"The Nation": Neue Positionierung mit einem Leitartikel über "Henry Kissinger, Kriegsverbrecher"
In der höflichen Gesellschaft gilt es nicht als bon ton, auf ein Grab zu spucken. Noch weniger gilt es als "bon ton", einem Mann ins Gesicht zu spucken, der vor seinem eigenen Grab steht. Das Mindeste, was man dem Autor und der Redaktion, die ihn vorgestellt hat, sagen kann, ist: "Sucht euch jemanden, der sich wehren kann."
Ich schreibe jedoch, um etwas weitaus Wichtigeres als die Etikette zu diskutieren. Es geht um die Angriffslinie des Autors: Kissinger wird dafür verurteilt, dass er den Krieg in Vietnam zum politischen Vorteil seines Förderers Richard Nixon in die Länge gezogen hat und dadurch eine große Zahl von Toten unter den Kämpfern und Zivilisten verursacht hat, die hätten vermieden werden können, wenn der Krieg viel früher beendet worden wäre. Für diese Sünde wird Kissinger als "Kriegsverbrecher" gebrandmarkt.
Ich muss mich fragen, wie es dem Autor und seinen Redakteuren bei The Nation gelungen ist, den Fall Kissinger und sein Vergehen von der Realität der amerikanischen Außen- und Militärpolitik der letzten 25 Jahre zu isolieren. Das Land wurde von einem erwiesenen Kriegsverbrecher nach dem anderen regiert. Was sagen wir über George W. Bush, über Dick Cheney, die ebenfalls "noch auf freiem Fuß" sind? Was ist mit Barack Obama und seinen Drohnenangriffen, bei denen Hochzeitsgesellschaften ermordet und andere unglückliche Kollateralschäden in Ländern des Nahen Ostens verursacht wurden, ohne dass sie jemals zur Rechenschaft gezogen wurden?
Aber der bemerkenswerteste Verbrecher von allen sind der derzeitige Amtsinhaber des Oval Office und seine Genossen Tony Blinken und Victoria Nuland, die einen hoffnungslosen Krieg in und um die Ukraine verlängern, indem sie hundert Milliarden Dollar an militärischer "Unterstützung" nach Kiew schicken, deren einziges Ergebnis darin besteht, dass Zehntausende von Ukrainern auf den Schlachtfeldern ohne jeden Zweck abgeschlachtet werden. Ist dies nicht ein zynischer Einsatz von Krieg, um die Vorherrschaft der USA über ihre vasallenartigen Verbündeten in Europa und Asien durchzusetzen? Dennoch genießt dieser verbrecherische Präsident die Unterstützung des Herausgebers von The Nation und der progressiven Demokraten, die die Publikation zu ihrem Kernpublikum zählt.
Mit all dem möchte ich Henry nicht vom Haken lassen. Der Mann wird heute genauso wie in der Vergangenheit von Eitelkeit und Selbstdarstellung angetrieben. Seine gestrigen Äußerungen gegenüber der Presse über die Beendigung des Krieges in der Ukraine sind nur der jüngste Versuch, sich beim Weißen Haus einzuschmeicheln. Dieser Ehrgeiz, ins Oval Office eingeladen zu werden, um seine Weisheiten mitzuteilen, ist seit Jahrzehnten sein Schwachpunkt und erklärt die gelegentlichen Positionswechsel in seinen orakelhaften Ratschlägen.
Ich habe mich ausgiebig mit seinen Schriften und seinem Denken befasst. In meiner 2010 erschienenen Aufsatzsammlung Great Post-Cold War American Thinkers on International Relations habe ich Henry 45 Seiten gewidmet. Ich glaube, ich habe mich mit seinem Werk auseinandergesetzt und sowohl seine Stärken als auch seine Schwächen in den damaligen Bestsellern herausgestellt.
Als ich über sein Hauptwerk Diplomacy recherchiert habe, habe ich durch die Kommentare geblättert, die Leser auf der Amazon-Website zu dem Buch hinterlassen hatten. Einer hatte geschrieben: "Für einen Kriegsverbrecher schreibt er sehr gut." Ja, in der Tat, es ist nichts Originelles daran, Henry für seine Verbrechen an die Wand zu nageln. Es wurde auch über ihn gesagt, dass er die zweite Hälfte seines Lebens damit verbracht hat, die Sünden der ersten Hälfte wiedergutzumachen.
Ich bin mir nicht sicher, ob diese letzte Bemerkung gerechtfertigt ist. 1994, in der zweiten Hälfte seines Lebens, hat Kissinger der Sache des Friedens großen Schaden zugefügt, als er sich Brzezinski anschloss und jeden Gedanken an eine Verwässerung der NATO oder eine Verzögerung ihrer Osterweiterung ablehnte. Er setzte sich voll und ganz für die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten ein. Das Ergebnis war die bedeutungslose Partnerschaft für den Frieden als Zugeständnis an die Russen.
Henry hat seine Zeit vor Gericht hinter sich, und es ist überflüssig, jetzt alte Vorwürfe gegen ihn zu erheben. Die Verjährungsfrist ist längst abgelaufen.
Wenn dieser Leitartikel in The Nation jedoch ein Hinweis darauf ist, wohin der neu ernannte linke Präsident des Magazins tendiert, dann ist es höchste Zeit, dass das Magazin seine Arbeit einstellt und aufgibt.
Quelle: https://gilbertdoctorow.com/
Mit freundlicher Genehmigung von Gilbert Doctorow
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus
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