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Radioaktive Strahlung und Krebserkrankungen

11. Dezember 2013

Radioaktive Strahlung und Krebserkrankungen

von Dr.-Ing. Ernst Pauli

Wenn vom Ausstieg aus der Atomenergie die Rede ist, dann drehen sich die Diskussionen darum, ob der Strom teurer wird, ob wir auch in Zukunft genügend Strom haben werden, um im Alltag all die vielen Annehmlichkeiten zu nutzen, die der elektrische Strom uns bringt, oder ob der geförderte Ausbau der erneuerbaren Energien wirklich eine anzustrebende Lösung ist, weil er den Markt verzerren würde. Man sieht auch die unmittelbaren Folgen möglicher Unfälle, obwohl die Ereignisse von Tschernobyl in unserer Erinnerung schon verblasst sind.

Die Atomenergie war bereits wieder mit vielen ambitiösen Projekten im Aufwind, als Fukushima die Risiken der Atomkraft neu ins Bewusstsein gerufen hat und der Atomausstieg diskutiert wurde. Es besteht jedoch auch heute noch die Gefahr, dass einmal gefällte Beschlüsse zum Atomausstieg der politischen Opportunität geopfert werden oder die Programme zum Ausbau der Atomenergie wieder aufleben. Es wäre nicht das erste Mal.

Die katastrophalen Unfälle mit grossen Freisetzungen von Radioaktivität sind die Landmarken dieser Entwicklung. Aber auch der normale und tägliche Betrieb und die normalen Wartungs- und Beschickungsarbeiten an den Reaktoren setzen Radioaktivität frei. Dies alles, so wird behauptet, spielt sich unter Einhaltung der Grenzwerte für die radioaktiven Immissionen ab, die mit grossem Aufwand in aufwendigen Messnetzen ermittelt werden. Sicherheit wird suggeriert, aber warum steigen dann die Krebsraten, seit es die Kerntechnologie gibt, permanent an? Warum steigt insbesondere die Rate von kindlicher Leukämie in vielen Ländern und in der Nähe von kerntechnischen Anlagen an? Es ist ruhig geworden um dieses Thema. Die tatsächlichen Auswirkungen der ganz normalen freiwerdenden Radioaktivität sind vielleicht zu unspektakulär, um in der Öffentlichkeit und in der Presse Echo zu finden. Aber sie sind da.

Radioaktive Umweltbelastung durch Atombombenversuche und die Katastrophe von Tschernobyl

Die nicht unerheblichen Mengen von Spaltprodukten wie Strontium-90 und Cäsium-137 in unseren Nahrungsmitteln, zum Beispiel in der Rohmilch in Deutschland, stehen für diese ständig freiwerdende Radioaktivität.1 Vor dem Zeitalter der Kerntechnik gab es solche Umweltbelastung nicht. Ein erster Anstieg stammt aus den atmosphärischen Kernwaffenversuchen, die in und nach dem Zweiten Weltkrieg in den 50er und 60er Jahren stattgefunden haben. Mit dem ersten Abkommen zum Stopp atmosphärischer Atomtests, das von vielen Ländern ratifiziert und eingehalten wurde, konnte die zunehmende Verschmutzung gestoppt werden und der Spitzenwert von Spaltprodukten in der Rohmilch von 1963 wieder reduziert werden.

Die Trends haben wache Bürger und Wissenschaftler bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts untersucht und erste Studien zur Ausbreitung der Radioaktivität und ihrer Auswirkung gemacht. Als Folge der amerikanischen Kernwaffenversuche im Testgebiet in der Wüste von Nevada konnten Studien2 im Nahbereich des Versuchsgeländes einen Einfluss auf die Leukämiehäufigkeit speziell bei Kindern feststellen. In der kanadischen Provinz Saskatchewan, in der bereits seit 1932 ein zuverlässiges und umfassendes Krebsregister geführt wurde, kann man den Einfluss der beginnenden radioaktiven Verschmutzung und ihren Einfluss auf die kindliche Leukämie genau nachvollziehen.

