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«Existenzielle Notlage»

Der deutsche Umwelt-Professor Fritz Vahrenholt erklärt die Energiewende für gescheitert. Ex-Kanzler Schröder nennt er einen «ganz grossen Staatsmann». Auch die Schweiz lobt er.
Roman Zeller - Weltwoche, 20.07.2022
21. Juli 2022
Fritz Vahrenholt ist der Mann fürs Thema der Stunde: die Energiekrise. Wie kann Europa seine Gas- und Stromversorgung sicherstellen, ohne dass die Kosten explodieren? Was ist vernünftig? Was nachhaltig? Mit solchen Fragen beschäftigt sich der 73-jährige sozialdemokratische Umweltexperte seit Jahrzehnten, mit einem 360-Grad-Ansatz, ohne die Wirtschaft aussen vor zu lassen.

Vahrenholt
Tabubruch: Vahrenholt.

Der promovierte Chemiker wirkte von 1991 bis 1997 als Umwelt-Senator in Hamburg. Seither ist er Professor im Fachbereich Chemie der Universität Hamburg und publizierte mehrere Bestseller. In seinem Buch «Unerwünschte Wahrheiten» thematisierte er schon 2020, wohin die Gesellschaft steuere, falls die Politik die Energiewende weiter vorantreibe: in eine «existenzielle Notlage», wie er sagt.

Vahrenholt engagiert sich auch in der Wirtschaft. Er sitzt in Vorständen und Aufsichtsgremien, etwa in jenem des grössten Kupferherstellers Europas und in jenem des grössten Investors für erneuerbare Energien. Trotzdem kritisiert er den Fokus der Politik auf Wind und Solar. Dass er an der Technologie per se nichts auszusetzen hat, zeigt seine Namensgebung der ersten Windkraftanlage in der Nordsee: Fritz.

Weltwoche: Herr Vahrenholt, in Europa geistert das Wort «Energiekrise» umher. Von «Notfallplan» ist die Rede, von «kalt duschen» und von «weniger heizen». Sagen Sie, um was geht es genau? Wo liegt das Problem?

Fritz Vahrenholt: Die Energiekrise ist selbstgemacht. Eine Konsequenz der europäischen Politik, des Green Deal, der dazu angelegt ist, Kohle, Gas und Öl derart zu verteuern, dass fossile Brennstoffe nicht mehr eingesetzt werden. Spanien, Grossbritannien, die Niederlande, Deutschland haben über zwanzig Kohlekraftwerke abgestellt. Viele gaukeln sich vor, dass die Lücke mit Solar- und Windenergie geschlossen werden könnte. Aber dann, nach der wirtschaftlichen Erholung nach der Pandemie, war plötzlich mehr Strom erforderlich. Gas wanderte als Ersatzbrennstoff in die Kraftwerke, die eigentlich nur für die Spitzenlast ausgelegt waren. Der Strompreis schnellte in die Höhe, parallel dazu der Gaspreis. Denn zusätzlich hatte die EU-Kommission das CO2 dem Zertifikathandel unterworfen und die Zertifikate massiv verknappt. Der CO2-Ausstoss kostet Geld, und durch die Verknappung schoss der Preis auf fast neunzig Euro pro Tonne   – das war politisch gewollt und erfolgte noch vor Putins Ukraine-Angriff. Die Energiewende wäre mittelfristig auch ohne Krieg gescheitert; nur kriegen wir jetzt das Scheitern im Zeitraffer. Ein weiteres Problem kommt hinzu: Die Finanzseite, sämtliche Investitionen der Finanzinvestoren haben Öl, Gas und Kohle als «böse» gebrandmarkt, sie haben das Kapital weitgehend aus dem Sektor verbannt. BP, Shell, Exxon, Chevron investieren seit zehn Jahren immer weniger in fossile Energie. Das heisst, nur noch staatliche Gesellschaften aus dem Nahen Osten, aus Russland oder China erschliessen neue Öl-, Gas- und Kohlevorkommen. Die Energiekrise ist hausgemacht, und die Ukraine-Krise verschärft sie.

