Emmanuel Todd: «Russland hat den Krieg gewonnen»

Emmanuel Todd hat mit Statistiken den Untergang der Sowjetunion vorhergesagt. Jetzt sieht der französische Demograf und Historiker das Ende des Westens kommen. Die Ukraine sei verloren, und die Amerikaner hätten schlechte Karten gegen China. Die grösste Gefahr für Europa gehe von einem hochgerüsteten Deutschland aus.
"Die Aufrüstung und Militarisierung Deutschlands in einem von ihm beherrschten Europa ist für Russland eine Bedrohung. In diesem Fall sieht die russische Doktrin den Einsatz taktischer Atomwaffen vor. Dann haben wir die Wiederholung des Zweiten Weltkriegs".
Als es in Europa um die Einführung des Euro ging, war der Demograf und Historiker Emmanuel Todd für deutsche Medien ein begehrter Interviewpartner. Er kritisierte den Vertrag von Maastricht, die zunehmende Bürokratisierung und Zentralisierung der EU, die Bevormundung der Völker und die gemeinsame Währung, die den Deutschen als Preis für die Wiedervereinigung abverlangt und von Kanzler Helmut Kohl durchgesetzt wurde. Todd erkannte, dass die deutsche Exportwirtschaft am meisten von der neuen Währung profitieren würde und weniger liberale Länder wie Frankreich viel zu verlieren hätten. Als er für einen europäischen Protektionismus plädierte, bröckelte die deutsche Liebe zu Todd. Nach dem Attentat auf die Twin Towers am 11. September 2001 sprach Osama bin Laden, der Drahtzieher des Terrorakts, in einem Video von einem französischen Intellektuellen, der den Zerfall der Sowjetunion vorausgesehen hatte und jetzt das Ende des amerikanischen Imperiums prophezeie. Gemeint war Emmanuel Todd, der kurz zuvor seinen internationalen Bestseller «Weltmacht USA: Ein Nachruf» veröffentlicht hatte.
«Russophobie ist eine Krankheit unserer Gesellschaften, wie der Antisemitismus.»
Zum Ukraine-Konflikt interviewten wir ihn erstmals Anfang 2023 («In diesem Krieg geht es um Deutschland»). Im Jahr darauf publizierte Todd ein Buch, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, auch ins Deutsche («Der Westen im Niedergang – Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall»). Die grösste japanische Zeitung widmete dem französischen Bestsellerautor eine Titelseite, die proeuropäische Repubblica die Titelgeschichte einer Wochenendbeilage. Zur Buchpremiere in Deutschland reiste Emmanuel Todd nach Frankfurt. Rezensionen? Fehlanzeige: «In Deutschland werde ich totgeschwiegen. Kein einziger Journalist der wichtigsten Zeitungen hat mit mir gesprochen. Eine Bleidecke erdrückt das Land. Nach meiner Rückkehr aus Frankfurt wurde ich krank, Deutschland macht mir Angst.» Nach der Regierungserklärung von Friedrich Merz am 14. Mai 2025 kommt auch die historische Angst vor Deutschland wieder hoch.
Weltwoche: Monsieur Todd, vor ein paar Tagen sind Sie aus Moskau zurückgekommen. Was haben Sie in Russland gesehen?
Emmanuel Todd: Ich misstraue schnellen Einschätzungen, ich bin kein Journalist. Mein Vater war es. Ich wurde Wissenschaftler, weil ich gesehen hatte, wie er die ganze Welt bereiste, tolle Reportagen schrieb und Interviews machte. Aber von allem, was er sah, hatte er rein gar nichts begriffen.
Weltwoche: Das stimmt nicht. Ihr Vater Olivier Todd war ein grossartiger und mutiger Journalist. Als Zeitungen wie Le Monde und die Libération in den Jahren des maoistischen Deliriums den Genozid der Roten Khmer ignorierten, hat er die Wahrheit geschrieben. Und dafür einen hohen Preis bezahlt.