Die Häufigkeit von kindlicher Leukämie stieg dort zwischen 1948 bis in die frühen 90er Jahre um das Vierfache an.3 Im Krebsregister von Connecticut wird für die Zeit vor dem Stopp oberirdischer Atomtests im Jahr 1963 ein Anstieg in der Leukämiehäufigkeit von Kindern von 0  –4 Jahren von 121% berichtet. In den Jahren nach dem Atomteststopp mit sinkender Verstrahlung sank die Rate wieder um 53%.4 Der Anstieg der Krankheitsrate verläuft korrelierend zu der radioaktiven Verseuchung durch die in den USA selbst und anderswo durchgeführten oberirdischen Atombombenversuche. Schon in den 60er Jahren gab es keinen Ort mehr auf der Erde, wo die Folgen des Fallouts aus den oberirdischen Atombombenversuchen nicht spürbar waren.5

Der Unfall von Tschernobyl

Eine nächste fast gleichhohe Spitze der radioaktiven Umweltverstrahlung entstand durch den Unfall von Tschernobyl im Jahre 1986 in der Nähe des havarierten Kraftwerkes, aber auch in einigen Gebieten Mitteleuropas, in Finnland und Schweden. Es sei erwähnt, dass auch heute noch, 27 Jahre nach dem Unfall, bestimmte Pilzarten und Wildschweinfleisch aus Gebieten in Bayern wegen der hohen Strahlenbelastung nicht in den Verkehr und Handel gebracht werden dürfen bzw. nicht gegessen werden sollten.

In der Nähe des Reaktors von Tschernobyl durchgeführte Untersuchungen, einmal in stark belasteten und dann in nicht geschädigten Gebieten, an je etwa 25000 Kindern, zeigen bei der ersten Gruppe dreifach erhöhte Raten von kindlicher Leukämie im Zeitraum von 1986 bis 1996, also unmittelbar nach dem Unfall. Aber auch in Schweden wurde eine um 50% gestiegene Leukämierate6 bei Kleinkindern in stark belasteten Gebieten in Folge des Unfalls von Tschernobyl festgestellt. In Finnland lag die Erhöhung bei 20%. Die Krankheitsrate stieg dort mit der Stärke der radioaktiven Belastung in den untersuchten Gebieten.7 Radioaktive Verschmutzung macht an den Staatsgrenzen nicht halt. Zusammenhänge zwischen der Entwicklung und Ausbreitung der Atomtechnik, der Stärke der radioaktiven Verschmutzung mit der Häufigkeit des Auftretens von Leukämie besonders bei Kindern werden sichtbar.

Auch die Schweiz bleibt von solchen Einflüssen nicht verschont. Kindliche Krebserkrankungen sind in der gesamten Schweiz von 20 Fällen pro 100000 Kinder in den 80er Jahren auf 30 Fälle im Zeitraum 2003 bis 20078 und damit landesweit um 50% angestiegen. Etwa ein Drittel dieser Fälle sind kindlicher Leukämie zuzuordnen. Die Summe aller Beobachtungen zeigt mehr als deutlich, dass steigende Radioaktivität in der Umwelt eine wichtige Rolle spielt.

Der Trend ist umfassend: Die Häufigkeit von allen Krebserkrankungen im Kindesalter, insbesondere in den nordeuropäischen Ländern, ist laut einer Europa umfassenden Studie9 in den letzten 3 Jahrzehnten um etwa 30% angestiegen. Ähnlich wird dieser allgemeine Anstieg der Kinderkrebserkrankungen und insbesondere von kindlicher Leukämie weltweit10 beobachtet. All diese erschreckenden Zahlen haben in der Öffentlichkeit kaum Widerhall gefunden. Man nimmt der veröffentlichten Meinung nach wie vor ab, dass Radioaktivität ausgehend von Kernkraftwerken klein sei im Vergleich zur natürlichen Strahlenbelastung des Menschen und damit nicht relevant.

