In Israel greift eine „heroische“ Vorliebe für Selbstzerstörung um sich
Israel steht am Abgrund: Es wird sich nicht gegen die Pluralität des Widerstands durchsetzen können, mit dem es konfrontiert ist.
Vor Jahrhunderten wurde ein Junge geboren. Seine Eltern wussten, dass er ein bemerkenswertes Schicksal vor sich hatte, das den Willen des Großen Schamanen widerspiegelte. Sein Haar war hell, seine Augen waren hellgrün und seine Haut war blass. Es schien offensichtlich, dass er göttliche Gunst genoss. Doch dann wurde eines Tages der Vater des Jungen – eine angesehene Persönlichkeit – getötet. Die Familie war nun schutzlos und Nomaden zerstörten die Überreste seines Zuhauses. Sie legten ihm Holzkeulen an die Beine, damit er nicht laufen konnte. Er lebte wie ein Hund und wuchs wie ein Hund auf, angekettet im Freien, aß verdorbenes Essen, fror in Winternächten und wünschte sich den Tod.
Der Tod hat ihn jedoch verschont. Als er schließlich doch entkommen konnte, war seine Psyche gequält. Die Stimmen in seinem Kopf, die Schreie seines Vaters, das sengende Feuer, die Folterung und Ermordung seiner Mutter – alles flüsterte ihm zu: „Zerstöre einfach alles, was dir im Weg steht, und diese Erinnerungen werden ausgelöscht.“
Aber das wurden sie nicht. Seine Armee tötete Millionen. Dennoch gründete er eine Nation mit mehr als einer Million Vasallen. Er verbannte alle Konzepte von Stammesloyalität und alten Identitäten zugunsten des Gehorsams gegenüber seinem Staat.
All dies gelang ihm mit einer winzigen Armee von nicht mehr als 100.000 Mann. Sein Name ist uns heute als Dschingis Khan überliefert.
Was hat das mit dem heutigen Krieg im Nahen Osten zu tun? Nun, zunächst einmal sind wir – in diesem von den USA unterstützten israelischen Krieg – zu einem „Krieg ohne Grenzen“ übergegangen. Die Regeln des Krieges wurden außer Kraft gesetzt, die Menschenrechte wurden verworfen, das Völkerrecht wurde abgeschafft und die UN-Charta gibt es nicht mehr. Und während es sich ausbreitet, ist alles erlaubt – Kinder in Gaza werden durch Bomben enthauptet, Krankenhäuser in Gaza werden bombardiert und es kommt zu ständigen Vertreibungen und Massakern an Zivilisten.
Die Wurzeln dieser Veränderung sind komplex. Zum Teil entspringen sie dem westlichen postmodernen Zeitgeist. Aber sie spiegeln auch das gleiche Dilemma wider, mit dem ein gequälter, verdrehter Dschingis Khan konfrontiert war: Wie sollte er die Welt ohne eine große Armee kontrollieren, wenn er doch nur eine winzige hatte?
„Alles, was heute passiert ist, wurde vor nur 50 Jahren geplant – damals, in den Jahren 1974 und 1973.“ Ich möchte beschreiben, wie die gesamte Strategie, die dazu führte, dass die Vereinigten Staaten heute nicht den Frieden wollen, sondern dass Israel den gesamten Nahen Osten übernimmt, allmählich Gestalt annahm“, erklärte Professor Hudson.
Hudson berichtet:
"Ich habe viele [Neokonservative] am Hudson Institute kennengelernt, wo [ich] Mitte der 70er Jahre fünf Jahre lang gearbeitet hatte; einige von ihnen oder ihre Väter waren Trotzkisten. Sie griffen Trotzkis Idee der permanenten Revolution auf. Das heißt, eine sich entfaltende Revolution – während Trotzki sagte, dass sich das, was in Sowjetrussland begann, auf der ganzen Welt ausbreiten würde: Die Neokonservativen passten dies an und sagten: Nein, die permanente Revolution ist das amerikanische Imperium. Es wird sich ausbreiten und ausbreiten, und nichts kann uns aufhalten – auf die ganze Welt."
In ihrem Ehrgeiz waren sie ein weiterer Dschingis Khan: Die USA, denen es an militärischen Mitteln fehlte, würden den Nahen Osten unter Verwendung Israels als Stellvertreter auf der einen Seite und des von Saudi-Arabien unterstützten sunnitischen Fundamentalismus auf der anderen Seite erobern. Das Hudson Institute unter Herman Khan überzeugte die dominierende politische Figur Scoop Jackson davon, dass der Zionismus Amerikas Rammbock im Nahen Osten sein könnte. Das war in den frühen 1970er Jahren. Bis 1996 hatten Scoop Jacksons ehemalige Senatsmitarbeiter – speziell für Netanjahu – die Clean-Break-Strategie ausgearbeitet. [Anmerkung des Übersetzers: dazu: The Hill]
Es war ausdrücklich der Entwurf für einen „neuen Nahen Osten“. Darin wurde argumentiert, dass dem israelischen Stellvertreter am besten durch einen Regimewechsel in den umliegenden Ländern gedient wäre. Im März 2003 schrieb Patrick J. Buchanan mit Bezug auf die Invasion des Irak im Jahr 2003: „Ihr [Clean-Break-]Plan forderte Israel auf, [einen Regimewechsel durch] das Prinzip der Präemption zu verfolgen“.