Todd: Von den geopolitischen Zusammenhängen hatte er keine Ahnung. Ich misstraue auch meiner eigenen Wahrnehmung. Meine Methode beruht auf Fakten. Mit den Statistiken der Kindersterblichkeit hatte ich den Zusammenbruch der Sowjetunion vorausgesehen, ohne diese je besucht zu haben. In Frankreich, muss ich feststellen, nimmt die Kindersterblichkeit zu. In Russland geht sie zurück und ist tiefer als in Amerika. Aufgrund dieser Beobachtung bin ich der Überzeugung, dass sich Russland seit Putin auf dem Weg der Normalisierung befindet. Trotz seines politischen Systems, das eine autoritäre Demokratie ist. Es war mein erster Besuch in Russland seit 1993.
Weltwoche: Aus welchem Anlass sind Sie nach Moskau gereist?
Todd: Eine Einladung, vier Tage. Ich verkehrte in akademischen Kreisen und hielt einen Vortrag. Oppositionelle traf ich keine. Was ich erlebte, war ein Normalitätsschock: Alles war viel normaler, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Menschen starren auf ihre Handys, sie konsumieren und bezahlen mit Kreditkarten, sie benutzen E-Trottinetts wie in Paris. Der grosse Unterschied war, dass alle Rolltreppen und Aufzüge funktionierten. Man kann normal mit den Leuten reden.
Weltwoche: Was haben Sie Ihren Zuhörern erzählt?
Todd: Ich stellte mein neues Buch vor und erläuterte, dass ich schnell begriffen hatte, dass Russland mit Putin das Chaos der Neunziger überwinden würde. Ich sagte, dass sich die Vereinigten Staaten in einem Abgrund ohne Boden befänden. Als Gründe nannte ich die familiären Strukturen, die Kindersterblichkeit, die Zerstörung der religiösen Strukturen. Ich wurde von einer Zeitschrift des Aussenministeriums und vom Fernsehen interviewt.
Weltwoche: Zu Hause wird man Sie als nützlichen Idioten Putins hinstellen.
Todd: Das ist mir gleichgültig. Ich sagte den Zuhörern auch, dass ich in keiner Weise zu den Intellektuellen gehöre, die für Russland und Putin eine reaktionäre ideologische Sympathie empfinden. Ich bin ein Linksliberaler. Meine positive Grundeinstellung gegenüber Russland ist Ausdruck meiner Dankbarkeit für den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Russland hat uns vom Nationalsozialismus befreit. Die ersten historischen Bücher, die ich als Sechzehnjähriger las, handelten vom Krieg der Russen – Stalingrad und so weiter. Im Fernsehen sprach ich auch über die Russenfeindlichkeit, die Russophobie des Westens. Ich halte sie für eine Krankheit unserer Gesellschaften, wie den Antisemitismus. Mit den Zuständen, die ich in Russland vorfand, kann man sie nicht rechtfertigen. Zu dieser Einsicht gelangte ich tatsächlich vor Ort.
Weltwoche: Zuvor waren Sie in Ungarn.
Todd: Ebenfalls für einen Vortrag. Zwei Stunden lang konnte ich mich mit Viktor Orbán austauschen. Ungarn ist für mich konkret, ich besuchte das Land, als ich 25 war. In Ungarn wurde ich zum Antikommunisten, weil ich am Bahnhof von Menschen Abschied nehmen musste, von denen ich nicht wusste, ob ich sie je wiedersehen würde. Aus dem kommunistischen Ungarn kehrte ich damals in die Freiheit und Normalität zurück. Jetzt war es umgekehrt: nach der russischen Normalität die westliche Irrationalität. Auch die Rückkehr war ein Schock. Als ich im Auto von Paris in die Bretagne fuhr, wo ich mich ein paar Tage erholte, hörte ich auf France Culture eine Sendung aus Moskau. Es wurde berichtet, dass in jedem Bahnhof der Metro Jugendliche gejagt würden, die man an die Front in der Ukraine schicke. Im Fernsehen sah ich Keir Starmer, Friedrich Merz und Emmanuel Macron in Kiew und bekam endgültig den Eindruck, dass der Westen jeglichen Realitätsbezug verloren hat.
Weltwoche: Welche Rolle spielt der Krieg im Prozess der russischen Normalisierung?