Weltwoche: Wie verschärft der Ukraine-Krieg die Energiekrise, die sowieso eingetreten wäre?

Vahrenholt: Zunächst: Der Ausstieg aus Kernenergie und Kohle funktionierte nur, weil wir im Hintergrund russisches Gas zuführten. Sonst wäre die Energiewende schon vor Jahren gescheitert. Wer ein neues Windkraftwerk in Betrieb nimmt, braucht ein Back-up für die Zeit, in der kein Wind weht. Als ehemaliger Windkraftunternehmer weiss ich, der Normalzustand einer Windturbine ist der Stillstand. An 100 bis 150 Tagen des Jahres produzieren Windkraftwerke weniger als 10 Prozent ihrer Leistung. Deswegen braucht es Gas als Back-up   – das wir jetzt nicht mehr haben. Daraus folgt, wenn die Pipelines nicht schnellstmöglich wieder Gas transportieren, sind in Deutschland 5,6 Millionen Arbeitsplätze gefährdet. Wussten Sie, dass die chemische Industrie alle sechs Stunden einen Zug von Frankfurt bis Sevilla braucht? Waggon an Waggon, allesamt gefüllt mit Gas. Natürlich geht es nicht darum, wie ein ehemaliger Bundespräsident völlig falsch gesagt hat, dass wir «frieren für den Frieden». Sondern darum, dass wir dabei sind, unsere Industrie zu zerstören. 50 Prozent des Gases gehen in die Industrie, ins Gewerbe. In die Glas-, Metall- und Papierindustrie   – zum Brötchenbäcker. Fällt das weg, sind die Folgen verheerend. Ein existenzieller Notstand.

Weltwoche: Stichwort Blackout: Ist das ein Begriff, mit dem sich die Menschen nun auseinandersetzen müssen?

Vahrenholt: Wir müssen unterscheiden zwischen Gas und Strom: Beim Gas wird es so sein, dass die Lieferung aus Norwegen und Algerien   – und das, was wir vielleicht über die LNG-Terminals bekommen   – ausreicht, um Wohnhäuser zu beheizen. Die Industrie hingegen wird abgeschaltet, sobald es nicht mehr reicht. Und das ist eine Katastrophe. Betroffen sind dann nicht nur Arbeitsplätze, sondern Steuereinnahmen, Sozialabgaben und so weiter. Beim Strom ist es anders: Man wird durch Teilabschaltungen versuchen, einen Blackout mit seinen verheerenden Folgen zu vermeiden. Leonard Birnbaum, Chef von Eon, sagte, man werde dafür ganze Stadtteile abstellen. Das ist das Modell Kapstadt: Stadtteile bekommen nur zu bestimmten Zeiten Strom. Dann sind wir auf dem Niveau eines entwickelten Entwicklungslandes.

Weltwoche: Wie kann man sich dieses Strom-Jonglieren vorstellen?

Vahrenholt: Das bedeutet, von 9 bis 12 Uhr bekommt Wandsbek Strom, von 12 bis 15 Uhr Altona, abends dann dieser und jener Stadtteil. Diese Gefahr drohte übrigens ohnehin. Die zunehmende Elektromobilität hätte neue Spitzenbelastungen für das Stromnetz bedeutet, so dass es bereits einen Gesetzesentwurf gab, dass die Stadtwerke E-Ladestationen und Wärmepumpen abstellen können. Beim gewerblichen Strom macht man das heute schon: Aluminiumfabriken, Stahlwerke kriegen keinen Strom, wenn zu wenig Strom da ist.

Weltwoche: Was bedeutet die Energiekrise fürs Portemonnaie der Bürger? Für den Haushalt?

