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Linker Wahlsieg in Chile und kurze Gedächtnisse in den Medien

Schon 1970 wählte das Volk einen linken Präsidenten. Damals orchestrierten US-Agenten seinen Sturz. Es folgte Diktator Pinochet.
Niklaus Ramseyer* / 28.12.2021 InfoSperber
28. Dezember 2021
Die Medien hatten im Vorfeld ein «Kopf-an-Kopf-Rennen» vorausgesagt. Doch am Abend des 19. Dezember war das Resultat dann deutlich: Der Linke Gabriel Boric (35) hatte mit 56 Prozent der Stimmen die Wahl zum neuen Präsidenten Chiles klar gewonnen. Er werde sich «um die Bedürfnisse aller Menschen kümmern, nicht um die Privilegien einiger», versprach er in seiner ersten Rede nach der Wahl vor Hunderttausenden, die seinen (und ihren) Sieg in den Strassen Santiagos feierten.

 Gabriel Boric
SRF blendet Chiles «Gespenster der Vergangenheit» aus

Das Schweizer Fernsehen SRF berichtete über diese chilenische Überraschung am 20. Dezember in seiner Hauptausgabe der Tagesschau. Der ausführliche Bericht gipfelte in einem Interview mit einer deutschen Kommentatorin vor Ort. Sie wurde zu den Gründen der klaren Wahl Borics befragt und zu dessen Zielen. Sie sagte auch, dass der rechtsextreme Gegenspieler des neuen Präsidenten   – ein Verehrer des früheren chilenischen Militärdiktators General Pinochet   – seine Niederlage anerkannt habe. Und sie erwähnte in diesem Zusammenhang die «Gespenster der Vergangenheit».

Doch Moderator Franz Fischlin im Studio ging nicht darauf ein. Er stellte die Frage nicht, die sich aufdrängte: Fürchtet man sich in Chile nun wieder vor einem gewalttätigen Umsturz   – wie schon 1970? Dabei sind die Parallelen zu damals offensichtlich: Wie nun Boric, so war auch der 1970 demokratisch zum Präsidenten Chiles gewählte Arzt Salvador Allende politisch aus der Studentenbewegung gekommen. Wie Boric nun wieder, so hatte auch Allende ab 1970 dafür sorgen wollen, dass die Erträge aus reichen Bodenschätzen des Landes (vor allem Kupfer) nicht nur einer dünnen, sich bereichernden Oberschicht zugute kommen, sondern der teils mausarmen breiten Bevölkerung. Nichts zu solchen historischen Parallelen jedoch in der SRF-Tagesschau.

Das Fernsehen SRF war damit nicht allein: Die historischen Parallelen zu 1970 fanden in den grossen Schweizer Medien von den Radiosendern über die Tamedia-Zeitungen bis zur NZZ so gut wie nicht statt. Die NZZ berichtete am 21. Dezember zwar etwa, Chile sei «die erfolgreichste Wirtschaft Lateinamerikas», oder deren Führungselite habe in jüngster Zeit nun schon wieder 50 Milliarden Dollars ihrer Profite ins Ausland geschafft   – und Boric sei der «klar am weitesten links stehende Präsident seit dem Putsch gegen Salvador Allende 1973». Ausser diesem halben Satz jedoch kein Wort zu jenem Putsch und zu den «Gespenstern der Vergangenheit», die im Fernsehen immerhin angetönt wurden.

Warum haben grosse Medien über die historische Parallele so schmalbrüstig informiert? Es wäre eine Gelegenheit gewesen, die damaligen Verbrechen und die Rolle der USA in Erinnerung zu rufen. Denn Chiles «Gespenster der Vergangenheit» sassen 1973 teils in den USA   – und sie geistern jetzt noch in Washington herum.

In der Gestalt eines Henry Kissinger etwa. Der Sicherheitsberater unter dem US-Präsidenten Richard Nixon und spätere US-Aussenminister hatte schon vor und besonders nach der demokratischen Wahl Allendes 1970 die Destabilisierung des Landes Chile und den gewalttätigen blutigen Sturz seines linken Präsidenten aktiv mit Geld und über US-Geheimdienste wie die CIA vor Ort orchestriert und vorbereitet. Der faktenbasierte Film «Missing» von Costa Gavras deckte schon 1982 die Verwicklungen der USA in diesen Putsch eindrücklich auf.