Todd: Der Westen hat den Krieg verloren, in Moskau ist von ihm nichts zu spüren. Die Sanktionen haben Russland zu Massnahmen gezwungen, die Putin ohne Krieg nicht hätte durchsetzen können. Seit den neunziger Jahren haben die Russen eine grosse Fähigkeit der Anpassung entwickelt und den Handel mit anderen Ländern ausgebaut.
Weltwoche: Habe ich Sie richtig verstanden: Russland hat den Krieg gewonnen?
Todd: Ja. Es ist den USA nicht gelungen, Russland mithilfe der ukrainischen Armee zu schlagen. Deshalb haben sie die Front verlegt und China den Handelskrieg erklärt. Er war innerhalb einer Woche zugunsten Chinas entschieden. Die Amerikaner sind im Begriff, die Kontrolle über die internationalen Finanzsysteme und den Welthandel zu verlieren. Mein Thema ist nicht Russland, sondern die Niederlage des Westens. Am meisten leiden die europäischen Länder, und die Folge ist der Triumph der konservativ-populistischen Parteien. Sie rechtsextrem zu nennen, widerstrebt mir.
Weltwoche: In unserem Interview vor zwei Jahren hatten Sie den Sieg von Donald Trump in der Präsidentschaftswahl von 2016 mit der Zerstörung der amerikanischen Arbeiterklasse durch China erklärt.
Todd: Es geht inzwischen um sehr viel mehr als um den Niedergang der amerikanischen Industrie. Es gibt in Amerika einen seltsamen Willen zur Zerstörung – auch der Menschen und der Wirklichkeit. Die Ursache dieser Entwicklung ist der Niedergang des Protestantismus. Er hinterlässt eine existenzielle Leere.
Weltwoche: Die man auch in Europa beobachten kann.
Todd: Die Gründungsstaaten der Europäischen Union – Frankreich, Deutschland, Italien – werden in diesem Krieg, den die Sieger des Zweiten Weltkriegs nach dem Kalten Krieg mit Waffen gegeneinander führen, übergangen. Europa wird unter amerikanischer Vormundschaft neu strukturiert. Die europäischen Länder haben den Krieg verloren, aber sie merken es noch nicht.
Weltwoche: Es gibt im Gegenteil eine erstaunliche Kriegsbereitschaft in Europa, zumindest rhetorisch. Von einer «Koalition der Willigen» ist die Rede. Wie deuten Sie das?
Todd: Ich erkenne darin eine Sehnsucht nach Selbstmord. Das zeigt sich an den Sanktionen, die Europa selbst am meisten schaden. Deutschlands Ausstieg aus der Atomenergie zeugt von suizidären Tendenzen, ebenso die unkontrollierte Masseneinwanderung. Auch der Wille, auf das russische Gas zu verzichten, ist selbstmörderisch. Wir haben es mit einer Krankheit der oberen Schichten zu tun. Auch das ging mir in Moskau auf. Ich befand mich in einer merkwürdigen Verfassung. Ich hatte Lampenfieber vor meinem Vortrag in einem feindlichen Land, gegen das mein Land faktisch Krieg führt. Und unser Feind ist im Begriff, diesen Krieg zu gewinnen. Ich habe Europa von aussen betrachtet und deutlich seinen Irrweg in die Selbstzerstörung gesehen.
Weltwoche: Was ist mit Russland? Der französische Politiker, Journalist und Russland-Kenner Raphaël Glucksmann bezeichnete Putins System in einem Interview mit der Weltwoche als faschistisch.
Todd: Einen russischen Faschismus kann ich nicht erkennen. Russland hat eine funktionierende Marktwirtschaft, es respektiert die Freiheit der Unternehmer. Die Menschen können sich frei bewegen.
Weltwoche: Auch reden? Gibt es keine Dissidenten, die in Lager gesteckt oder im Ausland vergiftet werden?
