Wird es denn gelingen, den idlibschen Knoten zu lösen?
Am 5. März fand in Moskau ein Arbeitstreffen der Präsidenten Russlands und der Türkei, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan, statt. Gegenstand der Gespräche waren mögliche Wege zur Regelung der Situation in Syrien. Vor Beginn der Verhandlungen wies der russische Präsident auf die Notwendigkeit hin, dass «über alles unbedingt gesprochen werden muss, über die Situation insgesamt, wie sie sich zum heutigen Tag darstellt, damit es а) nicht wieder zu analogen Problemen kommt, und b) die russisch-türkischen Beziehungen, die wir pflegen und die, soviel ich weiß, auch die türkische Seite schätzt und hoch achtet, keinen Schaden nehmen».
Erdogan erklärte zuvor in seinen Ausführungen gegenüber Journalisten, dass im Ergebnis der Verhandlungen eine Waffenruhe erreicht werden sollte. Ursprünglich wurde in Ankara darüber gesprochen, auch Angela Merkel und Emmanuel Macron zu den Moskauer Verhandlungen einzuladen, worauf dann aber verzichtet wurde. Wie allgemein bekannt, übt Erdogan Druck auf Paris und Berlin aus, indem er androht, dem Migrantenstrom freien Lauf zu lassen, sollten seine maximalistischen Forderungen in der «syrischen Frage» nicht befriedigt werden. Allerdings zeitigten weder diese Drohungen, noch der Hinweis darauf, sich um militärtechnische Hilfe an die NATO zu wenden, nicht den erwünschten Effekt, obwohl US-amerikanische Diplomaten der türkischen Besatzungszone im syrischen Nordwesten einen Besuch abgestattet hatten.
James F. Jeffrey, Sondergesandter der USA für Syrien, und Kelly Craft, Ständige Vertreterin der USA bei der UNO, im Kreise von sogenannten Weißhelmen, Idlib
Das bilaterale russisch-türkischen Gespräch unter vier Augen auf höchster Ebene dauerte etwa drei Stunden, wonach die Verhandlungen in einem erweiterten Format in den Delegationen fortgesetzt wurden. Nach Abschluss der Gespräche wies Wladimir Putin auf eine abrupte Aktivierung von Terrorbanden hin, sowie auf fortgesetzte «Angriffe radikaler Kräfte auch auf den russischen Militärstützpunkt Hmeimim. Am ersten März wurde ein erneuter Versuch unternommen, diesen Banden mit Feuer aus Raketenwerfern beizukommen. Insgesamt wurden seit Anfang diesen Jahres 15 Überfälle auf Hmeimim registriert. Jedes Mal haben wir unsere türkischen Partner in Echtzeit darüber informiert.
Erdogan beschuldigt das «Assad-Regime», Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu führen, was angeblich eine Flüchtlingskrise an der Grenze zur Türkei zur Folge gehabt habe. In der Nacht auf den 6. März wurde erneut eine Waffenruhe ausgerufen, wobei sich Ankara das Recht vorbehält, Antwortschläge zu führen, sollte der Waffenstillstand «durch Angriffe der Regimetruppen» nicht eingehalten werden.
Neben der Einstellung der Kampfhandlungen entlang der Kontaktlinie ist vorgesehen, eine insgesamt 12 km breite «Sicherheitszone», jeweils 6 km nördlich und südlich der Trasse M4 (über den «Stützpunkt» der Terroristen in Dschisr asch-Schughur nach Latakia), anzulegen und gemeinsame russisch-türkische Patrouillengänge von der Ortschaft Trumba, westlich von Saraqib bis Ayn-el-Hawr durchzuführen. Die Streifengänge sollen am 15. März beginnen. Die Verteidigungsminister von Russland und der Türkei, Sergej Schoigu und Hulusi Akar, haben ein dementsprechendes Zusatzprotokoll zu den Vereinbarungen von Sotschi aus dem Jahre 2018 unterzeichnet. Das Schicksal der Trasse M5 und der mit den Positionen der Terroristen «verwachsenen» türkischen Beobachtungsstellen der Armee im Hinterland der syrischen Armee blieb offenbar «im Off», was durchaus Nährboden für erneute Mängel bei der Vertragsgestaltung bilden könnte.