Professor Michael Hudson weist auf den fatalen Fehler des Plans hin: Der Vietnamkrieg hatte gezeigt, dass jeder Versuch einer Wehrpflicht in westlichen Demokratien nicht durchführbar war. Lyndon Johnson musste 1968 seine Kandidatur für die Wahl zurückziehen, weil er überall, wo er hinkam, ununterbrochen Demonstrationen gegen den Krieg erlebte.
Was blieb den Vereinigten Staaten und Israel also noch? Nun, was zur Verfügung steht – wenn man das Ziel hat, Großisrael zu gründen – ist ein „Krieg ohne Grenzen“ [d.h. die bewusste Inkaufnahme einer hohen Zahl an Kollateralopfern] – ein Krieg ohne Grenzen, wie ihn Dschingis Khan geführt hat: die vollständige Vernichtung anderer Völker und die Unterdrückung deren eigener Identität. Eine einzige Macht – der Hobbes'sche „Leviathan“ – wird durch die Entwaffnung aller anderen erreicht. Das letztliche Ziel besteht darin, jegliche Pluralität von Willen zu unterdrücken.
Der Fehler besteht darin, dass die Israelis als US-amerikanische Hilfstruppe nur über begrenzte Streitkräfte verfügen, sowohl was die Anzahl betrifft (es handelt sich um eine kleine Armee, die von Reservisten abhängig ist), als auch aufgrund der Tatsache, dass ihre Reihen aus einer verwestlichten, postmodernen Kultur stammen.
"Das postmoderne Denken hat Gott, die Natur und die Vernunft hinweggefegt. Der Einzelne ersetzt alles. Fakten sind nur das, was er will, dass sie es sind ... Es gibt nur noch Fiktionen – aber diese Fiktionen sind auch die gesamte Realität. Die westliche Gesellschaft beginnt daher, einer Irrenanstalt sehr ähnlich zu sehen. Natürlich ist dies nur eine kollektive Paranoia: Eine Bombe fällt irgendwo in unserem Land, und sehr reale Realitäten, die unserer Diskurse spotten, werden zerstört, und diese Philosophie bricht zusammen“, warnt Dr. Henri Hude.
Diese Aussage, die sich eher an den Westen richtet, fasst Israel jedoch genau zusammen. Letzteres versucht, den Talmud als erkenntnistheoretische Grundlage seiner Gesellschaft zu ersetzen, doch das junge Israel ist größtenteils dieselbe TikTok-Generation von Individualisten wie im Westen, deren „Fakten“ nur von dem stammen, was die Regierung ihnen vorgibt. Und während Bomben auf Tel Aviv fallen, versinkt das Land in kollektiver Paranoia und die Ereignisse spotten der staatlichen Pangloss'schen Diskurse.
Im Grunde räumt der Postmodernismus dem Leben und der individuellen Freiheit höchste Priorität ein. Die Fähigkeit, sich an die Brutalität dieses grenzenlosen Krieges anzupassen, hängt daher stark von der Kultur ab. Um sich erfolgreich an den Schrecken von Tod und Zerstörung anzupassen, muss man die Idee des Opfers und des Leidens akzeptieren – das Vergießen von Blut, um die Erde für neues Wachstum zu nähren.
Israel hat keine Opferkultur, seine Gegner aber schon. Wenn die Kultur nicht in der Lage ist, dem Begriff des Opfers und des Verlusts einen Sinn zu geben, versetzt sie den Menschen nicht in die Lage, sich der Tragödie seiner Lage zu stellen.
Die Ideologie eines Krieges ohne Grenzen könnte – rein theoretisch – eine denkbare Lösung sein: Ron Dermer, ehemaliger israelischer Botschafter in den USA und Vertrauter von Netanjahu, wurde gefragt, was seiner Meinung nach die Lösung für den Palästina-Konflikt sei. Er antwortete, dass sowohl das Westjordanland als auch der Gazastreifen vollständig entwaffnet werden müssten – „ja“. Noch wichtiger als die Entwaffnung sei jedoch, so Dermer, dass alle Palästinenser „deradikalisiert“ werden müssten. (Dies wurde nun auf die gesamte Region ausgedehnt, die „entradikalisiert“ werden muss).