Todd: Russland ist eine autoritäre Demokratie. Vom Staat geht viel brutale Gewalt aus. Ich will den Umgang mit Oppositionellen nicht beschönigen. Der russische Staat ist stark, er verfügt über die Mittel der Propaganda, der Einschüchterung und der Repression. Putin hat sie gegen die Oligarchen eingesetzt und deren Macht eingeschränkt. Das geschah auf autoritäre, aber auch demokratische Weise: Die russische Bevölkerung unterstützt Putin – im Kampf gegen die Oligarchen und im Krieg. Die Oligarchen sind nur noch ein Problem des Westens, besonders in Amerika. In Russland hat es Putin gelöst. In intellektueller Hinsicht kann ich verstehen, was Putin macht. Er ist rational. Ich verstehe das russische Verhalten, was nicht bedeutet, dass ich mit allem einverstanden bin. Und ich bin mir stets bewusst, dass meine Sympathie für die Russen aus meiner Dankbarkeit entstand. Ein Rätsel bleibt für mich der Westen.
Weltwoche: Und für dieses Rätsel gibt es keine Lösung?
Todd: Ich habe sie noch nicht. Aber jeder Vortrag, jedes Interview bringt mich ein paar Schritte weiter. Lange dachte ich, dass es Donald Trumps Aufgabe sein würde, die Niederlage des Westens zu bewältigen. Dann wurde mir bewusst, dass er wegen dieser Niederlage gewählt wurde. Wäre es Biden gelungen, Russland ökonomisch zu besiegen, hätte der Sieg des amerikanischen Imperiums die Wahl eines Demokraten garantiert. Die Revolution Trump kam wie die Russische und andere Revolutionen nach einem verlorenen Krieg.
Weltwoche: Trump verdankt seine Wahl 2024 dem Sieg Russlands in der Ukraine?
Todd: Seit mehr als zwanzig Jahren befasse ich mich mit der Globalisierung. Ich war gegen den Vertrag von Maastricht. Schon bei der Einführung des Euro, den ich ablehnte, plädierte ich für Protektionismus. Später verteidigte ich den Euro, weil er einen europäischen Protektionismus ermöglichen würde. Alles, was ich damals befürchtete, ist eingetreten. Der Krieg in der Ukraine zwingt uns, der Realität endlich ins Auge zu schauen. Wir können die Wirklichkeit nicht mehr verleugnen: Das russische Bruttosozialprodukt beträgt 3 Prozent des westlichen, gleichwohl ist Russland in der Lage, mehr Waffen als der Westen zu produzieren.
Weltwoche: Mit Trump kehrt die Wirklichkeit zurück?
Todd: In Amerika wird Trumps Revolution als Apokalypse gedeutet. Als Zeitenwende und – im biblischen Sinn – Enthüllung einer neuen Wahrheit. Diese Einschätzung ist richtig. Aber die Offenbarung verdanken wir nicht der Freiheit und dem Internet. Sondern dem Realitätsschock des Ukraine-Kriegs. In Amerika hat die Apokalypse begonnen, sie enthüllt die Wahrheit, dass der Krieg verloren ist. Die Pläne der Gegenoffensive von 2023 waren vom Pentagon entwickelt worden. Die Bestände in den amerikanischen Arsenalen schrumpfen, die Nachrüstung kommt nicht voran. Amerika will den Krieg beenden, den die Russen gewonnen haben. Nur die Europäer verweigern sich dieser Einsicht. Sie sind in diesem Krieg die Hampelmänner der Ukrainer und der Amerikaner, haben aber noch nicht gemerkt, dass er verloren ist. Sie liefern Waffen und bezahlen, sind aber nicht in die Kriegsführung involviert. Sie träumen davon, den Krieg weiterzuführen. Europa steht die Apokalypse erst noch bevor.
Weltwoche: Und für die Ukraine bedeutet diese Apokalypse das Ende der Welt, den Untergang der Nation?
Todd: Die Ukraine war ein bankrotter und korrupter Staat, im Krieg eroberte sie ihre Existenzberechtigung. Mit Kriegsende droht sie diese zu verlieren.
Weltwoche: Ist ein solches Ende in Sicht?
Todd: Die Russen haben jegliches Vertrauen in den Westen verloren. Es ist für sie unvorstellbar, mit den Amerikanern zu verhandeln. Trump ist sehr nett mit den Russen, aber völlig unberechenbar. Die Russen nehmen ihn nicht ernst. Sie sind überzeugt, dass Verhandlungen mit ihm noch unmöglicher sind als mit Biden.