Vahrenholt: Der Strompreis hat sich vervierfacht, und es geht weiter aufwärts. Beim Gas sind wir bei einer Versechsfachung. Nur merkt’s noch keiner, die Rechnungen flattern erst noch in die Häuser. Zeitverzögert steuern wir auf eine Kostenlawine zu, die die Bundesregierung übrigens gar nicht bestreitet.

«Vielleicht müssen wir erst in den Abgrund schauen, um zu einer neuen Aufbruchmentalität zu kommen.»

Weltwoche: Von welcher Grössenordnung? Mal fünf? Mal sechs im Vergleich zu heute?

Vahrenholt: Beim Strom bleibt’s wohl bei einer Verdreifachung, beim Gas rechne ich langfristig mit einer Verfünffachung, weil die staatlichen Abgaben nur teilweise mitwachsen. Und dann können Sie rechnen: Kostete die Stromrechnung für einen normalen Haushalt früher, sagen wir mal, 600 Euro im Jahr, werden es bald 2000 Euro sein. Beim Gas ist’s noch krasser: Weil die Gasverbräuche in kalten Zonen wie in Deutschland oder der Schweiz höher sind, bekommen Sie da eine Wohnung nicht unter 1500 Euro warm. Dieser Betrag mal fünf ergibt 7500 Euro   – im Jahr, allein für Gas. Das kann sich jemand, der jährlich 20 000 Euro netto nach Hause bringt, unmöglich leisten.

Weltwoche: Als wie besorgt nehmen Sie die Bevölkerung wahr? Was kriegen Sie mit?

Vahrenholt: Ich wundere mich, wie relativ . . . ich will nicht sagen: gelassen . . .

Weltwoche: . . . vielleicht stoisch?

Vahrenholt: . . .wie wenig Verstörung da ist. Die Beunruhigung hält sich in Grenzen. Die wesentliche Ursache hierfür sehe ich in der Medienlandschaft, insbesondere der öffentlich-rechtlichen, die ihre Rolle als affirmative Unterstützung von Regierungspolitik versteht. Abwiegeln ist angesagt   – «Alles halb so schlimm, wenn wir nur die wichtigsten zehn Spartipps befolgen», «Weiter so mit der Klimapolitik».

Weltwoche: Schönfärberische Berichterstattung.

Vahrenholt: Ja, aber warum verfängt das? Weil den Deutschen über zwanzig Jahre lang Angst eingetrieben wurde. Angst vor der Klimakatastrophe, Angst, auf der falschen Seite zu stehen. Das Resultat: Das Narrativ, die Welt retten zu müssen, ist eine der Kernursachen dafür, dass wir die Säulen unserer Industriegesellschaft, soweit sie mit CO2-Emissionen verbunden waren, zerstört haben   – von den Braunkohlekraftwerken bis hin zur Automobilindustrie. Wir könnten unsere Kohlekraftwerke CO2-frei machen, indem wir das CO2 in tiefes Gestein unter dem Meeresboden verpressen; nur ist das verboten. Deutschland hat Fracking-Gas: In Norddeutschland lagert ein Erdgasschatz, der uns die nächsten zwanzig, dreissig Jahre preiswert zur Verfügung stünde. Wir müssten ihn nur anbohren, und wir hätten die ganze Wertschöpfung im eigenen Land   – in Deutschland: verboten. Sowie die Nutzung der Kernenergie: verboten.

Weltwoche: Mit Blick auf den Ukraine-Krieg, auf die Diskussion um schwere Waffen oder Friedensverhandlungen: Was wäre, aus energiepolitischer Sicht, jetzt angezeigt?

Vahrenholt: Wir müssen uns die Frage stellen, inwieweit wir die Gesprächsbereitschaft mit Russland abreissen lassen wollen. Eins darf nicht vergessen werden: Nord Stream 2 steht unter Gas, und auch andere Nationen hängen daran   – Frankreich, Österreich, die Slowakei, Tschechien, Ungarn. Meine Hoffnung ist, dass Vernunft einkehrt und die Pipeline Nord Stream 1 wieder zum Laufen kommt. Man wird Russland schliesslich nicht von der Landkarte ausradieren können. Russland bleibt dort als rohstoffreichstes Land der Erde. Am Ende werden wir weiterhin Energie und Rohstoffe wie Nickel oder Kali aus Russland importieren. Eine Politik, die sagt: «Nie wieder Gas aus Russland», kann ich nur als naiv bezeichnen.