Auf die Bitte, dies näher zu erläutern, verwies Dermer zustimmend auf das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs: Die Deutschen wurden besiegt, aber noch deutlicher wurden die Japaner am Ende des Krieges vollständig „entradikalisiert“.
„Entradikalisierung“ bedeutet daher die Errichtung eines Leviathan-ähnlichen ‚Despotismus, der die Mehrheit auf völlige Ohnmacht reduziert, einschließlich geistiger, intellektueller und moralischer Ohnmacht. Der totale Leviathan ist eine einzigartige, absolute und unbegrenzte Macht, geistig und zeitlich, über andere Menschen‘, wie Dr. Henri Hude feststellte.
Während die postmoderne Kultur ins Unmenschliche versinkt und den Leviathan begünstigt – mit der vollständigen Vernichtung anderer Völker und der Unterdrückung ihrer eigenen Identität –, stellt sich die Frage, ob ein „Krieg ohne Grenzen“ funktionieren könnte. Könnte ein solcher Terror dem Nahen Osten eine bedingungslose Kapitulation aufzwingen, „die es ihm ermöglichen würde, sich militärisch, politisch und kulturell grundlegend zu verändern und sich als Satellit innerhalb der Pax Americana zu transformieren?“
Hude fährt fort: „Die Bedingungen, die die USA Japan auferlegten, waren exorbitant, und es war zu erwarten, dass Japan enormen Widerstand leisten würde. Der grausame Einsatz der Bombe brach diesen Widerstand.“
Die klare Antwort, die Dr. Hude in seinem Buch „Philosophie de la Guerre“ gibt, lautet, dass ein Krieg ohne Grenzen keine Lösung sein kann, weil er keine dauerhafte „Abschreckung“ oder Entradikalisierung bewirken kann. "Im Gegenteil, er ist die sicherste Ursache für Krieg. Er hört auf, rational zu sein, verachtet Gegner, die rationaler sind als er selbst, und weckt Gegner, die noch weniger rational sind als er selbst. Der Leviathan wird fallen; und selbst vor seinem Fall ist keine Sicherheit gewährleistet."
Letzteres gibt zwei Einblicke, wie Hude‘s Analyse auf die heutigen Kriege angewendet werden könnte: Erstens kann die postmoderne Kultur, wann immer sie in „notwendige“ Gewalt verfällt (was sie übermäßig schuldig macht, da sie dem Leben Vorrang vor dem Leiden einräumt), die Gewalt nur durch die Beschwörung eines mehr als absoluten Übels rechtfertigen – des dämonisierten Feindes.
Zweitens stellt Hude fest, dass ein solch extremer „Wille zur Macht“ – ohne Grenzen – notwendigerweise auch die Psyche der Selbstzerstörung in sich birgt. Damit der Leviathan funktionieren kann, muss er rational und mächtig bleiben. Wenn er aufhört, rational zu sein, Gegner verachtet, die rationaler sind als er selbst, und Gegner verärgert, die weniger rational sind als er selbst, muss der Leviathan untergehen.
Ein angesehener Militärbeobachter – Generalmajor (a.D.) Itzhak Brik, ein ehemaliger hochrangiger Befehlshaber der israelischen Streitkräfte und ehemaliger langjähriger Ombudsman – hat erneut vor dem drohenden Sturz Israels gewarnt:
"Netanyahu, Gallant und Halevi spielen mit der Existenz Israels ... Sie denken keinen Augenblick an den Tag danach. Sie sind realitätsfremd und urteilsunfähig. … Wenn die Katastrophe eintritt, wird es bereits zu spät sein. … Diese drei Größenwahnsinnigen bilden sich ein, sie seien in der Lage, sowohl die Hamas als auch die Hisbollah zu vernichten und das Regime der Ayatollahs im Iran zu beenden ... Sie wollen alles durch militärischen Druck erreichen, aber am Ende werden sie nichts erreichen. Sie haben Israel an den Rand zweier unmöglicher Situationen gebracht [ –] der Ausbruch eines ausgewachsenen Krieges im Nahen Osten, [und zweitens] die Fortsetzung des Zermürbungskrieges. In beiden Fällen wird Israel nicht lange überleben können. Nur eine diplomatische Einigung hat die Kraft, uns aus dem Sumpf zu befreien, in den uns diese drei Männer hineingezogen haben."
Israel steht am Abgrund: Es verfügt nicht über die erforderlichen Streitkräfte, es hat keine Kultur, anhaltendes eigenes Leid zu tolerieren, und es wird nicht in der Lage sein, sich gegen den vielfältigen Widerstand durchzusetzen, dem es sich gegenübersieht. Die Vernunft wird bereits beiseitegeschoben, ihre Gegner werden lächerlich gemacht: Eine „heroische“ Vorliebe für Selbstzerstörung hat sich durchgesetzt. Man spricht von „Masada“.
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