Weltwoche: Ein Ende des Kriegs wäre doch für alle von Vorteil.
Todd: Russland will seine Ziele erreichen. Es hat einen hohen Preis bezahlt für diesen Krieg und viele Soldaten verloren. Putin muss die Sicherheit seines Landes garantieren. Die Drohnenangriffe auf Sewastopol haben gezeigt, wie verwundbar seine Flotte ist. Um sie zu schützen, muss er Odessa unter seine Herrschaft bringen. Ich denke, dass er Odessa und die östliche Ukraine bis zum Dnjepr erobern will. Auch der am linken Ufer des Flusses liegende Teil von Kiew wird russisch. An vertraglich festgehaltene Sicherheitsgarantien glaubt er nicht. Die Rest-Ukraine wird unter russischen Einfluss geraten oder neutralisiert.
Weltwoche: Und damit auch nicht Mitglied der EU?
Todd: Die Russen sind anders als die Amerikaner: Sie machen, was sie sagen. Sie wollten keinen Nato-Beitritt der Ukraine. Das war der Auslöser des Kriegs. Inzwischen ist es kaum mehr möglich, Nato und EU auseinanderzuhalten. Eine Mitgliedschaft ist unvorstellbar geworden. Russland wird Krieg führen, bis die Ukraine neutralisiert ist.
Weltwoche: Auf der Tagesordnung stehen Verhandlungen.
Todd: Das sind alles Verschleierungsmanöver. Die Amerikaner wollen den Krieg beenden und davon ablenken, dass sie ihn verloren haben. Besonders unangenehm sind Trumps Krokodilstränen, seine Klagen über die Schrecken des Kriegs und die vielen Toten auf beiden Seiten. Man denke nur an die Bomben, die er Israel verkauft und die das Gemetzel in Gaza erst ermöglichen. Es ist kein Genozid, der Hinweis ist mir wichtig. Doch für Gaza ist Trump verantwortlich – so, wie die USA für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sind. Seine Verlogenheit ist unerträglich. Nun sind die Russen höfliche Menschen, sie wollen ihn nicht demütigen und die Dinge zusätzlich verkomplizieren. Also gehen sie auf sein Spiel ein. Aber der Krieg wird an der Front entschieden. Die Frage ist jetzt, ob Putin die zwei neu zusammengestellten, im Nordwesten des Landes stationierten Armeen für die Schlussoffensive in die Ukraine schicken wird. Sie hat den Krieg verloren, ihre Alliierten werden sie aufgeben – so, wie Amerika schon Vietnam und Afghanistan verraten hat.
Weltwoche: Je deutlicher sich die Niederlage abzeichnet, desto kriegerischer geben sich Grossbritannien, Frankreich und Deutschland.
Todd: Wir leben in einer verkehrten Welt. Es ist wie im Mittelalter, als im Karneval die Armen und die Reichen ihre Rollen tauschten. Das Verhalten der europäischen Regierungschefs zeugt von einer solchen Komik: Sie drohen mit Sanktionen und stellen ein Ultimatum nach dem anderen – ohne über Armeen zu verfügen, die ihren Worten einen gewissen Nachdruck verschaffen könnten. Manche sind noch nicht einmal zu Hause in der Lage, ihre Interessen durchzusetzen. Die Sabotage von Nord Stream hat zum Beispiel bewiesen, dass Deutschland erneut ein besetztes Land ist.
Weltwoche: Waren es die Amerikaner?
Todd: Das Schweigen der deutschen Medien zu Nord Stream spricht Bände. Deutschland hat seine Unabhängigkeit verloren. Seine Hauptstadt ist Ramstein, wo Amerikas grösster Luftwaffenstützpunkt in Europa liegt.
Weltwoche: Jetzt ist Friedrich Merz neuer Kanzler. In seiner Regierungserklärung hat er angekündigt, Deutschland werde die stärkste Armee Europas aufbauen.