Kindliche Leukämie in der Nähe von Kernkraftwerken

Aufmerksamkeit erregt hat aber der Fall des «Leukämie-Clusters» in der Elbmarsch in Norddeutschland, wo konzentriert um das Kernkraftwerk Krümmel und die Forschungsreaktoren in Geesthacht seit 1991 19 Fälle von kindlicher Leukämie auf kleinstem Raum aufgetreten sind, eine Häufigkeit von Krankheitsfällen, die ihresgleichen sucht. Diese Situation hat politisch Staub aufgewirbelt und war Anlass für umfangreiche wissenschaftliche Studien. Betroffene Menschen dort und an anderen Orten in der Nähe von Kernkraftwerken und kerntechnischen Anlagen haben sich in Initiativen zusammengetan, und sie versuchen, Klärung der Ursachen der kindlichen Leukämie in der Nähe von Kernkraftwerken zu erforschen und Behörden und Verantwortliche zum Handeln zu bewegen. Allzuoft ist dies erfolglos. In diesem Fall hat aber die politische Diskussion dazu geführt, dass eine der umfangreichsten und genauesten Studien zur kindlichen Leukämie in der Nähe von Kernkraftwerken initiiert wurde. Sie wurde als Kinderkrebsstudie11 bekannt. Die Studie hat ergeben, dass im Umkreis von Kernkraftwerken in Deutschland eine statistisch signifikante Erhöhung der Häufigkeit von Leukämie von Kindern beobachtet wird. Die Veröffentlichung hat ausser einem kurzen Rauschen im Blätterwald leider keinerlei Wirkung in Richtung einer vertieften Diskussion um die Risiken der Kernenergie gezeigt.

Bereits in der Einleitung zum Abschlussbericht wird ohne den Versuch eines weiteren Nachweises behauptet, dass die erhöhte Häufigkeit des Auftretens kindlicher Leukämie nicht auf die Kernkraftwerke zurückgeführt werden können. Die Grenzwerte würden ja eingehalten, und damit sei eine Gesundheitsgefährdung ausgeschlossen. Aber woher kommen die vielen Krankheitsfälle an einem Ort? Jeder politisch Verantwortliche sollte aus solchen Widersprüchen eine Aufforderung zum Handeln ablesen, zum Beispiel fehlende Glieder in der Beweiskette zu untersuchen und Ursache und Wirkung eindeutig zu benennen. Es würde auch dazugehören, die Grenzwerte zu hinterfragen, die uns heute schützen sollen. Dies umso mehr, als die kindliche Leukämie auf Grund kurzer Latenzzeit und auf Grund der Empfindlichkeit von Kindern eine Frühindikation für spätere Auswirkungen von Strahlenbelastungen auch für die Gesamtbevölkerung sein dürfte.

Die Kinderkrebsstudie erfasst den Zeitraum von 1980  –2003, in dem es 13 378 Fälle von Krebs bei Kindern in Deutschland gab, davon 77 Krebsfälle im Umkreis von weniger als 5km um die untersuchten 22 Kernkraftwerke an 16 Standorten. Unter diesen Krebsfällen sind 37 Fälle von kindlicher Leukämie in der Nähe der KKW aufgetreten. Die Studie untersucht, da man nur auf der Basis der Verwaltungseinheiten zuverlässige Daten erarbeiten kann, 41 in der Nähe von KKW gelegene Landkreise, in denen 1592 Krebsfälle registriert sind. Durch den Vergleich dieser Krebsfälle mit 4735 zufällig ausgewählten sogenannten «Kontrollen», also Kindern gleichen Alters, ähnlicher Wohnorte usw. kann man feststellen, ob die vom Krebs betroffenen Kinder «näher» an den betrachteten KKW wohnen als die Kontrollfälle. Man hat durch den Vergleich festgestellt, dass die Häufigkeit, mit der Kinder im Alter von bis zu 5 Jahren in der Nähe der KKW an Leukämie erkranken, um den Faktor 1.4 statistisch signifikant höher ist.

Zahlreiche Arbeiten über die erhöhte Häufigkeit von kindlicher Leukämie in der Nähe von Kernkraftwerken

Die Fülle wissenschaftlicher Studien zum Thema der kindlichen Leukämie in der Nähe von kerntechnischen Anlagen, es sind mehr als 60 umfangreiche Untersuchungen inklusive umfangreicher Metastudien bekannt, bestätigt das Ergebnis der Kinderkrebsstudie. Das Krebsrisiko für Kleinkinder in der Nähe von Kernkraftwerken ist deutlich erhöht. Sie sind vor der Geburt und im Alter von bis zu 5 Jahren besonders empfindlich, wenn sie einer Strahlenbelastung ausgesetzt sind. Die erhöhte Zellteilungsrate in diesen Lebensjahren ist die plausible Erklärung der Mediziner für die beobachtete Empfindlichkeit. Die Häufigkeit der Erkrankungen geht, für diese Krankheit typisch, nach dem fünften Lebensjahr deutlich zurück.12

