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Gott beherrscht alles im Israel von 2012, sogar den Staat

29. Januar 2012

Gideon Levy, Haaretz, 29. 01. 2012

Gideon Levy wurde 1953 in Tel Aviv als Sohn von Flüchtlingen geboren; sein Vater stammte aus dem Sudetenland. Levy war von 1978 bis 1982 Sprecher von Shimon Peres.

1982 schrieb er erstmals für die israelische Tageszeitung " Ha´aretz" . Seit 1986 berichtet er Woche für Woche in der Kolumne "Zwielicht-Zone" über das palästinensische Leben unter israelischer Besatzung. Eine Sammlung der Beiträge des Journalisten ist unter dem Titel "Schrei´, geliebtes Land" im Melzer Verlag erschienen. Gideon Levy wurde 1996 der "Emil Grunzweig Menschenrechtspreis" verliehen.

Gott existiert. 80% der israelischen Juden können nicht Unrecht haben. Und genau aus diesem Grund müssen wir sagen: Gott schütze uns vor den Ergebnissen der Umfrage (ausgeführt vom israelischen Demokratie-Institut-Guttmanszentrum zur Überwachung ...). Obwohl es denkbar ist, sich mit diesem brennenden, umfassenden Thema des Glaubens an das Göttliche zu befassen, was machen wir mit dem „Du erwählst uns"? 70% der Antwortenden sagten, sie glaubten, die Juden seien das auserwählte Volk   – und dieses erschreckende Parameter ist erst im Kommen.

Die Meinungsforscher lassen die Katze aus dem Sack. Um einen Slogan von 1990 zu umschreiben -Israel ist nicht das, was man dachte. Nicht was die Welt dachte, nicht was die Israelis selbst denken. Israels Gesellschaft ist nicht säkular, sie ist nicht liberal und ist nicht aufgeklärt. Wäre es ihr erlaubt, frei zu antworten, ist es zweifelhaft, ob 80% der Iraner sagen würden, dass sie an Gott glauben; es ist zweifelhaft, dass es noch eine andere freie Nation auf dem Planeten gibt   – außer den US-Amerikanern, die dieselben Ergebnisse liefern würde. Aber sicher gibt es keine andere Nation auf dem Planeten, die sich so sicher in ihrer arroganten Sicherheit ist: dass sie aus allen anderen Völkern ausgewählt und über alle anderen erhoben wurde.

Die Ergebnisse dieser Umfrage helfen sehr mit, die israelische Gesellschaft und die Haltung ihrer Regierungen zu verstehen. Es ist das einzige Prisma, durch das es möglich ist, die Besatzung, den Rassismus, die Judaisierung durch die Haredim und die Kapitulation gegenüber den Siedlern zu verstehen. Tief in unserm Inneren denken wir: das ist unser Schicksal. Auch wenn in jeder fortschrittlichen Gesellschaft die Siedler und die Ultra-Orthodoxen als marginale, exzentrische, messianische Gruppen behandelt werden   – so kommt die Haltung ihnen gegenüber aus einer sehr tiefen Mitte innerhalb der säkularen Gesellschaft. Wenn in einer fortschrittlichen Gesellschaft die Besatzung Protest und Abscheu hervorruft, gründet sich die Haltung hier auf einen religiösen Glauben, der alle ihre Ungeheuerlichkeiten rechtfertigt.

Die Untersuchung beweist, dass wir alle zur „Hügeljugend" gehören und dass die meisten von uns Sikarer sind. Rassistische Ausdrücke gegenüber den Arabern und Ausländern, Israels arrogante Haltung gegenüber der internationalen Meinung   – auch dies kann mit dem unbedarften, urzeitlichen Glauben der Mehrheit der Israelis ( 70%) erklärt werden, dass uns alles erlaubt ist, weil ER uns auserwählt hat.

Selbst der religiöse Charakter des Staates, der viel weniger säkular ist, als wir denken   – keine Busse oder El Al-Flüge während des Shabbat, keine zivile Ehe, nur koschere Hotels, eine Mesusa am Türpfosten fast jeder Wohnung und eine wachsende Anzahl von Leuten, die sie jedes Mal küssen, wenn sie hineingehen oder herauskommen. All dies kann durch die Daten der Untersuchung erklärt werden.

Es gibt viel weniger religiösen Zwang, als es scheint, viel mehr freiwillige Zuneigung zu den Launen des jüdischen Fundamentalismus. Ab jetzt kann nicht länger behauptet werden, dass die säkulare Mehrheit sich der religiösen Minderheit gefügt hat. Es gibt keine säkulare Mehrheit, nur eine unwesentliche Minderheit.

Im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten von heute ist in Israel das Wort „Atheist" ein abfälliger Begriff, den sogar nur wenige Leute auszusprechen wagen, noch viel weniger benützen sie es, um sich selbst zu identifizieren. In solch einem Land ist es unmöglich, ernsthaft über Säkularisation zu sprechen. Wird die Wahrheit zugegeben, dann sind wir eine fast religiöse Gesellschaft und ein Staat, der sich fast nur auf ein religiöses Gesetz gründet. Es ist nicht nötig, die Leute zu zählen, die eine Kipa, ein Kopftuch oder Shtreimels tragen. Leute ohne Kopfbedeckung gehören in dasselbe Lager: sie akzeptieren den Charakter ihres Staates, in dem die Religion der Staat ist und der Staat die Religion   – alles gut gemischt. Es ist nicht nötig, von religiösem Extremismus geschockt zu sein   – oder religiös zu sein, ob moderat oder extrem   – es ist alles dasselbe, und es ist hier die Mehrheit.

In der Westbank, von Jenin bis Hebron, stehen wir über allem, weil die Mehrheit der Israelis glaubt, dass es nicht nur das Land der Patriarchen ist, sondern dass diese Tatsache uns das vererbte Recht zu Herrschaft, zu Grausamkeiten, zu Missbrauch und zur Besatzung gibt   – und zur Hölle mit der Stellungnahme der internationalen Gemeinschaft und den Prinzipien des Völkerrechts, weil schließlich wir unter allen Völkern ausgewählt wurden. Von Bnei Brak bis Mea Shearim sind diese Haredim zum größten Teil wie wir   – nur mit anderer Bekleidung und Sprache   – extreme Versionen des selben Glaubens.

Vielleicht war es unvermeidlich. Ein Staat, der in einem gewissen Land entsteht und weiteres Land eroberte und dort fast für immer geblieben ist und zwar auf Grund der biblischen Geschichten: eine Bevölkerung, die sich nie entschieden hat, entweder eine Nation oder eine Religion zu sein; und ein Staat, der behauptet, ein „jüdischer Staat" zu sein, obwohl keiner eine Vorstellung davon hat, was das ist. All dies kann nicht ohne Grundlage bestehen   – ein auserwähltes Volk, das an seinen Gott glaubt. Das ist Israel im Jahr 2012. Gott sei uns gnädig!

Ins Deutsche übersetzt von Ellen Rohlfs.

Bild Gideon Levy

Gideon Levy

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