit den ersten Tagen der friedlichen Demonstrationen auf dem Maidan im Wortlaut unverändert gebliebenen Vertrages ist eine Sternstunde der Demokratie.» Diese Aussage ist gleich mehrfach eine Lüge. Und sie ist nicht nur dem Präsidenten des EU-Parlaments zuzuschreiben, sondern in ihrer Selbstgefälligkeit typisch für einen großen Teil der politischen Klasse in den EU-Staaten, deren Folge ein gefährlicher Realitätsverlust ist.

Schon der Name der Einrichtung, die Herr Schulz präsidiert, ist eine Lüge. Das Gebilde, das abwechselnd in Strassburg und Brüssel zusammenkommt, ist kein Parlament. Weder hat es die Rechte und Pflichten eines Parlaments, noch gibt es ein Staatsvolk, das dieses Parlament wählt. An den Wahlen zu diesem Gebilde beteiligen sich innerhalb der gesamten EU weniger als 50% der Stimmberechtigten, in manchen EU-Ländern sind es sogar weniger als 20%.

Die Bürger dürfen ihr Kreuz nur bei den Parteien machen. Die Wähler haben keinerlei Einfluss darauf, welche Personen im Parlament sitzen, und diese Personen sind niemandem verpflichtet, jedenfalls nicht den Bürgern. Darüber, ob und wo eine dieser Personen auf einer Wahlliste steht, entscheiden alleine die Parteien, in denen nicht einmal 5% der Wahlberechtigten Mitglieder sind. Die verschiedenen Länder, die sich an diesen Wahlen beteiligen, haben ganz unterschiedliche Stimmrechte, das Gebot, dass jede Stimme gleich viel zählt, gilt für dieses Gebilde nicht.

Fast kein Bürger in einem Staat der EU kann auch nur 5 Abgeordnete in diesem Gebilde namentlich nennen. Was nicht verwundert; denn es gibt praktisch keinen direkten Kontakt zwischen den Bürgern und den Personen in diesem Gebilde. Weniger als 1% der Bürger glaubt, auf die Entscheidungen dieses Gebildes Einfluss nehmen zu können. Woher ich diese Zahlen habe? Fragen Sie Ihre Mitbürger!

Selbst das deutsche Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass dieses Gebilde einem Vergleich mit einem nationalen Parlament nicht standhalten kann.

Aber wie sieht es mit dem Parlament in der Ukraine aus? Dieses Parlament wurde zwar von den Bürgern der Ukraine gewählt. Aber wie korrupt oder erpressbar oder anderweitig abhängig dieses Parlament ist, zeigte sich Ende Februar 2014, als über Nacht ganz plötzlich ganz andere Abstimmungsergebnisse möglich waren als zuvor. Dieses «Parlament» hat dem Assoziierungsvertrag sogar einstimmig zugestimmt. 26 Abgeordnete sind aber gar nicht zur Abstimmung erschienen. Warum? (siehe weiter unten)

Frage an die Personen, die in Kiew und in Strassburg entschieden haben: Wer von Ihnen hat die 1200 Seiten des Vertrages, dem Sie zugestimmt haben, gelesen?

Frage Nummer 2: Wer muss sich mit dem Assoziierungsabkommen wem anpassen? Die EU der Ukraine? Oder die Ukraine der EU? Wer muss sich radikal verändern? Die EU? Oder die Ukraine? Wissen die Menschen in der Ukraine schon, wohin die Reise mit den Verpflichtungen aus dem Abkommen gehen wird? Es sei wortgleich das Abkommen vom Herbst letzten Jahres, hat Herr Schulz gesagt. Und was ist jetzt mit den ernsten Bedenken, die es im Herbst letzten Jahres gab?

Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages und CSU-Abgeordnete Johannes Singhammer hat, so berichtete die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» am 17. September, beklagt, «dass wichtige EU-Dokumente dem Bundestag nur auf Englisch zur Verfügung stünden». «Der Bundestag wird nicht respektiert», sagte der Vizepräsident der Zeitung. Die Zeitung fügte die Aussage des Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestages, Wolfgang Bosbach von der CDU, hinzu, der sagte, es werde nur beraten, was in deutscher Übersetzung vorliege. 53 mal in den vergangenen Legislaturperiode habe der Bundestag die Beratung eines EU-Dokumentes verweigert, weil keine deutsche Übersetzung vorlag. Wichtige EU-Dokumente werden im Deutschen Bundestag also gar nicht beraten.