Die Situation in der Schweiz wird in der sogenannten CANUPIS-Studie13 (Childhood Cancer and Nuclear Powerplants in Switzer­land) untersucht. In die Studie einbezogen waren alle 1,3 Millionen in der Schweiz seit 1985 geborenen Kinder. Es wurden von 1985 bis 2009 insgesamt 2925 Kinder mit Krebs, davon 953 mit Leukämie diagnostiziert. 8 Fälle von Leukämie wurden im 5km Umkreis der Schweizer Kernkraftwerke registriert bei erwarteten 6.8 Fällen, berechnet aus der Leukämiehäufigkeit in der gesamten Schweiz. Die Zahl entspricht einer Erhöhung des Erkrankungsrisikos in der Nähe von KKW um 20%. Auf Grund der wenigen Fälle in der Nähe von Kernkraftwerken ist die berechnete statistische Streuung gross und die Aussage ist statistisch nicht signifikant. Das heisst jedoch nicht, dass das Phänomen nicht da wäre.

Die Beobachtungen des Auftretens der Krankheit beginnen mit der Inbetriebnahme der ersten Kernkraftwerke und kerntechnischen Anlagen. Nach der Inbetriebnahme des ersten deutschen Kernkraftwerkes in Lingen wurden von aufmerksamen Medizinern Statistiken angefertigt, die spezifische gesundheitliche Auswirkungen zeigen, zum Beispiel einen starken Anstieg der Totgeburtsrate.14 Studien in Grossbritannien, rund um die atomare Wiederaufbereitungsanlage Sellafield Windscale, die später aus Gründen der Vertuschung der unrühmlichen Vorgeschichte umbenannt wurde und jetzt den Namen Wind­scale Sellafield trägt, aber auch um andere britische Atomkraftwerke, zeigen erschreckende Ergebnisse.15 Für die Altersgruppe der unter 25jährigen in der Nähe der Anlage ist das Risiko, an Leukämie zu erkranken, um den Faktor 2 erhöht. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Frankreich rund um die Wiederaufbereitungsanlage La Hague,16 wo in einer Studie die Häufigkeit des Badens im Meer in der Nähe der Anlage stark mit der Krankheitshäufigkeit korreliert. Häufiges Baden erhöhte das Risiko, an kindlicher Leukämie zu erkranken, um den Faktor 4.5.

Die Arbeiten zur Epidemiologie sind umfangreich und aktuelle Metastudien17,18 haben die Ergebnisse der Forschung zusammengefasst. Wird in den Zusammenfassungen der wissenschaftlichen Veröffentlichungen oft der Zusammenhang zwischen der Nähe zum Kernkraftwerk und dem Auftreten von Krankheiten negiert, weil er statistisch nicht signifikant sei, so findet man in den detaillierten Ergebnissen in vielen Studien besonders für Kleinkinder eine signifikante Korrelation. In ihrer Gesamtheit zeigt die Mehrheit der durchgeführten Studien, nur wenige sind hier aus Platzgründen referenziert, ein eindeutiges Bild, nämlich dass die Häufigkeit von Kinderkrebs rund um Kernkraftwerke und kerntechnische Anlagen nachweisbar erhöht ist. Diese Erhöhung ist immer auch relativ zu den steigenden Krankheitshäufigkeiten zu sehen, die weiter oben dargestellt sind, und ergibt ein konsistentes Bild über den Wirkungszusammenhang.

Die Reaktionen in Politik und Gesellschaft

Die Fülle der Ergebnisse macht es um so erstaunlicher, dass die Kernkraftwerksindustrie und auch die zuständigen Behörden einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der vom KKW ausgehenden Radioaktivität und der Erkrankungshäufigkeit immer noch negieren. Dies wurde besonders deutlich an den Diskussionen, die auf der politischen Ebene in Niedersachsen zum Thema Leukämie-Cluster in der Elbmarsch geführt wurden.19 Man wird an das Verhalten der Tabakindustrie erinnert, der man in einem mühsamen Prozess allmählich das Zugeständnis der kausalen Beziehung zwischen Rauchgewohnheit und Lungenkrebs abringen musste, als die Zusammenhänge schon längst offen auf dem Tisch lagen. Die Situation bezüglich der Radioaktivität, die man nicht sieht und nicht spürt, ist schwieriger und komplexer. Es wird immer wieder argumentiert, dass ja die Grenzwerte eingehalten würden und dass deswegen keine Gesundheitsgefahr bestehen könne. Die Geschichte der Entstehung solcher Grenzwerte für die zugelassene Strahlung zeigt aber den Einfluss des militärisch industriellen Komplexes. In der frühen Phase der Entwicklung der Kernenergie (1965) wurden die Grenzwerte festgelegt, um «der Atom­industrie einen genügenden Spielraum für die Ausweitung der Atomenergieprogramme zu bieten».20 Die Grenzwerte würden «vielleicht kein richtiges Gleichgewicht zwischen möglichem Schaden und wahrscheinlichem Nutzen darstellen».19 Es fliesst nicht ein, dass die Dosis-Wirkungsbeziehung nach den Erkenntnissen vieler Wissenschaftler keinen Schwellenwert kennt. Auch die geringste Strahlung birgt das Risiko einer Krebserkrankung in sich,   – sehr im Gegensatz zu den Modellvorstellungen, die den heute gültigen Grenzwerten zugrunde liegen. Es ist eine reine Schutzbehauptung, wenn in vielen Fällen aus der Einhaltung der Grenzwerte geschlossen wird, dass ja keine Gesundheitsgefahr bestehe.