USA mitverantwortlich für zehntausende Ermordete in Chile

Nach der Machtübernahme des brutalen Militärdiktators General Augusto Pinochet am 11. September 1973 hat Kissinger von Washington aus dessen blutige Gewaltherrschaft stets unterstützt. Er und die US-Geheimdienste sind mitverantwortlich für die über 100’000 Eingekerkerten während Pinochets Militärdiktatur von 1973 bis 1990. Mitverantwortlich für Zehntausende von Opfern chilenischer Folterknechte (die ihr grässliches Handwerk teils bei «Kollegen» aus den USA gelernt hatten) und für bis zu 30’000 grausam Ermordete, die durch Pinochets Häscher entführt und hingerichtet wurden. 

Die neuen, rechten Machthaber in Santiago foutierten sich um «die Bedürfnisse aller Menschen» in Chile (Boric) und vertraten die Privilegien einiger weniger   – auch die Interessen fremder Investoren vorab aus den USA. 

Demokratie und Menschenrechte nur, wenn es der US-Regierung nützt

Je mehr Dokumente und Untersuchungen über diese übergriffigen und gewaltsamen US-Einmischungen ans Tageslicht kamen und kommen, desto mehr wird klar: Demokratie und Menschenrechte interessieren die Machthaber in Washington nur, wenn dies den USA nützt. So haben US-Geheimdienste zur Zeit Kissingers auch die mörderischen Militärmachthaber in Argentinien unter General Jorge Rafael Videla von 1976 bis 1984 aktiv und passiv unterstützt. Auch hier wurden zehntausende Männer, Frauen und Kinder gefoltert und grausam ermordet (teils gar lebendig aus Flugzeugen und Helikoptern ins Meer geworfen). Die Aufarbeitung dieser Schreckenszeit von US-Gnaden ist in Argentinien noch nicht abgeschlossen. Das ORF hat jetzt gerade wieder eine eindrückliche Dokumentation («Vorherige Sendung») darüber publiziert   – unter dem Titel «Mein Vater, der Täter». 

Der Helfer grausamer Diktatoren namens Henry Kissinger wird seiner heimlichen Übeltaten wegen inzwischen nicht nur in Lateinamerika als mutmasslicher Kriegsverbrecher bezeichnet, sondern (gemäss Wikipedia) teils sogar in Washington selber. Vor Gericht verantworten, wie ähnliche Täter aus Ex-Jugoslawien oder aus Afrika (Ruanda), musste er sich bisher dennoch nicht. Er meidet inzwischen Auslandreisen möglichst. Und wenn schon, lässt er zuvor durch seine Anwälte abklären, ob er riskieren müsse, gleich am Ankunftsflughafen festgenommen zu werden. 

Unglaubwürdige Demokratie-Offensive der USA

Diese Fakten wurden auch bei der jüngsten Offensive der US-Regierung «für Demokratie und Menschenrechte» (Summit for Democracy) nicht thematisiert. Das Magazin Time hat es getan: «Joe Biden’s Democracy Summit Is the Height of Hypocrisy». Es fiel auch auf, dass sich diese aktuelle Initiative einseitig gegen Russland und China richtet. Denn krasse Demokratiedefizite oder inexistente Frauenrechte in Saudi-Arabien und anderen arabischen Ländern oder die Diktatur im verbündeten Ägypten waren ebenso wenig ein Thema wie permanente Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Armee im illegal besetzten Palästina. Über solche Ungereimtheiten informierten die meisten westlichen Medien nicht, sondern jubelten den einseitigen «Demokratie-Gipfel» des US-Präsidenten hoch. Deshalb scheuten sie sich wohl, nun nach der Wahl von Chiles neuem, linkem Präsidenten gleich an die gewalttätigen Umtriebe der US-Regierungen gegen Demokratien in Lateinamerika zu erinnern.

Niklaus Ramseyer
Niklaus Ramseyer*

Quelle: https://www.infosperber.ch/politik/welt/linker-wahlsieg-in-chile-und-kurze-gedaechtnisse-in-den-medien/

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