Zeitenwende in den Köpfen
Wie es in dem Papier heißt, seien deutsche Soldaten, sollte es zu einem Krieg gegen eine Großmacht („Bündnisverteidigung“) kommen, mit einer völlig neuen Lage konfrontiert: Hätten sie in den bisherigen Einsätzen in „gut gesicherten Feldlagern“ noch „eine relative Sicherheit“ genossen, so sei nun die Bereitschaft zum „Durchstehen außerordentlicher Entbehrungen“ und „zum Kampf“ gefragt.
Gleichzeitig zeigt eine aktuelle Untersuchung, dass der Einsatz vor allem von Außenministerin Annalena Baerbock für stärkere „Wehrhaftigkeit“ in der Bevölkerung noch kaum gefruchtet hat. So ist der Anteil derjenigen, die mehr „Zurückhaltung“ in internationalen Krisen fordern, von 50 auf 52 Prozent gestiegen. Eine militärische Führungsposition Deutschlands in Europa weisen zwei Drittel der Bevölkerung zurück.
Das Denken verändern
Ausgangspunkt des aktuellen Strategiepapiers der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) sind Forderungen der Bundesregierung, die beschleunigte Militarisierung der Bundesrepublik („Zeitenwende“) und die stark fokussierte Ausrichtung der Bundeswehr auf die sogenannte Landes- und Bündnisverteidigung – in der Praxis also auf einen Krieg gegen eine Groß- bzw. Nuklearmacht, etwa gegen Russland – um einen Mentalitätswandel zu ergänzen. Hinsichtlich der Gesamtbevölkerung dringt vor allem Außenministerin Annalena Baerbock auf eine neue „Wehrhaftigkeit“; diese beinhalte nicht nur die Fähigkeit, sondern auch „den Willen, sich zu verteidigen“, erklärte Baerbock im März: „Viele Menschen in Deutschland“ hätten den Begriff „Wehrhaftigkeit“ „lange ... nicht einfach so in den Mund genommen“; das müsse sich ändern.[1]
Einen Mentalitätswandel in der Bundeswehr wiederum hat Bundeskanzler Olaf Scholz im September gefordert. Man lege mit der dramatischen Aufstockung der Militärausgaben zur Zeit „das Fundament ... für eine neue Bundeswehr“, sagte Scholz. „Aber wir wissen auch, dass noch etwas Entscheidendes hinzukommen muss: Ein verändertes Denken – und zwar auf allen Ebenen in der Bundeswehr, gepaart mit Zutrauen und Risikobereitschaft.“[2]
„Gut gesicherte Lager“
In dem BAKS-Arbeitspapier heißt es nun zustimmend, das bisherige offizielle „Rollenbild“ der Bundeswehr genüge künftig nicht mehr. Der damalige Generalinspekteur Volker Wieker habe es im Jahr 2012 so skizziert: „Soldaten der Bundeswehr schützen, kämpfen, vermitteln und helfen“.[3] Entsprochen habe dies der Lage in den bisherigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr, in denen „die Mehrzahl der heutigen Soldatinnen und Soldaten ... sozialisiert“ worden sei – „in Afghanistan, in Mali, auf dem Balkan oder am Horn von Afrika“.
Basierend auf den dort vorherrschenden Einsatzerfahrungen sei „in den letzten Jahren das Bild eines ‘Unternehmens Bundeswehr‘ hervorgetreten“, das trotz gelegentlicher Härten eher geregelte Arbeitsbedingungen biete – darunter „regelmäßige Mahlzeiten, Betreuungseinrichtungen sowie Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme in die Heimat, während nur bis zu einem Viertel der eingesetzten Bundeswehrkräfte die schützenden Lagermauern regelmäßig verließen“. „Die gut gesicherten Feldlager“ hätten stets „eine relative Sicherheit und eine Vielzahl von Annehmlichkeiten“ geboten, während „die eigene Einsatzteilnahme ... für die meisten Soldatinnen und Soldaten mit einer Einsatzdauer von zumeist vier bis sechs Monaten“ auch „zeitlich präzise planbar“ gewesen sei, heißt es bei der BAKS.
