Nach dem Fall von Aleppo: "Die Syrer wollen ein Ende der Kämpfe"
n-tv.de: Die Assad-Truppen haben Aleppo erobert. Ist das für die Bewohner der Stadt eine gute oder eine schlechte Nachricht?
Karin Leukefeld arbeitet seit 2000 als freie Korrespondentin im Mittleren Osten.(Foto: privat)
Karin Leukefeld: Das kommt darauf an, aus welcher Sicht man den Konflikt in den vergangenen Jahren erlebt hat. Auf beiden Seiten der Stadt haben die Menschen viel verloren. Aber ich denke, insgesamt bedeutet es, dass die Kämpfe zu Ende gehen. Das ist eine gute Nachricht.
War es zuletzt noch möglich, von der einen auf die andere Seite der Stadt zu wechseln, ohne erschossen zu werden?
Es gab Tunnel, über die Kämpfer und Soldaten, die sich da auskennen, hin und her bewegen konnten. Aber für die Zivilbevölkerung waren die Übergänge schon seit einiger Zeit gesperrt. Es gab Barrikaden und an einigen Stellen hingen große Tücher, um Scharfschützen die Sicht zu versperren. Ich habe vor ein paar Wochen in Aleppo mit einem Mann gesprochen, der zu einem lokalen Versöhnungskomitee gehört – solche Komitees gibt es in ganz Syrien. Er erzählte mir, dass er früher häufig in den anderen Teil der Stadt gegangen ist, um dort mit den Menschen zu sprechen, um zu erfahren, was sie wollen, und um einen Weg zu finden, dass die Gewalt reduziert wird, dass die Waffen niedergelegt werden. Seit März komme er nicht mehr in den Ostteil der Stadt, sagte er.
Sie waren mehrfach in Aleppo. Wann zuletzt?
Ich bin als Journalistin in Syrien akkreditiert und habe daher die Möglichkeit, ein- und auszureisen und mich dort lange aufzuhalten. Ich war im August in Aleppo und wieder im September, während des Waffenstillstandes. Zuletzt war ich im November in Syrien, auch für drei Tage in Aleppo.
Wie muss man sich die Teilung der Stadt vorstellen? Lebten im Gebiet der Regierung nur Menschen, die mit Assad einverstanden waren, und in den anderen Teilen der Stadt nur Leute, die den Präsidenten ablehnten?
Nein, so war das nicht. In Aleppo und im Umland der Stadt lebten vor dem Krieg bis zu 3,5 Millionen Menschen. Aleppo ist die zweitgrößte Stadt Syriens. Vor dem Krieg war es die reichste Stadt des Landes, das Handels- und Finanzzentrum. Mit Beginn des Konflikts flohen viele Menschen aus den Gebieten, in die die bewaffneten Gruppen einmarschiert sind, in die anderen Gebiete der Stadt. Zum Schluss lebten in der Gegend, die von der syrischen Regierung kontrolliert wird, 1,5 Millionen Menschen. Viele von ihnen waren Vertriebene aus dem Ostteil, aber auch aus anderen Kampfzonen im Norden Syriens.
Im Gebiet unter Kontrolle der Opposition und der bewaffneten Gruppen lebten bis zu 250.000 Menschen. Diese Zahl variierte immer wieder – unlängst sagte der UN-Sonderberichterstatter Staffan de Mistura, dass im Ostteil von Aleppo deutlich weniger Menschen gelebt hätten, als die UN immer angenommen hatten. Vermutlich unter 100.000.
Ob man für oder gegen die Regierung ist, spielt für viele Menschen in Aleppo schon lange keine Rolle mehr. Sie wollen vor allem den Kämpfen entkommen. Insofern gibt es im Gebiet unter Kontrolle der Regierung durchaus Personen, die mit der Regierung nicht einverstanden sind, die aber noch viel weniger damit einverstanden sind, dass die Opposition sich von bewaffneten Gruppen unterstützen lässt. Man darf nicht vergessen, dass Menschen auf der Straße hingerichtet wurden, dass die Frauen sich tief verschleiern mussten. Umgekehrt sind viele Menschen im Ostteil der Stadt geblieben, obwohl sie mit den bewaffneten Gruppen nicht einverstanden waren. Sie hatten vielleicht eine Wohnung, die sie nicht aufgeben wollten, sie hatten kranke Angehörige, die sie pflegen mussten, sie hatten vielleicht auch keine Verwandten oder Bekannten im anderen Teil der Stadt, zu denen sie hätten gehen können.
Wie zerstört ist die Stadt?
Trümmer gibt es in allen Teilen von Aleppo, von den Kämpfen sind alle Einwohner betroffen. Alle haben Hab und Gut verloren, ihren Job, einen Teil ihres Körpers oder Freunde und Angehörige. In den Krankenhäusern habe ich furchtbare Dinge gesehen. Dieser Krieg hat alle Syrer zutiefst verletzt.
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