Übersichtskarte der angedachten «Sicherheitszone» entlang der M4 und Lage der B-Stellen
Wenn man die vorhergehenden «Waffenruhen» in Betracht zieht, die sich jeweils in ihr komplettes Gegenteil verwandelt hatten, erscheint das Los der ausgehandelten Vereinbarung (dessen technische Einzelheiten erst noch konkretisiert werden müssen) recht nebulös. Als Beispiel: Unklar ist, wie die türkischen Einheiten jene Kräfte aus der bezeichneten Sicherheitszone drängen wollen, die sie die ganze letzte Zeit und sogar über Jahre auf alle erdenkliche At und Weise unterstützt haben.
Solange in Moskau die Verhandlungen liefen, tobte in der «Deeskalationszone» ein verschärfter Konflikt unter Beteiligung von türkischen Militärs, quasi Hand in Hand mit Gefechtsordnungen der Terroristen (wovon drei am 5. März getötet wurden). Speziell haben die Milizen von Nayrab aus erfolglos die Ortschaft Dadih bei Saraquib attackiert. Am Vortag hat das russische Verteidigungsministerium Ankara beschuldigt, keine Initiative gezeigt zu haben, die zuvor abgeschlossenen Vereinbarungen einzuhalten, nach denen die Kämpfer der sogenannten gemäßigten Opposition von den terroristischen Gruppierungen getrennt werden und die Magistralen M4 und M5 freigegeben werden sollten.
Der Abschnitt, in dem sich diese strategisch wichtigen Verkehrswege, die von Ost nach West und von Nord nach Süd durch Syrien verlaufen, mit Zentrum in Saraqib, kreuzen, hat in den zurückliegenden Tagen mehrfach den Besitzer gewechselt. Am 3. März wurde der Beginn der Patrouillengänge von Saraqib von der russischen Militärpolizei angekündigt, was jedoch den kriegerischen Ambitionen der Kämpfer und ihrer Schutzmacht, die die Verbindung zwischen Damaskus und Aleppo um jeden Preis weiter blockieren und verhindern wollten, dass es eine Verbindung zwischen Nord- und Südsyrien zustande kommt, kaum den wind aus den Segeln genommen hat.
Wie im Ausland eingeschätzt wird, bekommen die terroristischen Gruppierungen tragbare Luftabwehrsysteme unterschiedlicher Produktion, die eine zusätzliche Bedrohung für die Flugzeuge nicht nur der syrischen Luftwaffe darstellt, sondern auch der russischen Luftstreitkräfte. Zudem gibt es in der Deeskalationszone eine Konzentration von mobilen Luftabwehrraketenanlagen auf Basis des Transportpanzerwagens М113, die mit modernen optoelektronischen Zielerfassungs- und Feuerleitsystemen ausgestattet sind. Die Offensivhandlungen der syrischen Streitkräfte und ihrer Verbündeten werden in den letzten Tagen durch wiederkehrende Schläge von Gefechtsdrohnen auf Militärkolonnen und vereinzelte Einheiten gelähmt. Nicht weniger gefährlich ist der Einsatz von Raketenwerferbatterien unterschiedlichen Kalibers mit einer Reichweite von über 100 km von der Frontlinie. Die Aktivitäten der Luftstreitkräfte, der elektronischen Abwehr, der Artillerie und der Infanterie (einschließlich der Sondereinsatzkräfte) sind exakt abgestimmt und werden von aktiven Aufklärungshandlungen und einer ununterbrochenen «schwarzen» Propaganda in den Medien und in den sozialen Netzwerken begleitet.
Die Handlungen der türkischen Führung in Syrien sind nicht nur von taktischen Überlegungen gekennzeichnet, sondern sie sind Teil einer auf lange Sicht angelegten expansionistischen «neo-osmanischen» Strategie. Der traditionelle türkische Nationalismus hat sich, angereichert mit einem historisch motivierten Revanchismus, regelmäßig gegen die Nachbarvölker gerichtet, was auch immer die türkische Führung als Begründung angeführt hatte. Syrien, dieses quasi ausgeblutete Land, das schon fast zehn lange Jahre durch militärische Konfrontationen erschüttert wird und zu einem Objekt terroristischer Integration geworden ist – dieses Land ist deutlichstes, jedoch lange nicht einziges Beispiel für die Anwendung von Methoden der «hybriden Kriegsführung» auf türkische Art. Vor wenigen Tagen hat der türkische Präsidentenberater und Mitglied des Präsidialausschusses für Sicherheitsfragen und Außenpolitik, Mesut Hakki, live im Äther in einem der türkischen TV-Kanäle erklärt, dass sein Land bereit sei, einen Krieg gegen Russland unter Einsatz einer fünften Kolonne zu führen, und dass die Rache für die kürzlich in Syrien gefallenen drei Dutzend Militärangehörigen «schrecklich» sein werde.