Gibt es physikalisch nachvollziehbare Fakten?

Wenn die Krankheiten in erhöhtem Masse auftreten, dann muss auch von der physikalischen Seite eine Ursache nachweisbar und nachvollziehbar sein. Erhöhte Leukämieraten überhaupt und zusätzliche Risiken in der Nähe kerntechnischer Anlagen müssen ihre Ursache in erhöhter radioaktiver Belastung und im Fund von radioaktivem Material in der Umwelt und insbesondere rund um kerntechnische Anlagen haben. Eine umfangreiche systematische Untersuchung in Kanada21 bestätigt eine solche Vermutung und stellt fest, dass in weniger als 1km Entfernung von Kernkraftwerken die Radioaktivität im Boden, in Pflanzen und auch in Nahrungsmitteln hundertfach höher ist im Vergleich zu Orten, die 100 km entfernt sind. Auch in der Nähe der kerntechnischen Anlagen in der Elbmarsch22 und rund um den schon länger stillgelegten Kugelhaufenreaktor in Hamm-Uentrop23 wurden Funde gemacht, die auf eine erhöhte Belastung hinweisen.

Wie ist es nun möglich, dass trotz umfangreicher Überwachungsaktivitäten, die stets dokumentieren, dass man innerhalb der vorgeschriebenen Emissionsgrenzwerte bleibt, immer wieder Wirkungen der Radioaktivität zu beobachten sind? Man muss sich fragen, ob die richtigen Beobachtungen gemacht werden und die richtigen Schlüsse gezogen werden. Bereits die Strahlenbelastung, die im Reaktor entsteht und auf diversen Wegen freiwerden kann, wird nicht wirklich gemessen, sondern auf der Basis von Modellvorstellungen und Annahmen errechnet und ist damit auch manipulierbar. Die verschiedenen Arten von Strahlen wirken sich völlig unterschiedlich aus und wirken auf völlig unterschiedlichen Expositionspfaden. Dies reicht von der Direktstrahlung, von gasförmigen Emissionen, vom berühmten «Fallout» (Auswaschung durch Regen), der sich im Boden ablagert, bis zu den Stoffen, die dann durch Pflanzen, Fleisch und zum Beispiel Milch in die Nahrungskette und in den Körper des Menschen gelangen. Auch der Weg in den Körper, der Verbleib im Körper und die Wirkung im Körper werden durch Modellvorstellungen beschrieben. Kein Wunder, dass bei solcher Komplexität kein konsistentes Bild entsteht. Eine zwingende Kette von Ursache und Wirkung wird so einfach nicht bestimmt.

Ein Beispiel aus der Schweiz war diesen Sommer für kurze Zeit in allen Zeitungen: Die radioaktive Belastung im Sediment des Trinkwasserreservoirs Bielersee, unterhalb des Kernkraftwerkes Mühleberg, hängt eindeutig mit Ereignissen im AKW und daraus folgender Radioaktivitätsfreisetzung zusammen. Nachdem der Nachweis der Belastung einer grösseren Öffentlichkeit bekannt wurde, wurden einzelne, auch lange zurückliegende Ereignisse mit Radioaktivitätsfreisetzung vom Kernkraftwerksbetreiber zugegeben. In diesem Fall konnte ein lückenloser Beweis zwischen Vorgängen im Kraftwerk und der resultierenden Umweltbelastung geführt werden.24

