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Die Welt darf nicht schweigen. Die Menschen in Gaza sind keine Versuchstiere.

17. Oktober 2006

Die Journalistin Andrea Bistrich führte ein Interview mit Dr. Juma Al Saqqa, Facharzt für plastische Chirurgie sowie Sprecher des Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, über den vermutlichen Testeinsatz neuer israelischer Waffen im Gaza-Streifen.

Palästinensische Ärzte befürchten, daß israelische Armee Gaza-Invasion zum Waffentest nutzt. Gespräch mit Juma Al Saqqa. Dr. Juma Al Saqqa ist Facharzt für plastische Chirurgie und Sprecher des Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt

Auf welche Verletzungen sind Sie und Ihre Kollegen im Schifa-Krankenhaus in Gaza gestoßen, die Sie vermuten lassen, daß die israelische Armee möglicherweise eine neue Waffenart in Gaza testet?

Viele der Eingelieferten waren Widerstandskämpfer, auf die die israelische Armee Jagd gemacht hatte. Die Rettungskräfte haben uns seltsam gekrümmte Körper gebracht, die mit einer schwärzlichen Schicht überzogen waren; manche waren in Stücke gerissen; das Gewebe an den Gliedmaßen war bis auf die Knochen verbrannt, es sah aus wie geschmolzen. Wir konnten diese Menschen nicht einmal mehr identifizieren.

In nahezu allen Fällen haben wir auf der Körperoberfläche der Verletzten und Toten eine Art Staub aus winzigen Metallpartikeln gefunden. Dort, wo die Metallpartikel durch die Haut in den Körper eingedrungen waren, hatte es die darunterliegenden Gewebeschichten bis auf die Knochen weggebrannt. Bei einzelnen Opfern haben wir eindeutig diagnostizieren können, daß ein Schrapnell in den Körper eingedrungen sein mußte, ohne daß wir es jedoch im Körperinnern lokalisieren konnten. Dennoch gab es deutliche Anzeichen dafür, daß das Schrapnell die Organe angreift und zerstört, unter anderem haben wir beispielsweise die Segmentierung und Zerstörung von Leber und Milz dokumentiert, und auch starke Verbrennungen von Leber und Darm. Während der Operationen stießen wir dann zufällig auf ein sehr kleines, leichtes schwarzes Schrapnell, das nicht einmal auf den Röntgenbildern erkennbar gewesen war.

Weiterhin fiel uns auf, daß bei vielen der Notfälle die Beine oftmals bis zu den Genitalien vom Rumpf abgeschnitten waren, gerade so, als hätte man mit einer Säge auch die Oberschenkelknochen durchtrennt. Allein im Schifa-Krankenhaus hatten wir mehr als 60 solcher Amputationen.

Auch ist uns aufgefallen, daß einige Patienten plötzlich und medizinisch völlig unerklärlich starben, nachdem sie bereits als stabil eingestuft waren. Die Monitorüberwachung hatte keinerlei Probleme angezeigt, alle Vitalfunktionen waren normal gewesen. Dennoch starben sie innerhalb nur weniger Minuten. Das hat uns sehr beunruhigt und mißtrauisch gemacht, und uns zu der Vermutung bewogen, daß diese schweren Verletzungen möglicherweise von einer neuen, noch unbekannten Waffenart resultieren.

Wann sind diese ungewöhnlichen Verletzungen erstmals aufgetreten?

Unmittelbar nach der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit am 25. Juni wurden erstmals Notfälle mit den beschriebenen Verletzungen eingeliefert. Das hielt etwa sechs bis acht Wochen an. Bis zu dem Zeitpunkt, da wir Ärzte in Gaza unsere Dokumentationen und Vermutungen öffentlich gemacht haben. Seitdem scheint Israel seine Militärstrategie geändert zu haben und greift wieder auf die konventionellen Waffen zurück, die wir schon kennen.

Wie viele Notfälle mit diesen Verletzungen wurden bei Ihnen eingeliefert?

Sämtliche Notfälle, die nach Angriffen der israelischen Armee von den Rettungsdiensten zu uns gebracht wurden, wiesen diese neuen Verletzungen auf. Wir sprechen also von hundert Prozent. Ab dem Moment, da Israel wieder die traditionellen Waffen einsetzte, veränderte sich das Erscheinungsbild schlagartig.

Wie sind Sie nach diesen Entdeckungen dann weiter vorgegangen? Haben Sie Kontakt mit ausländischen Experten aufgenommen?

Ich habe zunächst eine ganze Reihe von internationalen Nichtregierungsorganisationen kontaktiert und sie über unsere Beobachtungen und Vermutungen informiert. Schließlich hat ein italienisches Expertenteam um Professor Dr. Carmela Vaccaro vom Geowissenschaftlichen Institut der Universität Ferrara Interesse gezeigt, die sichergestellten Gewebeproben und Metallstückchen zu analysieren, aber die israelische Regierung ließ sie nicht einreisen.

Also mußten wir andere Wege finden. Als eine Delegation der israelischen Vereinigung »Physicians for Human Rights« im Sommer den Gazastreifen besuchte, gaben wir ihnen die Gewebeproben und Schrapnellfunde für das italienische Team mit. Die israelischen Ärzte haben Proben mitgenommen, um sie im Technion, dem israelischen Institut für Technologie in Haifa, untersuchen zu lassen. Allerdings hat das israelische Verteidigungsministerium bisher noch keine Genehmigung dafür erteilt.

Die Analyse der gefundenen Mikroschrapnelle in Italien ergab eine sehr hohe Konzentration von Karbon, zusammen mit Materialien wie Kupfer, Aluminium und Wolfram. Laut Professor Dr. Vaccaro weisen die Funde eine große Ähnlichkeit zu der derzeit in den Laboratorien der US-Armee entwickelten Waffe DIME   – Dense Inert Metal Explosive   – auf. Offiziell ist diese Waffe in Kriegen noch nicht angewandt worden.

Die Welt darf nicht schweigen. Die Menschen in Gaza sind keine Versuchstiere.

Quelle: Junge Welt; 17.Oktober 2006

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