Weltwoche: Sie glauben, das deutsch-russische Tuch ist noch nicht vollends zerschnitten?

Vahrenholt: Russland ist eines der grössten Rohstoffländer der Welt. Deswegen darf man nicht alle Türen zuschlagen. Klar kann ich verstehen, dass man Boykottsignale setzt, den Zahlungsverkehr einschränkt   – das ist alles richtig. Aus meiner Sicht macht aber ein Boykott, der dem Boykotteur mehr schadet als dem zu Boykottierenden, wenig Sinn. Beim Öl etwa, da merken wir, wie bescheuert es ist, wenn wir auf den Import verzichten. Dann verkauft Russland an Indien, und Indien mischt sich sein eigenes Öl zusammen, das es mit Hilfe griechischer Reeder an die USA und Europa verkauft   – allerdings teurer als zuvor Russland. Diese Art von Boykott macht keinen Sinn. Der russische Staatshaushalt profitiert vom Boykott durch die höheren Ölpreise.

Weltwoche: Einerseits plädieren Sie für einen harten Kurs mit Sanktionen. Man soll Putin zeigen: «Wir finden das, was du machst, nicht gut.» Gleichzeitig wollen Sie die Beziehungen nicht abreissen lassen. Wie ist dieser Spagat realisierbar?

«Irgendwann wird man Wasserstoff auf Kernenergiebasis brauchen, anders geht es gar nicht.»

Vahrenholt: Ich glaube, Olaf Scholz hat diesen Spagat versucht: solidarisch zu sein, 700 000 Flüchtlinge aufzunehmen, finanzielle, humanitäre Hilfe zu spenden, Waffen zu liefern. Für viele mussten es dann aber unbedingt Angriffswaffen sein, schwere Waffen. Je schwerer, desto besser, darum drehte sich alles. Auf den Bundeskanzler wurde eingeprügelt, ein Getriebener, von eigentlichen Pazifisten, den Grünen, die natürlich auf der guten Seite stehen wollten. Am Ende konnte er dem Druck nicht standhalten und schaffte den Spagat nicht.

Weltwoche: Wer in Deutschland ist für die Energiekrise verantwortlich?

Vahrenholt: Ich glaube, antikapitalistische Strömungen und Parteien beförderten das Dilemma. Es ist eine wirkmächtige Parole, dass die kapitalistischen Industriestaaten den Untergang der Welt durch die Zerstörung des Klimas bewirken. Obwohl im Weltklimabericht davon keine Rede ist. Schauen wir uns das wahrscheinlichste Szenario an, das einen weiteren leichten Anstieg der CO2-Emissionen und ab 2025 ein Absinken auf die Hälfte bis 2050 zur Grundlage hat. Demnach wird es bis 2040 um 0,4 Grad wärmer, bis 2100 um 1,6 Grad. Das ist alles andere als eine Katastrophe, kein Grund, sich anzukleben irgendwo. Stellen Sie sich vor, vor zwanzig Jahren hätte jemand gesagt: «Die Deutschen werden irgendwann die besten Autos der Welt, eine über hundert Jahre entwickelte Technologie, eigens abschaffen.» Wir hätten gesagt: «Der spinnt.» Und heute haben wir eine ganze Jugend verloren, weil sie diese quasireligiösen Botschaften nachbetet. A la: «Die Welt geht unter, die ältere Generation ist schuld.» Die Medien haben der Bevölkerung nur das schlimmste Szenario nahegebracht, in dem die Erwärmung um über drei Grad zunimmt. Dieses Szenario ist aber völlig fiktiv und irreal. In diesem Szenario wird der Kohleverbrauch vervierfacht. Dann würden uns 2080 die Kohlereserven ausgehen. Das ist die Welt, wie sie uns Politik und Medien als Schreckensszenario tagtäglich einbläuen. Wer derart in Angst versetzt wird, akzeptiert sogar Wohlstandseinbussen. Die Frage ist nun, wie antwortet die Bevölkerung auf die Zuspitzung durch den Russland-Boykott?

