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30. Juni 2025 Von Pepe Escobar - übernommen von strategic-culture.su
2. Juli 2025

Pepe Escobar: Der Engel der Geschichte als Symbol des Widerstands


Der gnadenlose Krieg wird lang und blutig sein. Doch der Engel der Geschichte scheint neuen Schwung bekommen zu haben.
Pepe Escobar - Independent geopolitical analyst, writer and journalist

(Red.) Der unübertroffene Pepe Escobar, der von uns allen hoch geschätzt wird, hat sich hier in dem Durcheinander von Hobbes und Locke wohl etwas verheddert. Er spricht von einer "zweifelhaften 'natürlichen Güte' der Menschheit", die zum Ziel "ein sehr privates 'Streben zum Glück' und zum allgemeinen Wohl habe, hergestellt durch "das Wirken einer unsichtbaren Hand" - diese Locke'sche Weltsicht habe sich mit Hobbes "Leviathan" "fröhlich vereint", um mit diesem Irrtum/Märchen die Köpfe der Menschen für die nächsten 300 Jahre zu verwirren. Zugegeben: die gegenwärtige Weltlage spricht auf den ersten Blick nicht für ein positives Menschenbild. Aber es lohnt sich, noch einmal einen Blick in das Buch "Der Mensch ist gut" von Leonhard Frank zu werfen. Die Sozialnatur des Menschen ist eine evolutionäre Tatsache. Daran kommen wir nicht vorbei - allerdings genauso wenig wie an den katastrophalen Erziehungsfehlern, die leider immer noch dazu führen, dass die Menschen noch nicht "Gemeinschaftsgefühl leben wie atmen" (frei nach Alfred Adler). Auf den Seiten von Seniora.org finden sich zahlreiche Quellen, die dieses Thema gründlich vertiefen.(am)

Strategic.png© Photo: Public domain

Es ist eine der faszinierendsten Passagen der Geistesgeschichte. In der 9. seiner Thesen zur Philosophie der Geschichte analysiert Walter Benjamin   – Jude, tragische Figur, einsames Genie   – Paul Klees eindringliches Gemälde Angelus Novus und erklärt der Nachwelt anschaulich das Drama, mit dem der Engel der Geschichte konfrontiert ist:

„Sein Gesicht ist der Vergangenheit zugewandt. Wo wir eine Kette von Ereignissen sehen, sieht er eine einzige Katastrophe, die immer neue Trümmer aufwirbelt und vor seine Füße schleudert. Der Engel möchte bleiben, die Toten wecken und das Zerbrochene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich mit solcher Gewalt in seinen Flügeln verfängt, dass er sie nicht mehr schließen kann. Der Sturm treibt ihn in eine Zukunft, der er den Rücken zukehrt   – während der Trümmerhaufen vor ihm immer höher wird. Dieser Sturm ist das, was man Fortschritt nennt.“

Es ist an der Zeit, über diese sehr apokalyptische christliche Parallele zwischen Göttlichkeit und gewaltsamer Vergeltung hinauszugehen. Wie Alastair Crooke in seinem erstaunlich scharfsinnigen Buch „Resistance: The Essence of the Islamist Revolution“ (2010) ausführlich darlegte, war es die Notwendigkeit, die Wut „göttlich inspirierter“ Gewalt zu zügeln, die Hobbes dazu veranlasste, „Leviathan“ zu konzipieren, in dem er einen Gesellschaftsvertrag zwischen dem Individuum und einer notwendigerweise starken, unerbittlichen Regierung forderte.

Darüber hinaus war es die Hobbes'sche Version eines Gesellschaftsvertrags, die John Locke die Grundlage lieferte, um eine zweifelhafte „natürliche Güte” der Menschheit zu behaupten, komplett mit einem   – sehr privaten   – „Streben nach Glück” und dem allgemeinen Wohl, das sich durch das Wirken einer unsichtbaren Hand fröhlich vereinte.

Dieser Irrtum/dieses Märchen prägte das westliche Denken für die nächsten 300 Jahre.

Jetzt ist es ein völlig anderes Spiel. Wir waren zu lange Gefangene von Hobbes und Locke: ein verführerischer Pole-Dance der Legitimität, um den sich die westlich konzipierten Nationalstaaten gruppierten, um sich selbst und ihre Plünderung des Rests der Welt zu schützen und zu legitimieren.

In jüngster Zeit wurde das zeitgenössische Schreckgespenst der „göttlichen Gewalt“ allen von Afrika bis Asien als bewaffneter islamistischer Widerstand verkauft. Aber nun ist auch diese Maske gefallen. Das „neue“ Syrien zeigt allen, dass „Al-Qaida R Us“ ist   – und immer war.*

Schutz vor dem   – ultimativen   – Sturm

Es ist auch an der Zeit, die Lage des Engels der Geschichte neu zu bewerten. Nein, er ist nicht von „göttlicher“ Wut gelähmt; diese ist vielmehr von Menschenhand geschaffen. Was ihn unterdessen weiter vorantreibt   – selbst wenn er seinen Blick in die Vergangenheit richtet („der rückwärts gerichtete halbe Blick über die Schulter, hin zum primitiven Schrecken“, wie T. S. Eliot es so eindrucksvoll formulierte)   – ist der Wind des säkularen, darwinistischen, technologischen „Fortschritts“   – eine einzige, einheitliche Katastrophe, die weit mehr ist als eine Kette historischer Ereignisse.