Todd: Damit ist eine neue Dimension der historischen Verantwortungslosigkeit erreicht. Im Gegensatz zu Grossbritannien und Frankreich verfügt Deutschland über ein gewaltiges industrielles Potenzial, das es Merz erlaubt, dieses Ziel zu erreichen. Zu diesem Potenzial zähle ich auch die Schweiz und die früheren Volksrepubliken, die man Satelliten der Sowjetunion nannte: Polen, die Tschechische Republik. Wenn diese Industrie in den Dienst der Aufrüstung gestellt wird, kann das zur Bedrohung für die Russen werden, die gegenwärtig mehr Waffen produzieren als Amerika.
Weltwoche: Krieg oder Frieden – darüber entscheidet das Verhalten Deutschlands?
Todd: Jedenfalls sehr viel mehr als Grossbritannien und Frankreich. Die britischen Premiers werden immer lächerlicher, aber das hat keinerlei Bedeutung. Macron ist schon lange lächerlich, das spielt keine Rolle. Trumps Wahl aber ist für den Westen eine Revolution. Der Übergang von Scholz zu Merz verändert vieles – in psychologischer und geopolitischer Hinsicht. Merz ist ein russenfeindlicher Bellizist. Noch als Kandidat hat er sich dafür ausgesprochen, der Ukraine Taurus-Raketen zu liefern. Mit ihnen soll die Brücke zwischen Russland und der Krim zerstört werden. Die Zeitgenossen scheinen die historische und moralische Bedeutung solcher Überlegungen nicht zu begreifen.
Weltwoche: Jetzt reden auch Sie von Moral.
Todd: Ich bin für das Verzeihen historischer Verbrechen, aber nicht für das Vergessen. Deutschland ist für den Tod von 25 Millionen Russen im Zweiten Weltkrieg verantwortlich. Und jetzt will es erneut gegen Russland militärisch aktiv werden. Das ist unvorstellbar. Was ist mit den Deutschen los?
Weltwoche: Haben Sie eine Antwort?
Todd: Ich kenne Deutschland nur schlecht und spreche kein Deutsch. Ein Element ist sicher die überalterte Bevölkerung, das Durchschnittsalter beträgt 46 Jahre. Deutschland ist nicht mehr das Land, das die anderen in Angst und Schrecken versetzt. Es hat sich in seiner Geschichte verloren. Deutschland trifft absurde Entscheidungen, ohne seine Partner zu konsultieren: Atomausstieg, Einwanderung. Darf ich ein Schreckensszenario formulieren?
Weltwoche: Ich bitte Sie darum.
Todd: Als Reaktion auf Trump, von dem es sich verraten fühlt, versucht Europa verzweifelt, den Mythos seiner Gründung zu beleben. Er steht für das Ende der Kriege zwischen den Nationen. Jetzt ist Europa so sehr auf seine pazifistischen und moralischen Werte fixiert, dass es den Krieg in der Ukraine verlängern will. Die jetzt eingeleitete Aufrüstung ist nur in Deutschland möglich, es ist die führende Industriemacht des Kontinents. Nach dem Krieg interessierte sich Deutschland nur für die Wirtschaft. Die europäische Vereinigung war nur möglich, weil es auf eine Armee verzichtete und pazifistisch wurde. In der Griechenland-Krise hat es die Macht in Europa übernommen. Die Europäische Zentralbank ist in Frankfurt, Ursula von der Leyen steht an der Spitze der EU in Brüssel. Wir haben ein zentralistisches Europa mit Deutschland als Machtzentrum. Jetzt will es die stärkste Armee in Europa aufbauen.
Weltwoche: Davon ist die Bundeswehr noch weit entfernt. Die französische Armee verfügt als einzige in Europa über Atomwaffen. In Deutschland sind sie tabu.
Todd: Macron ist bereit, sie zu teilen. Und wenn sich in Deutschland der Wille zur militärischen Aufrüstung durchsetzt, wird Deutschland sein Projekt umsetzen. Gegenwärtig ist in Europa die Angst vor Russland vorherrschend. Putin ist an Hitlers Stelle getreten. Aber Russland ist weit weg und kein Problem, schon gar nicht für Frankreich. Sehr schnell könnte es jedoch so weit sein, dass die Franzosen und die Polen mehr Angst vor den Deutschen als vor den Russen haben.