Und in welchen Sprachen liegt das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine vor? Auf der Internetseite der EU jedenfalls gibt es den kompletten Text nur in englischer Sprache.

Die Lüge breitet sich aus wie ein Virus. Am selben Tag, als das Parlament in Kiew dem Assoziierungsabkommen mit der EU zugestimmt hat, hat es auch ein Gesetz beschlossen, das die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» vom 17. September mit dem Titel «Ukrainisches Parlament stimmt für Autonomie des Ostens» versah. Ähnliche Schlagzeilen gab es am selben Tag in fast allen deutschsprachigen Medien. Man kann das über Google in Erfahrung bringen. Und dann wurde noch hinzugefügt, dass Frau Timoschenko gar nicht einverstanden sei. Frau Timoschenko ist auch im Westen nicht mehr die Gallionsfigur von Freiheit und Demokratie. Also, denkt der Leser, wird dieses neue Gesetz ja gar nicht so schlecht sein. Endlich gibt es eine Lösung für die Probleme in der Ukraine. Wer kann denn da noch dagegen sein!?

Vielleicht die Menschen, die es betrifft. Jedenfalls wurden sie von Herrn Poroschenko und vom Parlament in Kiew nicht gefragt. Und dann gibt es noch eine interessante Äusserung, die bei uns im Westen nicht zitiert wird, aber bei Ria Novosti. Die russische Nachrichtenagentur zitiert die Beauftragte des Präsidenten der Ukraine, Irina Geraschtschenko, mit den Worten: «Das Gesetz sieht eine schrittweise Rückkehr dieser Regionen [um die Städte Donezk und Lugansk im Osten und Südosten der Ukraine] unter die Kontrolle der ukrainischen Regierung und eine vollständige Wiederherstellung der Souveränität vor.»

Ist es da verwunderlich, wenn die derzeit Verantwortlichen in den Regionen Donezk und Lugansk dem neuen Gesetz nicht applaudieren, sondern der erste Stellvertretende Ministerpräsident der Volksrepublik Donezk das Gesetz wie folgt kommentierte: Gesetze, die in seiner Region Geltung hätten, beschliesse einzig und allein ihr eigenes Parlament.

Fürwahr, es gibt die Mitschrift einer Pressekonferenz mit Vertretern derjenigen Kräfte im Osten und Südosten der Ukraine, die sich von der Ukraine lossagen wollen. Dieses Gespräch mit Medienvertreten fand Anfang September statt. Die Vertreter aus der Ostukraine sprachen von den verheerenden Zerstörungen in ihrem Landesteil durch die ukrainische Armee und die Söldner verschiedener Länder, von tausenden toten Soldaten, von den Opfern unter der Zivilbevölkerung, und sie brachten zum Ausdruck, dass sie sich eine föderale Lösung nun nicht mehr vorstellen können. Der hierfür richtige Zeitpunkt sei verpasst worden. Für sie gebe es jetzt nur noch eine Unabhängigkeit vom Rest der Ukraine.

Das muss nicht das letzte Wort sein. Dafür gibt es ja Verhandlungen, dass man Lösungen sucht zwischen den unterschiedlichen Positionen. Aber eines lehrt die geschichtliche Erfahrung. Die Anwendung von Gewalt, so wie sie der Osten und Südosten der Ukraine in den vergangenen Monaten auf brutalste Art und Weise erlitten haben, wird eine zügige Verhandlungslösung enorm erschweren. Was will man den tausenden Angehörigen der bisherigen Opfer sagen? Warum mussten tausende Menschen sterben? Warum wurden die Städte zerbombt? Warum müssen bis heute die Menschen in Donezk und Lugansk unter unerträglichen humanitären Bedingungen um ihr Überleben kämpfen?

Aber vielleicht plant Herr Schulz schon eine neue Rede mit der Lüge von der friedlichen Integration des Ostens in den Rest der Ukraine. So wie er von den «friedlichen Demonstrationen auf dem Maidan» gelogen hat.

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