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Das Gedenken der Wehrhaften

Außenministerin Baerbock treibt im Baltikum die Formierung des Westens gegen Russland voran und gedenkt dabei der „Opfer des Kommunismus“, nicht aber der baltischen NS-Opfer.
German-Foreign-Policy (gfp) - 21.Apr.2022

Aus Rücksicht auf die baltischen Staaten hat die Bundesregierung bereits in der Vergangenheit einer Resolution der UN-Generalversammlung wiederholt nicht zugestimmt, die sich gegen die Verherrlichung des Nationalsozialismus und seiner Kollaborateure richtet. Einheimische NS-Kollaborateure werden in allen drei baltischen Staaten öffentlich geehrt. Baerbock erklärte vor ihrer Reise, aktuell gehe es vor allem um „Wehrhaftigkeit“ gegenüber Russland; dazu lasse sich im Baltikum viel lernen.

„Vom Baltikum lernen“

Der Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock in den baltischen Ländern, der gestern in Lettland begann, heute in Estland fortgesetzt wird und morgen in Litauen zu Ende geht, steht gänzlich im Zeichen des Ukraine-Kriegs und der militärischen Formierung des Westens gegen Russland. Baerbock tauscht sich dazu mit ihren Amtskollegen und mit den Staats- und Regierungschefs der drei Staaten aus. Gestern stand darüber hinaus ein Besuch beim NATO Strategic Communications Centre of Excellence (NATO StratCom COE) in Riga auf dem Programm, das sich seit seiner Gründung im Jahr 2014 unter deutscher Beteiligung vor allem auf den Informationskrieg gegen Russland fokussiert.[1] Morgen wird Baerbock in Rukla (Litauen) die dort stationierte Battlegroup der NATO besuchen, die unter deutscher Führung steht und erst kürzlich massiv aufgestockt wurde.[2] „Wir stärken unsere Wehrhaftigkeit“, äußerte Baerbock vor Beginn ihrer Reise; „über Wehrhaftigkeit“ aber „können wir von Lettland, Estland und Litauen viel lernen.“ Denn im Baltikum blickten „die Menschen schon seit Jahren intensiv und mit Sorge in Richtung Russland“, erklärte die Außenministerin; „ihren Erfahrungen und Einblicken möchte ich genau zuhören.“[3]

Das Denkmal in Maarjamäe

Neben ihren politischen Gesprächen und einem Austausch beim Tallinn Saksa Gümnaasium, einer Partnerschule der auswärtigen Kulturpolitik Berlins mit Schwerpunkt auf der deutschen Sprache, will Baerbock heute auch eine erinnerungspolitische Station einlegen   – mit einem Besuch des Denkmals für die Opfer des Kommunismus in Maarjamäe, einem Bezirk der estnischen Hauptstadt Tallinn. Die Aufstellung des Denkmals wurde 2015 beschlossen; 2018 wurde es eingeweiht. Es erinnert an die rund 75.000 Esten, die nach dem sowjetischen Einmarsch am 17. Juni 1940 oder nach der Befreiung Estlands von der deutschen Besatzung durch die Sowjetunion im Jahr 1944 durch sowjetische Stellen verhaftet, deportiert oder ermordet wurden   – unter ihnen zahlreiche NS-Kollaborateure. Laut den offiziellen Angaben des Auswärtigen Amts zu Baerbocks Reise ist neben dem Besuch des erst wenige Jahre alten Denkmals in Maarjamäe kein weiterer Auftritt der Ministerin mit Bezug zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs geplant. Das gilt auch für ein weiteres Denkmal in Maarjamäe   – eines zur Erinnerung an die sowjetischen Soldaten, die im Kampf gegen das Deutsche Reich sowie insbesondere bei der Befreiung Estlands von der NS-Besatzung ums Leben kamen. Es wird ohnehin längst nicht mehr gepflegt und verfällt.