Kein Zweifel, dass der «türkische Faktor» und die in Bezug auf die angrenzenden Ländereien weit reichenden Ambitionen Ankaras nicht außer Acht gelassen werden sollten, sowohl bei der Entfaltung der russischen Streitkräftegruppierungen in Syrien (vor 5 Jahren), als auch bei der Planung eines langfristigen militärischen Engagements Russlands in diesem Land. Keine wie auch immer gearteten taktischen Vertragswerke können die expansionistischen Bestrebungen der Türkei eindämmen, erst recht nicht solche Verträge, auf deren Grundlage Afrin (Anfang 2018, Operation «Olivenzweig») bzw. ein Teil Syriens im Nordosten (Oktober 2019, Operation «Friedensquelle») der Türkei zugesprochen worden ist.
Die Kontrolle über Idlib und die ständige Ausdehnung der Zone der terroristischen Aktivitäten gaben den Türken Mittel in die Hand, nicht nur Druck auf Aleppo, Hama, Homs und Damaskus auszuüben, sondern auch auf den russischen Luftwaffenstützpunkt Hmeimim. Die Verstärkung der russischen Seestreitkräfte im östlichen Mittelmeer durch zwei Fregatten («Admiral Grigorowitsch» und «Admiral Makarow») mit Kalibr-Raketen an Bord lassen jedoch gegenüber der erheblich stärkeren türkischen Flotte, die zudem moderne U-Boote in ihrem Bestand hat, keine militärische Überlegenheit aufkommen. Unter Ausnutzung der Schwäche der syrischen Luftabwehrsysteme (die in der Hauptsache Damaskus vor Luftschlägen von Israelischer Seite her schützen sollen) und der Moskauer Zurückhaltung, nutzt die türkische Armee im Nordwesten Syriens aktiv Gefechtsdrohnen der Klasse Anka und Bayraktar.
Neben den Verlusten an teurem «Stahl» und Menschenleben, hat nun der Führer der türkischen Nation, der sich nun in die Rolle eines internationalen Hooligans begeben hat, auch noch Probleme im Lande selbst. Bei den Wahlen zu den örtlichen Volksvertretungen hat die von ihm geführte Partei (die sich mit dem Ultranationalisten Devlet Bahçeli verbunden hat) in allen größeren Städten des Landes an Einfluss verloren, einschließlich in Istanbul selbst, was den ehemaligen Bürgermeister dieser Stadt besonders empfindlich getroffen hat. Außerdem kam es noch am 4. März im türkischen Parlament zu einer Massenschlägerei, die provoziert wurde durch eine heftige, von Erdogan an Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, der größten Oppositionsfraktion im türkischen Parlament, gerichtete Kritik und die darauf hin erfolgte Gegenerklärung der «Volksrepublikaner». Die aus Syrien kommenden Särge lösten in den südlichen Regionen der Türkei Massenproteste aus, die lokal sogar Porgomcharakter annahmen. Soziologischen Umfragen zufolge, spricht sich annähernd die Hälfte der Bürger gegen eine Stationierung von türkischen Truppen in Idlib aus. Unterstützt wird dieses Abenteuer von weniger als einem Drittel der Befragten.
Andrej Areschev, | 06.03.2020
Der Autor ist Politologe, aktives Mitglied in der Stiftung strategische Kultur, Verfasser mehrerer Artikel zum Themenkreis Kaukasus und Nahost.
Aus dem Russischen von Siegfried Wilhelm
Quelle: https://www.fondsk.ru/news/2020/03/06/udastsja-li-rasputat-idlibskij-uzel-50295.html
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