Weltwoche: Das wäre dann die Apokalypse in Europa. Mit der Rückkehr der Nationen und der Angst vor den Deutschen?
Todd: Die Globalisierung hat die Überzeugung durchgesetzt, dass es keine Nationen mehr gibt und alle Grenzen überwunden werden müssen. Dass die Menschen überall gleich sind und austauschbar. Es gibt keine kulturellen Besonderheiten, und nur der Markt zählt. Diese Welt befindet sich in Auflösung. Überall beobachten wir Gegenbewegungen: der Brexit, Trump, das Rassemblement national, die AfD. Zwischen diesen konservativ-populistischen Bewegungen gibt es eine gewisse Solidarität. Amerikas Vizepräsident J. D. Vance hat in München für deren Meinungsfreiheit plädiert. Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs. Wenn der Mythos von der Globalisierung zerfällt und jedes Volk wieder sich selbst sein will, wird man entdecken, dass die Völker sehr verschieden sind. Die Italiener sind Italiener, und die Franzosen sind Franzosen. Auch die Implosion der Globalisierung wird in eine Apokalypse münden, die sehr wohl im Zusammenbruch der EU bestehen könnte.
Weltwoche: Das wird zu neuen Konflikten führen. Kriege, Nationalismus, Faschismus?
Todd: Bezüglich Frankreich habe ich keine Bedenken. Nicht weil die Franzosen bessere Menschen wären. Aber sie sind nicht allzu seriös. Die Deutschen sind es. Und wenn sie etwas anfangen, führen sie es zu Ende. Wenn man von der Gefahr einer «Faschisierung» sprechen darf, vielleicht muss – ja, dann denkt man an jene Deutschlands. Wobei ich nicht weiss, ob die faschistische Gefahr von der AfD ausgeht oder von jenen, die sie bekämpfen.
Weltwoche: Die AfD ist gegen den Krieg in der Ukraine, aber wohl nicht nur aus ideologisch-reaktionärer Sympathie für Putin.
Todd: In Frankreich ist es ähnlich. Ein Gerichtsurteil verbietet Marine Le Pen die Teilnahme an der Präsidentschaftswahl. Im Vergleich zur AfD steht ihr Rassemblement national weiter links. Die Einstufung der AfD als rechtsextrem hat mich irritiert und entsetzt. Nicht nur die Gerichte, auch die Geheimdienste mischen sich in die Politik ein. Ich habe noch ein Schreckensszenario. Und wenn Sie es übernehmen, bitte nur mit dem Hinweis, dass ich mich im Voraus dafür bei den Deutschen entschuldigen möchte. Und dass Sie es so darstellen, dass ich als vernunftbegabter Historiker erscheine.
Weltwoche: Ich verspreche es.
Todd: Es ist die Vision, dass die Deutschen aus Antifaschismus die angeblichen Rechtsextremisten in ein Konzentrationslager stecken. Mich haben die Zeremonien am 8. Mai zur Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs beelendet. Zu vergessen, gar zu verneinen, dass Russland Nazideutschland niedergemacht hat, ist nicht nur unmoralisch und skandalös, sondern brandgefährlich.
Weltwoche: Die Russen wurden zuvor schon von den Zeremonien in Auschwitz zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee ausgeschlossen.
Todd: Alle reden vom Erinnern, vom Holocaust. Gleichzeitig vergisst man die Geschichte. Die Deutschen wissen nur zu gut, dass sie von den Russen besiegt wurden. Wenn sich die Vorstellung durchsetzt, dass nicht die Russen gewonnen haben, werden sie sich einbilden, dass sie gar nicht verloren haben. Die Aufrüstung und Militarisierung Deutschlands in einem von ihm beherrschten Europa ist für Russland eine Bedrohung. In diesem Fall sieht die russische Doktrin den Einsatz taktischer Atomwaffen vor. Dann haben wir die Wiederholung des Zweiten Weltkriegs.
Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall. Westend. 352 S., Fr. 41.90
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Quelle: Weltwoche - Mit freundlicher Genehmigung übernommenhttps://weltwoche.ch/abonnemente/