Weltwoche: Ja. Wie?

Vahrenholt: Es gibt zwei Wege, um aus der Energiemangelwirtschaft herauszukommen. Entweder: Wir besinnen uns auf das, was wir können, brechen Tabus, nehmen staatliche Verbote wie beim Fracking, bei der CO2-Abscheidung bei Kohlekraftwerken oder der Kernenergie zurück und versuchen mit Ingenieurskunst, Mut und Leistungsbereitschaft auf dem marktwirtschaftlichen Weg die Probleme zu lösen. Oder: das Modell einer Gesellschaft des Mangels, der Deindustrialisierung, in der am Ende der Staat entscheidet, wie die wenigen Mittel und Energieressourcen verteilt werden. Das wäre eine DDR light.

Weltwoche: Als Schuldiger an der Energiemisere mit Russland wird Altkanzler Gerhard Schröder angesehen   – und mit ihm die SPD. Können Sie, als SPD-Politiker, dagegenhalten? War alles schlecht, wie es heute heisst?

Vahrenholt: Nein, natürlich nicht. Schröder hat Deutschland vor dem Absturz bewahrt. Er wusste sehr wohl, dass er, indem er Einschnitte im Sozialbereich vornahm, seine Kanzlerschaft gefährdete. Diese führten aber dazu, dass Deutschland in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren wieder reüssiert hat. Er war ein ganz grosser Staatsmann. Für ihn kam das Land zuerst, auch wenn man der eigenen Partei, ja sich selbst dabei schadet. Das müsste man jetzt von den Grünen erwarten, die ja die Antikernenergie in ihren Genen tragen. Sie müssten den Notstand erkennen und tun, was nötig ist. Sprich: Kohle umweltfreundlich machen, Gas fördern, Kernenergie ausbauen. Und damit gegen alle Parteitagsbeschlüsse verstossen und den Liebesentzug der eigenen Klientel in Kauf nehmen.

Weltwoche: Bei Wirtschaftsminister Robert Habeck sind zaghafte Ansätze in diese Richtung zu erkennen. Was halten Sie von ihm?

Vahrenholt: Er ist immer noch gefangen in seiner Parteipolitik. Er macht nur das absolut Unausweichbare. Er müsste eigentlich das Volk aufklären, sagen, dass es nicht nur für drei bis sechs Monate Kohlekraft braucht, sondern für eine längere Zeit. Und Sprüche wie: Kernenergie helfe beim Gas nicht, finde ich absolut daneben. Wenn die Kernenergie abgestellt wird, werden Gaskraftwerke wieder verstärkt Strom liefern müssen. Wir müssten zusätzlich so viel Gas verbrennen, wie ein LNG-Terminal an Gas liefert. Habeck baut gerade einen Gartenzaun, um eine Lawine abzuhalten, die auf uns einprasseln wird   – und alle bewundern sein Werk. Anfang des nächsten Jahres, wenn wirklich die Kernkraftwerke abgestellt werden, mitten im Winter, und Gas knapp bleibt, wird die Loyalität zu den Grünen zusammenbrechen.

Weltwoche: Was muss die Politik jetzt sofort tun, um das Schlimmste abzuwenden? Welches Gesetz muss sofort abgeschafft werden?

Vahrenholt: Das Wichtigste sind die drei Gesetze, die in Deutschland die Energiekrise haben anschwellen lassen. Erstens muss das Erdgas-Förderverbot aus Schiefergas sofort weg. Zweitens ist die Abscheidung von CO2 aus Kohlekraftwerken verboten, wobei das Treibhausgas in der Tiefe verpresst wird, ohne Schaden fürs Klima. Und das Dritte: den Kernenergieausstieg aufheben und dessen Forschung fördern.