Nicht nur der kerntechnische Unfall, ­sondern bereits der Normalbetrieb von Reaktoren verursacht Schädigungen
Es ist eine schwer zu beantwortende Frage, ob die Grenzwerte für die Emission von Strahlung aus Kernkraftwerken wirklich immer zuverlässig eingehalten werden. Die Daten aus den verschiedenen permanenten Überwachungssystemen geben zumindest Hinweise, dass dem nicht immer so ist. So werden während Wartungsarbeiten an Kernkraftwerken deutlich erhöhte Strahlungswerte gemessen. An den Spitzenwerten der Tritium-Konzentrationen in Rhein und Aare kann man die Wartungsintervalle diverser Kernkraftwerke in der Schweiz durchaus ablesen.25 Genauso hat man in der Nähe des deutschen Kernkraftwerks Neckarwestheim enorme C14 (ein radioaktives Kohlenstoff-Isotop) Konzentrationen festgestellt, die zyklisch während der Wartungsarbeiten auftreten.26

Es ist unhaltbar, den Strahlungseinfluss abzustreiten, wenn in einer Vielzahl von Studien ein verstärktes Auftreten von kindlicher Leukämie in der Nähe von kerntechnischen Anlagen beobachtet wird. Was nicht 100% bewiesen werden kann, ist trotzdem eine Realität, der man nachgehen muss. Bürger rund um Kernkraftwerke und engagierte Wissenschaftler haben in vielen Ländern die Fakten erarbeitet. Es braucht auch das engagierte Hinschauen der Politik. Wenn über den Atomausstieg diskutiert wird, dann muss man dabei haben, dass nicht nur das Risiko von Unfällen mit grössten Belastungen, sondern auch eine permanente Abgabe von Radioaktivität an die weitere und unmittelbare Umgebung der Anlagen ein erhöhtes Krankheitsrisiko darstellt.

Nach der Abschaltung von Reaktoren sinkt die Krebsrate

ep. Nicht nur die Erhöhung der Verstrahlung und der Krankheitshäufigkeit in der Nähe von Kernkraftwerken im Betrieb ist in Studien untersucht. Studien zeigen auch die Abnahme der Krankheitshäufigkeit ab dem Moment, wenn Kernkraftwerke abgeschaltet werden. In der Umgebung von drei amerikanischen Kraftwerken wurde die Rate kindlicher Leukämie nach der Abschaltung der Reaktoren speziell untersucht. Die Leukämierate bei Kindern von 0  –4 Jahren in der Nähe der Reaktoren fiel nach der Abschaltung um 25%, während sie in den gesamten USA praktisch kon­stant blieb. Die Abschaltung des Reaktors Rancho Seco in Sacramento County in Kalifornien, in dessen unmittelbarem Umkreis 1,4 Millionen Menschen leben, führte neben einer deutlich reduzierten Verstrahlung von Nahrungsmitteln auch zu deutlichen Absenkungen in der Häufigkeit von kindlichem Krebs. Man schätzt ab, dass in den 20 Jahren nach der Abschaltung von Rancho Seco in der Gesamtbevölkerung 4319 Krebsfälle vermieden werden konnten.27

Fussnoten:

  1. Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung, Jahresbericht 2009, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) Bonn C. Bernhard-Ströl et al.
  2. Radiat Environ Biophys DOI 10.1007/s00411-010-0266-4; R. Wakeford, et al; Temporal trends in childhood leukaemia incidence following exposure to radioactive fallout from atmospheric nuclear weapons testing
  3. Childhood and Adolescent Leukaemia in a North American Population; P. P. Wang et al. International Journal of Epidemiology, 1995 Vol. 24, No. 6
  4. National Cancer Institute. Forty-Five Years of Cancer in Connecticut, 1935-79, NIH Publication No. (NIH) 86-2652,1986
  5. American Scientist: Fallout from Nuclear Weapons Tests and Cancer Risks, S. Simon et al.
  6. Risk of acute childhood leukaemia in Sweden after the Chernobyl reactor accident, U. Hjalmars et al. on behalf of the Swedish Child Leukaemia Group; BMJ Volume 309 16 July 1994
  7. Fallout from Chernobyl and incidence of childhood Leukaemia in Finland, 1976  –92, A. Auvinen et al; BMJ Volume 309 16 July 1994
  8. Krebs in der Schweiz, Stand und Entwicklung von 1983 bis 2007; Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt Büro für Statistik (BFS), Schweizer Kinderkrebsregister (SKKR)
  9. ACCIS, European Journal of Cancer 42 (2006), zitiert vom Bundesamt für Statistik
  10. Radiat Environ Biophys DOI 10.1007/s00411-010-0266-4; R. Wakeford et al; Temporal trends in childhood leukaemia incidence following exposure to radioactive fallout from atmospheric nuclear weapons testing
  11. Ressortforschungsberichte zur kerntechnischen ­Sicherheit und zum Strahlenschutz, Epidemiologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie)   – Vorhaben 3602S04334 Auftragnehmer: Deutsches Kinderkrebsregister, Mainz, P. Kaatsch et al.
  12. SEER Cancer Statistics Review 1975  –2001 und Krebs in Deutschland 2007/2008, 8. Ausgabe. Robert Koch-Institut (Hrsg) und die Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. (Hrsg). Berlin, 2012
  13. International Journal of Epidemiology 2011; 1  –14; Childhood cancer and nuclear power plants in Switzerland: a census-based cohort study; B. Spycher et al. (Durchgeführt von: Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM) der Universität Bern in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Kinderkrebsregister und der Schweizerischen ­Pädiatrischen Onkologiegruppe)
  14. Stein B., Krebsmortalitat von Kindern unter 15 Jahren, Säuglingssterblichkeit und Totgeburtenrate in der Umgebung des AKW Lingen. Berlin: Arbeitsgruppe Umweltschutz Berlin e.V., Eigenverlag, 1988. Zitiert in: Review and Discussion of Epidemiologic Evidence for Childhood Leukemia Clusters in Germany; W. Hoffmann, Bremen
  15. D. Forman et al; Cancer near nuclear Installations, Nature, Vol. 329, 8. Oct. 1987
  16. D. Pobel et al; Case control study of leukaemia among young people near La Hague nuclear reprocessing plant: the environmental hypothesis revisited; British Medical Journal, 11/1/97
  17. D. Laurier et al; (2008) Epidemiological studies of leukaemia in children and young adults around nuclear facilities: a critical review, Radiat Prot ­Dosimetry 132(2):182  –90.
  18. P. J. Baker et al; (2007) European Journal of Cancer Care 16 , 355  –363, Meta-analysis of standardized incidence and mortality rates of childhood leukaemia in proximity to nuclear facilities
  19. Niedersächsischer Landtag, 15. Wahlperiode Niederschrift über die 136. Sitzung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit am 11. April 2007 auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
  20. ICRP Publication 9, Pergamon Press, Oxford 1965 zitiert nach Rosalie Bertell; Keine akute Gefahr?, Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschlands
  21. Tritium concentrations in vegetation/food moisture near Canadian nuclear power stations Tritium in the Canadian Environment: Levels and Health ­Effects. Report RSP-0153-1 (2003)
  22. September 2009, Environmental Health 2009, 8:43 doi:10.1186/1476-069X-8-43
  23. Zeit-Fragen Nr. 51; 15.12. 2008, Prof. Dr. E. Lengfelder, Strahlenbiologisches Institut Ludwig-­Maximilians-Universität München Kinderkrebs in der Umgebung deutscher Kernkraftwerke, Hintergründe und eine kurze strahlenbiologische Bewertung der Datenlage
  24. Zeit-Fragen Nr. 26 vom 18.6.2012; Hat das stillgelegte AKW Hamm-Uentrop seine Umwelt beeinflusst? von Samantha Seithe (10 Jahre, 7. Klasse), Betreuer: Achim Hucke
  25. F. Thevenon et al; Human impact on the transport of terrigenous and anthropogenic elements to perialpine lakes (Switzerland) over the last decades; Aquatic Science (2013) 75:413  –424
  26. Bundesamt für Gesundheit, Abteilung Strahlenschutz, Umweltradioaktivität und Strahlendosen in der Schweiz, Jahresbericht 2004
  27. Environmental Health, 23 September 2009, 8:43 doi:10.1186/1476-069X-8-43 Quarterly C14 air concentrations near the Neckarwestheim 2 nuclear power station in Germany,  Jahresbericht 2007, Bundesamt für Strahlenschutz, Berlin.
  28. J.J. Mangano et al. Biomedicine International 2013/1, Long-term Local Cancer Reductions Following Nuclear Plant Shutdown Radiation and Public Health Project, New York, USA

Quelle:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=1651

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