„Unter spartanischen Bedingungen im Feld“
Demgegenüber halten die Autoren des BAKS-Arbeitspapiers fest, „das sich in der Ukraine offenbarende Kriegsbild“ zeige „eine Realität“, an die selbst „die Gefechtserfahrungen der Bundeswehr in Afghanistan ... nicht annähernd heranreichen“.[4] Würden deutsche Soldaten in einen Einsatz zur Landes- bzw. Bündnisverteidigung geschickt, dann „müssten nahezu alle“ von ihnen „damit rechnen, auf unabsehbare Zeit unter spartanischen Bedingungen im Feld zu leben“. „Auch hinter den Frontlinien wären sie einer ständigen Bedrohung und Kriegsschrecken ausgesetzt.“ Wünsche man tatsächlich, dass „die Soldatinnen und Soldaten aller Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche der Bundeswehr geistig für die Verteidigung gegen einen Gegner auf militärischer Augenhöhe gerüstet“ seien, dann sei „ein Wandel im Mindset ... unabdingbar“, heißt es in dem BAKS-Papier; „ausnahmslos alle Soldatinnen und Soldaten“ müssten „in letzter Konsequenz stets zum Kampf sowie zum Durchstehen außerordentlicher Entbehrungen befähigt und willens sein“. „Die psychische Bereitschaft zum Kampf und der Wille zum tapferen Dienst“ seien „Mentalparameter“, die „maßgeblich zur Einsatztauglichkeit einer Armee beitragen“.
„Kämpfen, töten und sterben“
Weiter heißt es bei der BAKS, das „potenzielle[...] Kämpfen, Töten und Sterben der eigenen Mitmenschen in Uniform“ seien „zentrale[...] Aspekte des Soldat-Seins“; eine angemessene „Befassung“ mit ihnen sei bislang ausgeblieben. Künftig müssten sie nun „in aller Ehrlichkeit in die gesellschaftliche Wahrnehmung sowie in die Mitte des soldatischen Selbstverständnisses gehoben werden“.[5] Ein entsprechendes „Soldatenbild“ biete außerdem die Chance, „den afghanischen Wüstenstaub einer vielfach als gescheitert empfundenen Mission abzuschütteln“. Die Autoren warnen zwar, „gerade in der aktuellen Lage“ könnten es sich „die deutschen Streitkräfte nicht leisten, wie in den vergangenen Jahren mit Skandalen um verfassungsfeindliche Gesinnungen und entwürdigende Entgleisungen die Schlagzeilen zu füllen und damit obendrein noch Desinformationskampagnen des Gegners Futter zu liefern“.[6] Deshalb müsse „das Bild von Soldatinnen und Soldaten als wehrhafte Verteidiger des Grundgesetzes, der Freiheit und Demokratie“ propagiert werden. Allerdings zählt ein „Soldatenbild“, das „Töten und Sterben“, „Kampf“ und das „Durchstehen außerordentlicher Entbehrungen“ stark betont, zu den traditionellen Leitbildern der extremen Rechten.
Diplomatie statt Militär
Während das BAKS-Arbeitspapier der Scholz’schen Forderung nach einem „veränderte[n] Denken“ in der Bundeswehr Rechnung trägt, kann das Baerbock’sche Drängen auf eine neue „Wehrhaftigkeit“ der Bevölkerung zwar vorsichtige Fortschritte verzeichnen, muss jedoch auch Rückschläge hinnehmen. So sprechen sich laut einer aktuellen Umfrage, die die Hamburger Körber-Stiftung publiziert hat, mittlerweile zwar 60 Prozent der Bevölkerung für eine dauerhafte Aufstockung des deutschen Militärhaushalts aus.[7] Zugleich ist aber der Anteil derjenigen, die fordern, Deutschland solle sich stärker in internationale Krisen einmischen, von 45 Prozent (2021) auf 41 Prozent (2022) gesunken. Der Anteil derjenigen, die von Berlin hingegen größere Zurückhaltung verlangen, ist von 50 Prozent auf 52 Prozent gestiegen. Von denjenigen, die für eine stärkere Einmischung in Krisen plädieren, wünschen 14 Prozent mehr militärische, 13 Prozent mehr finanzielle, 65 Prozent mehr diplomatische Aktivitäten. Eine militärische Führungsrolle Deutschlands in Europa favorisieren 29 Prozent, während 68 Prozent sie klar ablehnen. Freilich hat Berlin mittlerweile Schritte eingeleitet, deren Ziel es ist, die Zustimmung zu einer beschleunigten Militarisierung („Zeitenwende“) stärker in der Bevölkerung zu verankern (german-foreign-policy.com berichtete [8]).
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[1] „Die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens“. Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie. auswaertiges-amt.de 18.03.2022.
[2] Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Bundeswehrtagung am 16. September 2022. bundesregierung.de 16.09.2022.
[3], [4], [5] Philipp Fritz, Dominik Steckel: Mindset LV/BV: Das geistige Rüstzeug für die Bundeswehr in der Landes- und Bündnisverteidigung. Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Arbeitspapier 9/22.
[6] S. dazu Ruhm und Ehre, Bundeswehrkritik von rechts und Tabubrecher im Zweiten Kalten Krieg.
[7] The Berlin Pulse 2022/23. koerber-stiftung.de.
[8] S. dazu Orientierung auf Akzeptanz.
Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9060
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