Weltwoche: Sehen Sie ein Land, an dem sich Deutschland orientieren könnte?

Vahrenholt: Die Schweiz macht es eigentlich ganz gut. Schweden auch. Sie haben zumindest verstanden, was eine völlig überstürzte Energiewende bedeutet. Die abwartende Positionierung des Bundesrats zahlt sich aus. Da gab es ja einige, die, wie die Deutschen, möglichst rasch aus den fossilen Brennstoffen und der Kernenergie aussteigen wollten. Wie hiess sie noch? Leuthold?

«Die chemische Industrie braucht alle sechs Stunden einen Zug von Frankfurt bis Sevilla voll mit Gas.»

Weltwoche: Doris Leuthard.

Vahrenholt: Genau! Gut, dass die Regierung entschieden hat, die AKW-Laufzeiten erst mal zu verlängern und dann weiterzuschauen.

Weltwoche: Interessant, dass Sie die Schweiz loben. Auch bei uns mehren sich die warnenden Stimmen, die Lage sei ernst, heisst es. Was raten Sie der Schweiz, um nicht die gleichen Fehler zu machen wie Deutschland?

Vahrenholt: Der Schweizer Anteil am Russen-Gas ist ja relativ gering. Das ist erst mal beruhigend. Natürlich ist es wichtig, ja nicht an den Pfeilern zu sägen. Sicher gilt, an der Kernenergie festzuhalten. Danach muss es weitergehen, nicht kopflos, und natürlich gehören da auch erneuerbare Energien dazu. Aber man muss auch deren Grenzen erkennen; dass nachts eben keine Sonne scheint. Irgendwann wird man Wasserstoff auf Kernenergiebasis brauchen, anders geht es gar nicht.

Weltwoche: Wo sehen Sie den ganz grossen Irrtum bei den erneuerbaren Energien?

Vahrenholt: Dass die Schwankungen nicht abnehmen, je mehr man auf sie setzt. Oder anders: Wenn Sie dreimal so viele Windkraftwerke bauen, und es gibt keinen Wind, ist eben auch kein Strom da. Drei mal null Wind ist null Strom. Die Volatilität macht das System kompliziert, aber auch so teuer; Zwischenspeicherung kostet. Beim Wasserstoffpfad gehen drei Viertel der Energie verloren, und der ganzjährige Batteriespeicher ist unbezahlbar. Aber man muss anerkennen, es sind tolle Entwicklungen, auch die Preisentwicklung der Solaranlagen. Eine vernünftige Ergänzung im Gesamtsystem. Ich habe die Technik ja selbst mit entwickelt, war sowohl Solar- als auch Windkraftmanager. Der Fehler ist, zu glauben, dass sie 100 Prozent der Energieversorgung abdecken können. Wer sagt, nur Solar- und Wind- sei «grüne» Zukunftsenergie, erstickt die Innovation etwa bei der Fusionsenergie oder bei neuen Kernkraftwerkstechnologien.

Weltwoche: Die EU hat unlängst Atom- und Gasenergie als «grün» gelabelt.

Vahrenholt: Ein Schritt in Richtung Wahrheit.

Weltwoche: Oder das definitive Eingeständnis, dass die Energiewende gescheitert ist?

Vahrenholt: Dagegen hat sich Deutschland bis zum Schluss gewehrt. Aber man darf den Entscheid nicht überbewerten: Am Ende heisst das, das Kapital, auch staatliche Förderung, darf wieder in Kern- und Gasenergie fliessen, ohne dass es gleich auf den verfemten Index kommt. Die Frage ist: Wie setzen das die Kapitalgesellschaften, die Fonds um? Wenn diese nach wie vor sagen: «In grüne Fonds kommt keine Kernenergie rein», hilft auch das grüne EU-Label nicht viel.