„Die Wendung gegen Russland“

Die geschichtspolitische Positionierung der deutschen Außenministerin ist auch insofern bemerkenswert, als die deutschen NS-Besatzer und ihre baltischen Kollaborateure nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion auf estnischem, lettischem und litauischem Gebiet beispiellose Verbrechen begingen; so überlebten nur rund 10.000 der 200.000 litauischen Juden und nur rund 1.000 der 70.000 lettischen Juden den Vernichtungsterror der Deutschen und ihrer Kollaborateure, während etwa drei Viertel der rund 4.000 estnischen Juden nur am Leben blieben, weil sie in die Sowjetunion fliehen konnten. Ein Gedenken der Ministerin an die Shoah ist nach offiziellen Angaben nicht eingeplant. Unklar ist, ob ein Zusammenhang zur Ehrung einheimischer NS-Kollaborateure besteht, die in allen drei baltischen Staaten verbreitet ist. Mit Gedenktafeln geehrt werden, neben vielen anderen, zum Beispiel der Este Alfons Rebane, ein Standartenführer der Waffen-SS, sowie der Litauer Jonas Noreika, der Befehle zum Mord an Juden unterzeichnete (german-foreign-policy.com berichtete [4]); am 16. März fand in Lettlands Hauptstadt Riga die jährliche Gedenkveranstaltung zur Ehrung von Legionären der Waffen-SS statt. Sie werden als Kämpfer gegen die Sowjetunion geehrt. Bereits vor Jahren hieß es in einer deutschen Zeitung, im Baltikum seien „Berührungsängste gegenüber der Waffen-SS heute gering“; „viel wichtiger“ erscheine „vielen Aktivisten vor Ort die Wendung gegen ... Russland“.[5]

Gegen Nazis und Kollaborateure

Dass die Bundesregierung bereits in der Vergangenheit Rücksichten auf die baltische Kollaborateursverehrung genommen hat, ist belegt. Dabei geht es um Resolutionen, die regelmäßig von der UN-Generalversammlung verabschiedet werden und sich gegen die Glorifizierung von Nazismus und Neonazismus sowie gegen Rassismus fördernde Praktiken richten. Zuletzt wurde eine derartige Resolution am 16. Dezember 2021 abgesegnet. Sie dringt nicht nur auf ein entschlossenes Vorgehen aller UN-Mitgliedstaaten gegen Rassismus und Antisemitismus; sie drückt zudem „tiefe Sorge über die Glorifizierung ... der Nazibewegung, des Neonazismus und ehemaliger Mitglieder der Waffen-SS aus“.[6] Eigens aufgelistet werden das Errichten von Denkmälern und Gedenkstätten, die Durchführung öffentlicher Veranstaltungen zur NS-Verherrlichung und die Verharmlosung von NS-Kollaborateuren als „Teilnehmer an nationalen Befreiungsbewegungen“. Dabei handelt es sich um Praktiken, die neben dem Baltikum vor allem in der Ukraine zu beobachten sind; dort werden Parteigänger der Nazis wie der Kollaborateur Stepan Bandera, aber auch die an der Shoah beteiligte OUN („Ukrainische Aufstandsarmee“) mit Denkmälern sowie mit nationalen Gedenktagen geehrt (german-foreign-policy.com berichtete [7]).

Kompromisslos enthalten

Die UN-Generalversammlung hat die Resolution mit klarer Mehrheit, aber bei weitem nicht einstimmig verabschiedet: 130 Staaten stimmten dafür, 49 enthielten sich, zwei stimmten mit „nein“, zwölf nahmen an der Abstimmung nicht teil. Mit „nein“ stimmten die Ukraine sowie die Vereinigten Staaten. Die Enthaltungen kamen ganz überwiegend von europäischen Ländern, zudem von Kanada, Australien und Neuseeland, Japan und Südkorea und einigen vom Westen abhängigen Pazifikstaaten; im Wesentlichen handelt es sich um die Staaten, die wegen des Ukraine-Kriegs Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Auch die rot-gelb-grüne Bundesregierung konnte sich nicht dazu durchringen, der UN-Resolution zuzustimmen und damit die Verherrlichung nicht nur des Nationalsozialismus, sondern auch seiner Kollaborateure unmissverständlich zu verurteilen. Zur Begründung hatte die Bundesregierung bei einer inhaltlich identischen Vorgängerresolution im Jahr 2014 erklärt, man lehne zwar „jede Verherrlichung des Nationalsozialismus kompromisslos ab“; man sei aber der Auffassung, der Resolutionsentwurf habe „Personen, die sich in den 40er-Jahren für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten von der Sowjetunion eingesetzt haben, pauschal eine Verbindung zu den nationalsozialistischen Verbrechen unterstellt“.[8] Daher sei die Unterstützung der Resolution für Berlin unmöglich.

[1] S. dazu Strategische Kommunikation.

[2] S. dazu Von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.

[3] Europas Sicherheit neu denken   – Außenministerin Baerbock reist in die baltischen Staaten. auswaertiges-amt.de 20.04.2022.

[4] S. dazu Von Tätern, Opfern und Kollaborateuren (III).

[5] Sven Felix Kellerhoff: Darf ein estnischer SS-Offizier geehrt werden? welt.de 25.06.2018.

[6] Resolution adopted by the General Assembly on 16 December 2021. United Nations. A/RES/76/149.

[7] S. dazu Von Tätern, Opfern und Kollaborateuren (II).

[8] Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 8. Dezember 2014 eingegangenen Antworten der Bundesregierung. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/3519. Berlin, 12.12.2014.

Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8897

 

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