Ja, er denkt weiterhin über die Tragödie nach; er möchte die Menschheit unbedingt für das Ausmaß der Katastrophe sensibilisieren; aber der Rausch des aktuellen technologischen „Fortschritts“, der von KI geprägt ist, reißt ihn unweigerlich mit.

Der globale Süden scheint nun eine kristallklare Perspektive auf die neuen Konturen der Katastrophe zu haben, die dem Engel der Geschichte zu Füßen liegt.

Die beiden wichtigsten zeitgenössischen Akteure der Katastrophe sind eindeutig identifiziert: ein psychopathologischer, genozidaler Todeskult, der sich aus Elementen eines selbsternannten auserwählten Stammes zusammensetzt, und die posthistorischen Eliten eines schwindenden Imperiums. Die tödlichste Umarmung die es jemals gab.

Doch nun sind sie auf ein unerschütterliches Symbol des Widerstands gestoßen. Und sie mussten zurückweichen. Zum Erstaunen des Engels der Geschichte selbst.

Der oberste Führer des Iran, Ayatollah Khamenei, brachte es in wenigen Sätzen auf den Punkt:

„Der wichtigste Punkt, den ich in meiner Rede hervorheben möchte, ist, dass der Präsident der Vereinigten Staaten in einer seiner Äußerungen erklärt hat, der Iran müsse kapitulieren. Kapitulieren! Es geht nicht mehr um die Anreicherung oder die Atomindustrie. Es geht um die Kapitulation des Iran.“

Das ist die Stimme eines alten Zivilisationsstaates   – im Gegensatz zur postmodernen, außer Kontrolle geratenen Barbarei: „Unser kultureller und zivilisatorischer Reichtum ist hundertmal größer als der der USA und anderer ähnlicher Länder (…) Das iranische Volk ist edel und wird edel bleiben.“

Ein irrationaler und sicherlich nicht „göttlicher“ Sturm zielt nun darauf ab, den Engel der Geschichte vollständig zu lähmen   – und dem Narrativ seine überarbeitete, aber ebenso kitschige Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ auf den begrenzten Raum Westasiens anzuwenden.

Und das bringt uns zu der Frage, wie der Widerstand sich intensiv mit den praktischen Aspekten der Abschreckung und Verteidigung auseinandersetzen muss, damit der Engel der Geschichte sich neu erfinden kann.

Sprung zu den jemenitischen Streitkräften   – dieser Bastion der Rechtschaffenheit, einer militärischen Organisation, die von spiritueller Kraft geleitet wird: „Die Waffenruhe der USA und der zionistischen Entität mit dem Iran macht deutlich, dass militärische Gewalt die einzige Sprache ist, die sie verstehen.“

Hinzu kommt die wichtigste Lehre aus dem 12-tägigen Krieg: Wer den Himmel kontrolliert, kontrolliert letztlich auch das Land.

Die iranische Führung als Dreh- und Angelpunkt des Widerstands steht vor einigen schwerwiegenden Entscheidungen. Die wichtigste davon betrifft die von den Houthis formulierte „Sprachfrage“: Sie muss Russland vertrauen, dass es ihr hilft, ein umfassendes, mehrschichtiges Offensiv-/Defensivsystem aufzubauen, komplett mit Hardware, Kampf- und Kontrollzentren, Langstreckenradarstationen, elektronischer Kriegsausrüstung und knallharten Kampfjets.

Wie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow vor dem Treffen zwischen Präsident Putin und dem iranischen Außenminister Abbas Araghchi vor einer Woche deutlich machte: „Es hängt alles davon ab, was der Iran gerade braucht.“

Sie brauchen ernsthafte Unterstützung. Der Majlis   – das iranische Parlament   – hatte die Ratifizierung der umfassenden strategischen Partnerschaft mit Russland seinerzeit um über einen Monat verschoben, nachdem die Duma bereits Ende Mai zugestimmt hatte. Diese umfasst Waffenverkäufe, militärische Zusammenarbeit und einen intensiven Informationsaustausch   – auch wenn sie keine vollständige Militärallianz beinhaltet.

Der ehemalige iranische Präsident Ebrahim Raisi hatte eindeutig den Blick für das große Ganze. Er setzte voll und ganz auf „Look East“   – also auf die Integration in Eurasien. Die derzeitige, zurückhaltende Präsidentschaft unter Pezeshkian versuchte einen „Look West“   – in der naiven Hoffnung, dass das Imperium des Chaos tatsächlich Diplomatie betreiben würde. Sie wurden eines Besseren belehrt.

Der gnadenlose Krieg wird lang und blutig sein. Dies ist erst der Anfang   – die derzeitige Pause eingeschlossen. Doch der Engel der Geschichte scheint neuen Wind bekommen zu haben. Es sieht so aus, als hätte die überwiegende Mehrheit der Länder des Globalen Südens seine Warnungen vor der Katastrophe endlich verstanden. Während wir die Trümmer durchforsten, steht der Widerstand vor der Tür   – und schützt uns vor dem ultimativen Sturm.

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* Anmerkung des Übersetzers: „Al-Qaida R Us“ ist ein Wortspiel mit „Toys ‘R’ Us“ (die bekannte amerikanische Spielzeugladenkette). Wörtlich soll es wohl bedeuten: „Al-Qaida sind wir.“ Mit anderen Worten: Al-Qaida sei nicht einfach nur eine unabhängige islamistische Terrororganisation, sondern ein Werkzeug westlicher, vor allem US-amerikanischer oder verbündeter Geheimdienste und Regierungen.