Weltwoche: Wie definieren Sie eigentlich Nachhaltigkeit?

Vahrenholt: Wirtschaftliches Wachstum, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz   – das sind die drei Quellen für Nachhaltigkeit. Wir haben Nachhaltigkeit auf ein Ziel verkürzt und uns nur der klimafreundlichen Energiepolitik verschrieben. Und vergessen, dass das, was wir machen, weltweit völlig irrelevant ist. Entscheidend ist, was die Chinesen machen, die Inder, die Brasilianer. Da kommt’s nicht so sehr auf uns an, Deutschland hat 2 Prozent am weltweiten CO2-Ausstoss, China 30 Prozent. Aber wir könnten die Technik der CO2-freien Kohle entwickeln und von China verlangen, es uns gleichzutun. Das wäre erfolgreiche Klimapolitik.

Weltwoche: Dass das EU-Verbrenner-Verbot ab 2035 aus marktwirtschaftlicher Optik nicht zielführend ist, liegt nahe. Warum aber ist es auch aus der Umweltperspektive falsch?

Vahrenholt: Weil die Batterien grösstenteils in China produziert werden. Wer den Fussab-druck wirklich genau berechnet, von der Erzeugung bis hin zum täglichen Gebrauch des Autos, sieht, dass das E-Auto eben einen grösseren CO2-Fussabdruck hat als ein Diesel-Verbrenner. Beim Elektroauto kommt hinten zwar nichts aus dem Auspuff raus, aber vorher wird so viel CO2 rausgeschleudert, dass die Bilanz nicht aufgeht. Es ist wie bei vielem, der Blick wurde total verengt. Holz zum Beispiel: Natürlich ist Holzverbrennung nicht CO2-frei, sie produziert pro Kilowattstunde mehr CO2 als die Kohleverbrennung   – und der Baum braucht sechzig Jahre, bis er nachgewachsen ist.

Weltwoche: Derzeit wird kaltes Duschen empfohlen, weniger Heizen, um Energie zu sparen. Bereits jetzt, im Sommer. Wie bereiten Sie sich auf den kalten, dunklen Winter vor?

Vahrenholt: Wir haben einen wunderbaren Kamin. Meine Frau hat dafür gesorgt, dass wir viel Holz haben, damit man, wie in den fünfziger Jahren, wenigstens einen Raum beheizen kann. Wir haben uns einen Propangaskocher besorgt, um für eine gewisse Zeit den Elektroherd ersetzen zu können, wenn nötig. Und immer genug Wasserkisten im Keller. Denn bei Stromausfall gibt es auch kein städtisches Wasser mehr.

Weltwoche: Haben Sie sich auch schon einen Stromgenerator angeschafft?

Vahrenholt: Nein, das wäre auch nicht so einfach. Mein Handy kann ich mit der Lichtmaschine meines Benzinautos laden. Der Generator würde angeschafft, wenn ich die Hoffnung total verloren hätte, dass irgendwann Vernunft einkehrt.

Weltwoche: Das wollte ich gerade fragen: Wie können Sie optimistisch bleiben, damit nicht alles ganz so schlimm wird, wie Sie sagen?

Vahrenholt: Mir hilft der Blick auf meine Eltern, die 1945 vor dem Nichts standen. Innerhalb von fünf bis zehn Jahren haben sie es geschafft, zusammen mit der damaligen Generation aus dem kaputten Deutschland ein Land zu schaffen, in dem es sich zu leben lohnt. Ich glaube, das schafft jede Generation, wenn sie muss, wenn man sie machen lässt und sie die Möglichkeiten dazu hat. Vielleicht müssen wir erst in den Abgrund schauen, um zu einer neuen Gründer- und Aufbruchmentalität zu kommen. Ich bin da aber ganz zuversichtlich.

Quelle: https://weltwoche.ch/story/existenzielle-notlage/
Mit freundlicher Genehmigung von Weltwoche

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